Theorien des Wahlverhaltens: vier Erklärungsansätze
Karl-Rudolf Korte
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Dier vier wichtigsten Erklärungsansätze zeigen die unterschiedlichen Zugänge zur Erklärung des Wahlverhaltens auf. Deutlich werden dabei aber auch die Schwierigkeiten der Wahlforschung, den komplexen Prozess der Wahlentscheidung angemessen in theoretischen Modellen abzubilden.
Grundsätzlich sind selbst umfangreiche und komplexe Datensätze für sich allein betrachtet zur Erklärung von Wahlverhalten ohne Wert. Ihre Bedeutung, ihren Sinn und ihre Erklärungskraft erlangen sie erst innerhalb theoretischer Erklärungsmodelle (Ulrich Eith/Gerd Mielke 2016; Karl-Rudolf Korte/Sandra Plümer 2021). Diese stellen einen Bezug zwischen dem Wahlverhalten und entsprechenden vorgelagerten Einflussfaktoren her, der sowohl theoretisch plausibel als auch empirisch überprüfbar sein muss. Die vier wichtigsten Erklärungsmodelle des Wahlverhaltens werden im Folgenden näher vorgestellt und miteinander verglichen. Die ersten drei basieren auf berühmte Forschungstraditionen begründenden Studien zum amerikanischen Wahlverhalten in den Vierziger- und Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Deren grundsätzliche Aussagekraft konnte bis heute immer wieder nachgewiesen werden. Das vierte hat sich in den Achtzigerjahren entwickelt.
Soziologischer Erklärungsansatz
a) Mikrosoziologische Perspektive
Ein erster klassischer Ansatz betont die verhaltensrelevante Bedeutung des sozialen Umfelds: Wahlverhalten ist Gruppenverhalten. Schulebildend für dieses in der wissenschaftlichen Literatur als mikrosoziologischer, sozialstruktureller oder auch gruppentheoretischer Ansatz bezeichnete Erklärungsmodell war die Untersuchung des Meinungsbildungsprozesses bei der amerikanischen Präsidentschaftswahl 1940 in Erie County (Ohio) durch Paul F. Lazarsfeld und seine Mitarbeiter an der Columbia University (Harald Schoen 2014).
Weniger der ursprünglich angenommene Einfluss der Massenmedien oder der Wahlpropaganda als vielmehr die Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Gruppen mit festen politischen Verhaltensnormen bestimmte demnach die individuelle Wahlentscheidung. Das Zusammenspiel der verschiedenen Gruppenzugehörigkeiten konnte mithilfe der Merkmale sozioökonomischer Status, Konfessionszugehörigkeit und Größe des Wohnorts in hohem Ausmaß nachgewiesen werden. Je gleichgerichteter die Wahlnormen der Gruppen waren, denen der oder die einzelne Wahlberechtigte angehörte, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit einer individuell abweichenden Wahlentscheidung. Überlagerten sich bei den Wahlberechtigten jedoch einander widersprechende Loyalitätsforderungen (cross-pressures), reagierten sie im Allgemeinen mit der Reduzierung des politischen Interesses und der zeitlichen Herauszögerung der Wahlentscheidung. In diesem Fall musste zuerst eine Entscheidung darüber fallen, welche Gruppenzugehörigkeit denn jetzt als wichtigste – und damit als verhaltensrelevant – angesehen werden sollte.
Bis zu den jüngsten Wahlanalysen konnten auch neuere Untersuchungen immer wieder den großen Einfluss des sozialen Umfelds auf den individuellen politischen Meinungsbildungsprozess nachweisen. Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft, eine starke Bindung an die katholische Kirche oder auch eine Verwurzelung im protestantischen Selbstständigen- bzw. Handwerkermilieu haben auch heute noch – insbesondere bei Koppelung mehrerer Faktoren – einen hohen Vorhersagewert für die Wahlentscheidung. Das Erklärungsmodell sieht das Individuum idealtypisch im Mittelpunkt konzentrischer, sich gegenseitig verstärkender sozialer Einflusskreise und veranschaulicht aus dieser Perspektive in besonderer Weise ein stabiles, über einen längeren Zeitraum hinweg konstantes Wahlverhalten. Kurzfristige Änderungen der Wahlentscheidung können auf diese Weise hingegen nur unzureichend erklärt werden.
b) Makrosoziologische Perspektive
Die Grundgedanken des mikrosoziologischen Erklärungsansatzes lassen sich auch auf die Analyse der Herausbildung und Entwicklung von Parteiensystemen übertragen (Harald Schoen 2014). Diese makrosoziologische Perspektive und Erweiterung hebt ab auf längerfristig stabile Allianzen zwischen bestimmten Bevölkerungsgruppen und politischen Parteien, wie sie in Westeuropa seit dem 19. Jahrhundert zu beobachten sind. Trotz aller wahlrechtlichen und institutionellen Unterschiede in den verschiedenen Ländern finden sich in nahezu allen Parteiensystemen christdemokratische, sozialistische oder sozialdemokratische, liberale und neuerdings auch grüne Parteien mit jeweils eigener Wählerschaft. Seymour M. Lipset und Stein Rokkan entwickelten in ihrer über ein Dutzend Länder berücksichtigenden Untersuchung in den Sechzigerjahren ein zweistufiges Modell, mit dessen Hilfe sich die Ausprägungen und auch Veränderungen von Parteiensystemen in ihren Grundzügen erklären lassen.
Demnach hängt die Herausbildung der westeuropäischen Parteiensysteme eng mit dem Demokratisierungsprozess im 19. und im 20. Jahrhundert zusammen. Die verschiedenen Länder durchliefen hierbei eine vergleichbare Entwicklung. Idealtypisch betrachtet, waren jeweils vier grundlegende Probleme zu bewältigen: erstens das Verhältnis von Zentrum und Peripherie im Zuge der nationalen Staatengründung, zweitens der Konflikt zwischen Kirche und weltlicher Macht um die politische und kulturelle Vorherrschaft im neuen Staat, drittens die mit Beginn der Industrialisierung auseinanderstrebenden Interessen von ländlich-agrarischen und städtisch-handwerklichen Gebieten und viertens die Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit. In all diesen Fällen koalierten politische Eliten mit den betroffenen, politisierten Bevölkerungsgruppen, um die jeweiligen Interessen mit Nachdruck vertreten zu können. Diese zunächst loseren Verbindungen entwickelten sich zu stabilen Parteiorganisationen und verankerten so die genannten Konfliktlinien (cleavages) dauerhaft in den nationalen westeuropäischen Parteiensystemen. Liberale, christdemokratische und auch sozialistische Parteien gehen in ihren Wurzeln auf diese tiefgreifenden Auseinandersetzungen zurück.
Parteiensystem und Konfliktlinien („Cleavages“)
Die vier genannten klassischen Konfliktlinien haben sich im Lauf der Zeit modernisiert. So kann heute zwischen einem Gegensatz von Management und Arbeitnehmerschaft bzw. Marktliberalen und Sozialstaatsbefürwortern (alt: Kapital und Arbeit), konservativ und modern (alt: Kirche und Staat, Zentrum und Peripherie, ländlich-agrarisch und städtisch-handwerklich) sowie materialistisch und postmaterialistisch ausgegangen werden (Heiko Geiling/Michael Vester 2007).
Außerdem systematisierten Lipset und Rokkan die Voraussetzungen, unter denen sich neue Gruppen – etwa die in den Achtzigerjahren aufkommenden ökologischen Parteien – in bestehenden Parteiensystemen behaupten können. Ihr Erfolg ist grundsätzlich von vier Faktoren abhängig. So stellt sich erstens die Frage nach der Legitimität des neuen Protestes und zweitens die nach den politischen Rechten und Möglichkeiten ihrer Träger. Beide Hürden stellen heute zumindest in den westlichen Demokratien für neue Parteien keine besonderen Hindernisse mehr dar. Dann bleibt drittens zu untersuchen, ob vorhandene Parteien den neuen Protest möglicherweise ihrerseits aufgreifen können, und viertens gilt es, das Beharrungsvermögen der etablierten Strukturen in Rechnung zu stellen. Lipset und Rokkan haben mit diesem Ansatz ein Modell entwickelt, das folgenden Punkten einen hohen Stellenwert für die Ausprägung und die Veränderung von Parteiensystemen beimisst: dem Handeln politischer Eliten – ihren Fähigkeiten, politische Projekte zu formulieren und sich dafür dauerhafte Unterstützung vonseiten der Wählerschaft zu sichern – sowie darüber hinaus der Bereitschaft der Bevölkerung zur aktiven politischen Teilnahme und Auseinandersetzung.
Themenkonflikte der deutschen Parteien (Karl-Rudolf Korte) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Wahlanalysen mit soziologischem Ansatz betonen also die Bedeutung politisierter Milieu- oder Gruppenstrukturen, denen die einzelnen Wählerinnen und Wähler sich verbunden fühlen. Je nach Datentypus verwenden sie als entsprechende Indikatoren hauptsächlich die gängigen ökonomischen und kulturellen Kategorien der Sozialstruktur wie Beruf, Einkommen, Bildung, Konfession, Alter und Wohnortgröße, zudem auch Merkmale der regionalen Industriestruktur, individuelle Gewerkschaftsmitgliedschaft oder Kirchgangshäufigkeit. Die empirische Überprüfung soziologischer Erklärungshypothesen zum individuellen Wahlverhalten kann allerdings nur mit Individualdaten erfolgen. Strukturelle Verschiebungen im Verhältnis von Parteiensystem und Sozialstruktur lassen sich hingegen in besonderer Weise mithilfe von Aggregatdatenanalysen aufdecken.
Einen deutlichen Perspektivenwechsel nimmt der zweite klassische Erklärungsansatz vor: Wahlverhalten ist Ausdruck einer individuellen psychologischen Beziehung zu einer Partei (Ulrich Eith/Gerd Mielke 2016). In ihren Untersuchungen der amerikanischen Präsidentschaftswahlen der Fünfzigerjahre entwickelten Angus Campbell und seine Mitarbeiter von der University of Michigan in Ann Arbor in Auseinandersetzung mit dem eher statischen soziologischen Modell einen neuen, dynamischeren, zu Prognosezwecken weitaus geeigneteren Erklärungsansatz des Wahlverhaltens. Kernstück dieses als individualpsychologisches "Ann-Arbor-" oder "Michigan-Modell" bezeichneten Ansatzes bildet die individuelle Parteiidentifikation. Damit ist eine längerfristige emotionale Bindung der Wählerinnen und Wähler an ihre Partei gemeint (Harald Schoen/Cornelia Weins 2014).
Sie wird erworben bei der politischen Sozialisation durch Elternhaus, Freundeskreis oder Mitgliedschaft in politischen Gruppen und beeinflusst – einmal ausgeprägt – die Wahrnehmung sowie die Bewertung politischer Ereignisse in hohem Maß. Neben dieser langfristigen Parteiidentifikation existieren zwei kurzfristige Einflussfaktoren: die Bewertung der Kandidatinnen und Kandidaten sowie die Einstellungen zu aktuellen politischen Streitfragen (die sogenannte Issue-Orientierung). Die individuelle Wahlentscheidung resultiert nun aus dem spezifischen Zusammenspiel dieser drei Faktoren (Parteiidentifikation, Kandidatenorientierung, politische Streitfragen), das von den Autoren mit einem Entscheidungstrichter verglichen wurde. In der Regel erfolgt die Wahlentscheidung entsprechend der langfristig stabilen Parteiidentifikation. Allerdings kann es bei einzelnen Wahlen durchaus auch zu kurzzeitigen Dissonanzen zwischen den drei Variablen kommen. Subjektiv als entscheidend empfundene Personal- oder Sachfragen lassen dann unter Umständen die punktuelle Wahlentscheidung auch entgegen der langfristig wirksamen Parteiidentifikation ausfallen (vgl. Grafik Interner Link: Bestimmungsfaktoren bei der Wahlentscheidung, im Buch S. 114).
Das individualpsychologische Erklärungsmodell betont zum einen also ebenfalls die soziale Verankerung des politischen Meinungsbildungsprozesses, hier dargestellt als individuelle, durch familiäre und gesellschaftliche Sozialisierungsinstanzen herausgebildete Parteiidentifikation. Zum anderen werden im Vergleich zum soziologischen Modell zusätzlich aber auch situative Momente der Wahlentscheidung berücksichtigt, nämlich die Kandidatenbewertung und Einstellungen zu aktuellen politischen Streitfragen. Durch die Kombination dieser verschiedenen Variablen verfügt das individualpsychologische Modell über die notwendigen Voraussetzungen, die komplexen Vorgänge der Wahlentscheidung auf einem hohen theoretischen Niveau widerspiegeln zu können. Zudem sind die Modellaussagen empirisch überprüfbar. Seit einigen Jahrzehnten stehen hierzu miteinander vergleichbare Umfragereihen zur Verfügung. Neben der Parteiidentifikation werden unter anderem regelmäßig Daten zur Beliebtheit der Spitzenpolitiker, zur Rangfolge der wichtigsten politischen Probleme samt den entsprechenden Kompetenzzuschreibungen, zur Zufriedenheit mit dem politischen System und mit der wirtschaftlichen Situation sowie die sogenannte Sonntagsfrage nach der Wahlentscheidung ("Wie würden Sie entscheiden, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?") erhoben. Verschiedene theoretisch wie empirisch anspruchsvolle Untersuchungen auf der Grundlage dieses Modells konnten wiederholt seine Prognosefähigkeit sowie seinen Erkenntnisertrag für das Verständnis des Zusammenspiels kurz- und längerfristiger Einflüsse auf das Wahlverhalten demonstrieren.
Modell des rationalen Wahlverhaltens
Ein anderer Blick auf den Prozess der Wahlentscheidung kennzeichnet den dritten Erklärungsansatz. In seiner in den Fünfzigerjahren entwickelten ökonomischen Theorie der Demokratie konzentriert sich Anthony Downs ganz auf die Analyse von individuellen Entscheidungskalkülen.
Die persönliche Wahlentscheidung wird bestimmt durch ihren maximal zu erzielenden politischen Nutzen (Ulrich Eith/Gerd Mielke 2016). Ein "rationaler Wähler" entscheidet sich demnach für diejenige Partei, von deren Politik er sich den größten Vorteil verspricht. Der in Downs’ Studie verwendete ökonomische Rationalitätsbegriff bezieht sich jedoch niemals auf die Ziele der handelnden Person, sondern stets nur auf den Einsatz der verfügbaren Mittel, also auf das ökonomisch effektive (rationale) Verfolgen eines selbst gewählten, dem eigenen Werturteil unterliegenden Ziels. Ein rationaler Mensch ordnet demnach zuerst seine Handlungsalternativen bezüglich seiner vorgegebenen Ziele. Er wählt dann die effektivste Alternative aus und kommt bei gleichen Rahmenbedingungen stets zum gleichen Ergebnis. Ein derartig verstandener Rationalitätsbegriff unterscheidet sich selbstverständlich stark von den umgangssprachlich benutzten Vorstellungen von Rationalität, seien sie mit normativen Forderungen einer Gemeinwohlverpflichtung des politischen Handelns oder einer Entscheidungsfindung mittels rein logischer, intersubjektiv nachprüfbarer Denkprozesse verbunden.
In der Wahlforschung wird rationales Wahlverhalten im Allgemeinen mit der Orientierung der Wählerinnen und Wähler an aktuellen politischen Streit- und Sachfragen (issue-voting) gleichgesetzt (Kai Arzheimer /Annette Schmitt 2014). Der "rationale Wähler" ermittelt seine Wahlentscheidung, indem er ein sogenanntes Nutzendifferenzial aufstellt. Hierzu vergleicht er die Arbeit der Regierung in der vergangenen Legislaturperiode mit dem vermuteten Ergebnis der Opposition, wäre diese an der Macht gewesen. Er entscheidet sich dann für diejenige Partei, von der er glaubt, dass sie seine individuellen Ziele am ehesten zu verwirklichen vermag. Die Wahlentscheidung ist somit letztlich abhängig von den aktuellen politischen Problemen sowie von dem Erscheinungsbild von Regierung und Opposition, in hohem Maß also auch von wirtschaftlichen Indikatoren wie Inflationsraten, Arbeitslosenzahlen oder Wachstumsraten. Soziale Loyalitäten oder längerfristige emotionale Parteineigungen spielen aus dieser Perspektive nur eine untergeordnete Rolle.
Im forschungspraktischen Alltag greifen die Analysen zur Rationalität des Wahlverhaltens auf dieselben Wahlumfragen und Datensätze zurück, die auch in individualpsychologisch orientierten Untersuchungen Verwendung finden. Im rationalen Modell sind die erfragten Einstellungen zu aktuellen politischen Problemen für die Wahlerklärung von zentraler Bedeutung, im individualpsychologischen Ansatz werden sie hingegen als kurzfristige, bereits durch die Parteiidentifikation gefilterte Einflussfaktoren angesehen. Dieses aus beiden theoretischen Ansätzen resultierende Erkenntnisinteresse hat zu einer großen Anzahl detaillierter Studien zur Wirkungsweise kurzfristiger, vor allem ökonomischer Sachfragen bei der Wahlentscheidung geführt. Allerdings hat auch das rationale Erklärungsmodell seine Grenzen. Innerhalb seiner engen Modellannahmen lässt sich die Frage, warum jemand überhaupt an einer Wahl teilnimmt, nicht schlüssig beantworten. Die Wirkung der eigenen Stimme, also der Nutzen einer Beteiligung, ist verschwindend gering gegenüber den entstehenden Kosten, den Mühen einer Teilnahme. Ebenfalls un-befriedigend bleibt die Erklärung der Wahlentscheidung zugunsten kleiner Parteien, die keine Chance auf eine Regierungsbeteiligung haben.
Modell der sozialen Milieus
Wertewandel
Wertewandel wird in den Sozialwissenschaften allgemein als Wandel grundlegender gesellschaftlicher Wertorientierung verstanden; damit erfasst er einen wichtigen Teilbereich des kulturellen Wandels. Allgemein interessiert der Zusammenhang zwischen kulturellem und sozialem Wandel [...]. Von den neuen Theorien des Wertewandels hat im Bereich der Wahlforschung die Theorie von Ronald Inglehart die größte Bedeutung erlangt.
Inglehart nimmt an, dass die Wertprioritäten einer Person wesentlich von der sozioökonomischen Lage während der Sozialisationsphase geprägt sind, wobei im Sinne der Knappheitsthese immer diejenigen Werte die höchste Priorität haben, die relativ knapp sind. Mit dem Übergang zur postindustriellen Gesellschaft seien physiologische und Sicherheitsbedürfnisse auf relativ hohem Niveau befriedigt, sodass sogenannte postmaterialistische Werte an Bedeutung gewinnen. Aus der Sozialisationsthese lässt sich ableiten, dass die Zunahme der Postmaterialisten in erster Linie ein Kohortenphänomen ist, weil sich wirtschaftlicher Wohlstand nur während der Phase der Primärsozialisation auf die Wertprioritäten auswirkt. Die Zunahme postmaterialistischer Wertorientierung verläuft deswegen relativ still im Wege der Generationensukzession. Die Knappheitsthese stellt eine Verbindung zwischen dem wirtschaftlichen Wohlstand und der ursprünglich von Abraham H. Maslow postulierten Bedürfnishierarchie her, wonach menschliche Grundbedürfnisse (Nahrung, Sexualität, körperliche Unversehrtheit) erst befriedigt sein müssen, bevor sich der Mensch sogenannten höheren Bedürfnissen zuwendet.
Alternativerklärungen des Wertewandels sind einmal allgemeine Modernisierungstheorien, die eine Säkularisierung der Gesellschaft als notwendige Folge der Modernisierung postulieren, und zum anderen Theorien, die stärker bestimmte institutionelle Sozialisationsbedingungen zum Beispiel im Bildungssystem oder in der Familie betonen. So nimmt Helmut Klages einen Wandel von den Pflicht- und Akzeptanzwerten (Gehorsam, Leistung, Ordnung usw.) zu Selbstentfaltungswerten sowohl im Sinne des Hedonismus als auch idealistischer Gesellschaftskritik an.
Von linearen Modernisierungs-(Fortschritts-)Theorien zu unterscheiden sind Theorien zyklischen Wertewandels, nach denen sich progressive und konservative Phasen mit einer gewissen Periodizität abwechseln.
Aus: Pappi, Franz Urban: Wertewandel, in: Dieter Nohlen/Florian Grotz (Hrsg.): Kleines Lexikon der Politik, Bonn 2008, S. 637 f.
In den Achtzigerjahren ist ein neuer Zugang zur Erklärung von Wahlverhalten entwickelt worden: die Einteilung der Wählerinnen und Wähler in sozial-moralische Milieus. Das Sinus-Institut hatte 1984 eine Studie vorgelegt, die den Anspruch erhob, veränderte Verhaltensweisen und Einstellungen der bundesdeutschen Bevölkerung vor dem Hintergrund eines sich vollziehenden Wertewandels zu beschreiben und vorherzusagen (Ulrich Eith/Gerd Mielke, 2016). Die Untersuchung, die ursprünglich dem Konsumverhalten galt, wurde 1992 im Auftrag der SPD von der Sinus-Gruppe und dem Polis-Institut aktualisiert und auf das Wahlverhalten übertragen.
Der Begriff der "sozialen Milieus" wird hier in zweierlei Hinsicht von herkömmlichen Definitionen abgegrenzt: Soziale Milieus entsprechen nicht zwangsläufig ökonomisch definierten sozialen Schichten. Sie sind auch keine Milieus im traditionellen Sinn, die sich durch gemeinsames Agieren oder gemeinsame Kommunikation auszeichnen, wie etwa das Arbeitermilieu.
Die Einteilung der Gesellschaft in soziale Milieus erfolgt vielmehr durch die Identifikation fundamentaler Wertorientierungen, die die jeweilig vorherrschenden Lebensstile und -strategien bestimmen. Und auch die Einstellungen zu Arbeit, Familie oder Konsumverhalten werden dabei genauso einbezogen wie Wunschvorstellungen, Ängste oder Zukunftserwartungen.
Die Sinus-Milieus in Deutschland 2021
Die Sinus-Gruppe unterscheidet zehn soziale Milieus, die sich durch gemeinsame Grundwerte und Lebensweisen auszeichnen. Den Vorteil des Milieukonzepts sehen seine Entwickler darin, dass es damit den politischen Parteien möglich ist, zielgruppengerechter zu agieren und auf diese Weise neue Wählerpotenziale zu erschließen.
Die Sinus-Forscher empfahlen der SPD, sich verstärkt um das "neue Arbeitnehmermilieu" zu bemühen. Es ist, so das Ergebnis der Forschungsgruppe, sowohl demografisch wie auch forschungshistorisch ein junges Milieu. Der Altersdurchschnitt liegt deutlich unter 50 Jahren. Charakteristisch für seine Vertreter sind mittlere Bildungsabschlüsse und dienstleistungsorientierte oder technologische Berufsfelder.
Sie streben nach einem selbstbestimmten und materiell abgesicherten Leben. Politik wird in diesem Milieu nicht als eine Frage der richtigen oder falschen Ideologie wahrgenommen, sondern als pragmatisches Problemlösungsmanagement aufgefasst. Unter den Angehörigen dieses Milieus sei die Bereitschaft, sozialdemokratisch zu wählen, aufgrund von "Sachloyalitäten" in besonderem Maß vorhanden.
Grundsätzlich habe die SPD das Problem, dass ihre Anhängerschaft in zahlreichen und heterogenen Milieus vertreten sei, was eine programmatische Zielgruppenorientierung erschwere. Die jeweiligen Wählerschwerpunkte von CDU/CSU, FDP und den Grünen konzentrierten sich dagegen in wenigen Milieus.
Die CDU zum Beispiel rekrutiert einen signifikanten Anteil ihrer Wählerschaft aus dem "kleinbürgerlichen" und "aufstiegsorientierten Milieu". Dieser Umstand sei unter dem Gesichtspunkt der Stimmenmaximierung eine "ausgezeichnete Startposition im Wählermarkt".
Die Einteilung der (Wahl-)Bevölkerung nach sozial-moralischen Wertvorstellungen und Lebensstilen ist auch von anderen Wissenschaftlern vorgenommen worden (Michael Vester 2006). Die Kategorienschemata variieren dabei genauso wie die Prognosen für zukünftige Wählerpotenziale der verschiedenen Parteien. Der Nutzwert sozial-moralischer Milieukategorien für Wahlkampfstrateginnen und -strategen ist nicht unumstritten, wenn auch die "Neue-Mitte"-Kampagne der SPD 1998 als Bestätigung des Konzepts interpretiert werden könnte.
Die vorangegangene Darstellung der wichtigsten Erklärungsansätze hat die unterschiedlichen Zugänge zur Erklärung des Wahlverhaltens aufgezeigt. Deutlich wurden dabei aber auch die Schwierigkeiten der Wahlforschung, den komplexen Prozess der Wahlentscheidung angemessen in theoretischen Modellen abzubilden. Individuelle Handlungskalküle, gruppenspezifische Interessen sowie Lang- und Kurzzeiteinflüsse lassen sich kaum in einem einzigen Modell berücksichtigen und zudem auch noch empirisch auseinanderhalten (Ulrich Eith/Gerd Mielke 2016). Die Erklärungsansätze beschränken sich auf verschiedene Facetten. Sie sind daher auch nicht direkt miteinander zu vergleichen. Zu unterschiedlich sind ihre jeweiligen Prämissen, Vorgehensweisen und Fragestellungen.
Der soziologische Ansatz untersucht in erster Linie die in einer pluralistischen Gesellschaft vorhandenen politisch relevanten Gruppeninteressen. Durch eine Analyse des historisch gewachsenen Konfliktmusters lassen sich diejenigen politischen, ökonomischen und kulturellen Faktoren ermitteln, die zur Herausbildung und zur Stabilisierung dieser Gruppeninteressen im Wesentlichen beigetragen haben. Dass dabei gerade den kulturellen Gesichtspunkten eine große Bedeutung zukommt, haben verschiedene Regionalstudien immer wieder aufs Neue verdeutlicht.
Einen hohen Stellenwert haben in diesem Erklärungsansatz die politischen Eliten. Langfristig formulieren und repräsentieren sie die Weltbilder ihrer jeweiligen Anhängerschaft. Kurzfristig aktualisieren sie diese in Form von tagespolitischen (Gruppen-)Forderungen bei den Wahlen. Der soziologische Ansatz verdeutlicht die politische Wirkung der gesellschaftlichen Grundstrukturen und Milieus, die nur einem schrittweise vorankommenden Veränderungsprozess unterliegen. Für politische Parteien lassen sich daher Ausgangspotenziale und deren mittelfristige Veränderung abschätzen. Dagegen entziehen sich kurzfristige Stimmungsumschwünge weitgehend dem Analyseinstrumentarium des soziologischen Ansatzes.
Einen entgegengesetzten Ausgangspunkt nimmt das Modell des rationalen Wahlverhaltens ein. Es fragt nicht nach den Interessen der Wählerschaft, die als gegeben vorausgesetzt werden. Gefragt wird nach den äußeren Bedingungen und Restriktionen, unter denen die Wählerinnen und Wähler ihre Entscheidung zu treffen haben. Kurzfristige Stimmungsumschwünge lassen sich so als Reaktion auf veränderte Bedingungen – etwa die Inflationsrate, die Arbeitslosenquote, wirtschaftliche Wachstumsraten oder auch ein verändertes Personalangebot – interpretieren. Auch in diesem Modell kommt dem Verhalten der politischen Eliten eine Schlüsselfunktion zu. Im Rahmen der Modellvorstellung orientieren sich die politischen Parteien zuallererst an einer Strategie der Stimmenmaximierung, am angestrebten Gewinn der nächsten Wahlen. Hierzu bearbeiten sie die für ihre jeweiligen Zwecke günstigsten Themen, um so Einfluss auf die öffentlichen politischen Diskussionen zu nehmen. Dieses Wettbewerbsmodell schärft allerdings den Blick für die Mitverantwortung der Wählerinnen und Wähler am Zustand des politischen Systems. Anbieter richten sich immer auch nach den Wünschen ihrer potenziellen Nachfrager.
Bestimmungsfaktoren bei der Wahlentscheidung (Karl-Rudolf Korte) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Unzureichend lassen sich mit diesem Erklärungsmodell hingegen eher längerfristige Verschiebungen der politischen Kräfteverhältnisse sowie regionale Unterschiede im Wahlverhalten erklären. Beides gründet sich letztlich auf Veränderungen oder Unterschiede, die sich in den Interessen der Wählerschaft entwickeln.
Eine gewisse Mittelposition nimmt der individualpsychologische Ansatz ein. Die Interessenlage der Wählerschaft spiegelt sich in der Ausprägung und in der Verteilung der individuellen Parteiidentifikationen wider. Allerdings fragt dieser Ansatz weniger nach den sozialstrukturellen Ursachen und den längerfristigen Veränderungen. Im Mittelpunkt des analytischen Interesses steht vielmehr das Zusammenspiel von langfristiger Grundorientierung und kurzfristiger Problembewertung bei aktuellen Wahlentscheidungen.
Das Modell der sozialen Milieus vermischt in gewisser Hinsicht das soziologische mit dem individualpsychologischen Modell. So werden Gruppen gebildet, die nicht als historisch gewachsene Einheit betrachtet werden oder aufgrund ihrer Herkunft, Bildung oder Ähnlichem gemeinsame Merkmale aufweisen. Vielmehr bilden individuelle Lebensvorstellungen und Wertorientierung gemeinsame Merkmale verschiedener, unterschiedlicher Milieus. Anhand dieser zugegebenermaßen unscharfen Definitionen lassen sich die Einstellung zu und damit die Wahlabsicht für Parteien untersuchen.
Die Wahlforschung zählt in der empirischen Sozialforschung zu den am weitesten entwickelten Disziplinen. Das gesicherte Wissen über das Wahlverhalten ist in den letzten Jahrzehnten rapide gewachsen. Eine umfassende Theorie des Wahlverhaltens ist jedoch nicht in Sicht – möglicherweise auch gar nicht wünschenswert (Ulrich Eith/Gerd Mielke 2016). Gerade die Existenz mehrerer leistungsstarker Erklärungsansätze mit unterschiedlichen Perspektiven und Schwerpunkten ermöglicht es der Wahlforschung, den komplexen Prozess der Wahlentscheidung in seinen unterschiedlichen Facetten differenziert zu untersuchen. Die Genauigkeit der Vorhersagen wird sich jedoch nicht wesentlich verbessern lassen.
Professor Dr. Karl-Rudolf Korte hat einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft inne und ist Direktor der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen. Er ist zudem geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift für Politikwissenschaft.
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