Obwohl die Europäische Union (EU) immer stärker in die Lebensbedingungen der Menschen in ihren Mitgliedsländern eingreift, nehmen diese ihr zentrales demokratisches Mitbestimmungsrecht – die Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) – in geringem und sogar sinkendem Ausmaß wahr. So lag die Beteiligung bei den ersten EP-Wahlen im Jahr 1976 in Deutschland bei fast 66% und im EU-Durchschnitt bei 62% – und war damit in den meisten Staaten deutlich geringer als bei den nationalen Hauptwahlen. Anschließend ging die Teilnahme insgesamt weiter zurück mit einem besonders starken Einbruch im Jahr 1999. Davon haben sich die Werte nicht erholt, sondern lagen bei den letzten EP-Wahlen 2014 EU-weit bei 42,6% und in Deutschland bei 48,1%. Im Vergleich zwischen den Mitgliedstaaten gibt es jedoch erhebliche Unterschiede in der Wahlbeteiligung (mit Werten zwischen 13% in der Slowakei und 90% in Belgien bei Wahlpflicht, aber auch 75% in Malta ohne Wahlpflicht).
Der leichte Anstieg der Wahlbeteiligung in Deutschland 2014 ist vermutlich auf die stärkere Personalisierung dieser Wahl zurückzuführen, bei der mit Martin Schulz (SPD) auch ein Deutscher für das Amt des Präsidenten der EU-Kommission (der vom EP gewählt wird) kandidierte. Darauf deuten auch die Werte der SPD hin, die 2014 von 20,8% auf 27,3% gestiegen sind. Der Beteiligung förderlich war ferner, dass in mehreren Bundesländern gleichzeitig Kommunalwahlen stattfanden. Jedoch haben sich die mit der Wahl des Präsidenten verknüpften Hoffnungen auf eine EU-weit deutliche Anhebung der Wahlbeteiligung und eine engere Verbindung zwischen Bevölkerung und EU nicht erfüllt. Vielmehr scheint die Einführung von Spitzenkandidaten eher zu einer Polarisierung der Wählerschaft beigetragen zu haben, d.h. pro-europäische Bürgerinnen und Bürger halten die EU nunmehr für demokratischer, anti-europäische stehen der EU noch distanzierter gegenüber (Popa/Rohrschneider/Schmitt 2016). Die EP-Wahlen werden aber seit jeher auch als Möglichkeit zum Protest nicht nur gegen die europäische, sondern auch gegen nationale Politik genutzt (zumal es dort keine 5%-Hürde gibt). So haben auch bei der vergangenen Wahl Kleinstparteien mit 8,5% und die noch junge AfD mit 7,1% erhebliche Stimmenanteile verbucht.
Bereits bei den ersten Direktwahlen analysierten die Politikwissenschaftler Reif und Schmitt 1980: EP-Wahlen seien "nationale Nebenwahlen". Dies trifft auch heute noch weitgehend zu. Ihrer Nebenwahlthese zufolge ist im Vergleich zu nationalen Wahlen erstens die Wahlbeteiligung geringer, weil aus Sicht der Wähler bei EP-Wahlen weniger auf dem Spiel steht. Zweitens gibt es mehr ungültige Stimmen.Kleine sowie neue Parteien erzielen größere Erfolge, da die Wählerschaft im EU-Kontext weniger strategische Überlegungen zu Chancen der Parteien anstellt und sich stattdessen eher im Sinn ihrer Parteiidentifikation entscheidet. Drittens verzeichnen die (großen) nationalen Regierungsparteien zumeist Verluste als Ausdruck von Protest gegen ihre nationale Politik.
Dreieck des Desinteresses
Laut der Nebenwahlthese ist eine geringe und sinkende EP-Wahlbeteiligung nicht primär Ausdruck von EU-Gegnerschaft, sondern von EU-Indifferenz. Tiefer liegende Gründe dafür werden in einem Dreieck des Desinteresses zwischen Parteien, Medien und Wahlberechtigten gesehen. Demnach nehmen die Parteien das EP und den Wahlkampf nicht ernst und investieren nur wenig in die Kampagnen. Der Parteienwettbewerb ist schwach, die Programme nichtssagend und häufig EU-unspezifisch, die Kandidaten zumeist unbekannt. Dem folgt eine dürftige und inhaltlich defizitäre Medienberichterstattung. Außerhalb des Wahlkampfs wird die EU nur wenig thematisiert und das EP als machtlos gegenüber der Europäischen Kommission dargestellt. Im Wahlkampf fehlt es an inhaltlicher Information, Polarisierung und Personalisierung, dagegen dominiert die nationale Perspektive auf Europa. Daher erreichen die Kampagnen deutlich weniger Wahlberechtigte als bei nationalen Wahlen – die Wähler bleiben deshalb desinteressiert oder nutzen die EP-Wahlen zum Protest gegen ihre nationale Regierung. Diese Verhaltensmuster der Wahlberechtigten resultierten dann wiederum in geringem Engagement der Parteien, weil sich mehr Einsatz vorgeblich nicht lohnt; damit beginnt der Teufelskreis erneut (z.B. Beiträge in Holz-Bacha 2010, Mittag 2011 und Kaeding/Switek 2015).
Ein kleinerer Forschungsstrang sucht Erklärungen für die geringe Beteiligung in negativen Einstellungen gegenüber der EU und dem EP. Demnach wirkt der Wahlkampf zunächst auf die EU-Einstellungen und erst darüber vermittelt mobilisierend (Schulz/Blumler 1994). Laut Blondel, Sinnott und Svensson (1997) werden politische Unzufriedenheit, Kritik am Wahlsystem und wahrgenommene Effektlosigkeit des Wählens am häufigsten als Gründe für Wahlenthaltung genannt. Nach ihren Analysen blieben große Anteile gut informierter Personen, die sich an nationalen Wahlen beteiligen, den EP-Wahlen aus Opposition gegen die EU fern. Weitere Ursachen werden in der nur schwachen europäischen Identität (Frognier 2002) und dem EU-Demokratiedefizit (Biefang 2011) gesehen. Wenn es (zumeist kleinere) stark anti-europäisch agierende Parteien gibt, motiviert dies gleich eingestellte Bürger zur Wahlteilnahme, wenn diese Parteien ihrem ideologischen Standpunkt auf der Links-Rechts-Dimension entsprechen (Hernández/Kriesi 2016). Der EP-Wahl 2014 wird zudem infolge von Ängsten rund um EU-Politik in der Finanzkrise eine etwas stärkere europäische Komponente als zuvor zugeschrieben (Treib 2014, Hobolt/de Vries 2016). Es ist davon auszugehen, dass alle diese Gründe zusammenspielen, wenn Bürgerinnen und Bürger wenig Interesse an der EU haben und der Wahl zum EP fernbleiben.
Motive für die Wahlbeteiligung in Deutschland
Eigene Analysen mit den "Eurobarometern", die in regelmäßigen Abständen im Auftrag der Europäischen Kommission die öffentliche Meinung erheben, deuten darauf hin, dass in Deutschland beide Motivbündel für die Beteiligung an den EP-Wahlen wichtig sind. Sowohl die bekundete Absicht als auch die berichtete Wahlbeteiligung steigen in Verbindung mit folgenden Faktoren: höheres Interesse an Politik und den EP-Wahlen, größere Häufigkeit der Beteiligung an Diskussionen über Politik, größeres Faktenwissen über die EU und das EP, größeres subjektives Wissen zur EU sowie steigendes Gefühl der Betroffenheit durch die EU. Befragte, die sich nicht ausschließlich als Bürgerin oder Bürger Deutschlands, sondern auch Europas fühlen, zeigen eine größere Neigung zur Beteiligung an den EP-Wahlen. Ebenso äußern sich solche Befragte als am wahlfreudigsten, welche die EU-Mitgliedschaft Deutschlands als gute Sache oder vorteilhaft betrachten, gefolgt von denen mit kritischer Sicht auf die EU, während diejenigen, die sich keine Meinung gebildet haben, am seltensten angeben, wählen zu wollen bzw. gewählt zu haben. Darüber hinaus sind in Deutschland weitere Gründe für Wahlenthaltung zu berücksichtigen, die auch für Bundestagswahlen eine Rolle spielen. Dies ist insbesondere eine wachsende Politikdistanz in schlechter gestellten sozialen Schichten mit geringem Bildungsniveau, die sich zunehmend zu dauerhaften Nichtwählern entwickeln. Da die Parteien ihre Mobilisierung primär auf ihre Stammklientel richten, werden diese Schichten vernachlässigt. Eine sich verfestigende Politikapathie aber gefährdet sowohl die nationale als auch die europäische Demokratie.
Literatur
Biefang, A. (2011): Wie demokratisch ist die Europäische Union? Sechs Thesen aus parlamentarismusgeschichtlicher Perspektive. In: Mittag, J.(Hg.): 30 Jahre Direktwahlen zum Europäischen Parlament (1979-2009). Baden-Baden, 51-61.
Blondel, J./Sinnott, R./Svensson, P. (1997): Representation and voter participation. European Journal of Political Research, 32, 243-272.
Frognier, A.P. (2002): Identity and Electoral Participation: For a European Approach to European Elections. In: Perrineau, P./Grunberg, G./Ysmal, C. (Hg.): Europe at the Polls: The European Elections of 1999. New York/Houndmills, 43-58.
Hernández, E./Kriesi, H. (2016): Turning your back on the EU. The role of Eurosceptic parties in the 2014 European parliament elections. Electoral Studies, 44, 515-524.
Hobolt, S.B./de Vries, C. (2016): Turning against the Union? The impact of the crisis on the Eurosceptic vote in the 2014 European Parliament elections. Electoral Studies, 44, 504-514.
Holtz-Bacha, C. (Hg.) (2010): Die Massenmedien im Wahlkampf. Das Wahljahr 2009. Wiesbaden.
Keading, M./Switek, N. (Hg.): Die Europawahl 2014. Wiesbaden: Springer VS.
Mittag, J. (Hg.) (2011): Externer Link: 30 Jahre Direktwahlen zum Europäischen Parlament: (1979 - 2009). Baden-Baden.
Popa, S. A./Rohrschneider, R./Schmitt, H. (2016): Polarizing without legitimizing: The effect of lead candidates’ campaigns on perceptions of the EU democracy. Electoral Studies, 44, 469-482.
Reif, K./Schmitt, H. (1980): "Nine Second-Order National Elections – A Conceptual Framework fort he Analysis of European Election Results." European Journal of Political Research, 8, 3-44.
Schulz, W./Blumler, J.G. (1994): Die Bedeutung der Kampagnen für das Europa-Engagement der Bürger. Eine Mehr-Ebenen-Analyse. In: Niedermayer, O./Schmitt, H. (Hg.): Wahlen und Europäische Einigung. Opladen, 199-223.
Treib, O. (2014): The voter says no, but nobody listens: causes and consequences of the Eurosceptic vote in the 2014 European elections. Journal of European Public Policy, 21, 1541-1554.