Städte sind soziale Organismen, die sich laufend verändern. Dabei häufen sie gebaute Zeitschichten aufeinander und werden zu Speichern, in denen sich Überreste ihrer eigenen Geschichte materiell ablagern. Man muss nicht graben, um Stadtarchäologie zu betreiben. Vieles bleibt sichtbar. Ältere Bauten stehen neben neueren, höhere neben niederen, Baulinien springen vor und zurück. Manche Städte sind zerklüftet, tragen Wunden und Narben früherer Zerstörungen, sind gezeichnet durch Eingriffe wechselnder Leitbilder oder Modernisierungsschübe; andere präsentieren sich einheitlicher. Flächenbrände oder Bombardierungen lösten in der Regel Homogenisierungen
Den tatsächlichen visuellen Oberflächen der Städte stehen die Bilder von Stadt gegenüber, die Identität stiften. Mittelalterliche Städte waren chaotische, übelriechende Gebilde. Erst als die Stadtplanung einsetzte, begannen italienische Architekten des Spätmittelalters, ästhetische Bilder der „schönen Stadt” zu entwerfen. Die Stadtansicht wurde zum Symbol des Lokalstolzes, Macht und Einfluss ehrgeiziger Städte sollten sich in ihrer Erscheinung zeigen. Das führte zu einer häufig idealisierenden Darstellungsweise, die sich als Kommunikationsmedium und Propaganda-Instrument etablierte. Heute werben Städte mit ikonischen Skylines oder Panoramen.
Die Städte des Industriezeitalters
Die Städte der Moderne haben ihre Wurzeln im Zeitalter der Industrialisierung. England als Kolonialmacht trug wesentlich zur Erschließung von Rohstoffvorkommen bei. Im späten 18. Jahrhundert entstanden hier die ersten Städte, die mit der Massenproduktion von Waren zusammenhingen. In Europa entwickelten sich Städte wie Manchester, St. Petersburg und Barcelona zu modernen Logistik-, Dienstleistungs- und Industriestandorten. In Deutschland erfolgte die Industrialisierung vergleichsweise spät und umso stürmischer. Deutlich wurde das besonders nach der Einigung des Reiches im Jahr 1871 an der Entwicklung der neuen Hauptstadt Berlin. Die Stadt wandelte sich von der langweiligen preußischen Kasernenstadt zur pulsierenden Metropole, umgeben von Industriegebieten mit rauchenden Kaminen. Am Ende des 19. Jahrhunderts lebten hier 1,5 Millionen Menschen. Berlin gefiel sich in der Rolle als jüngste und modernste europäische Metropole, als Chicago an der Spree.
Metropolen
Die Metropolen verkörperten zwischen 1890 und dem Ersten Weltkrieg den neuen Stadttyp. Sie waren die Zentren des organisierten Kapitalismus und der modernen Gesellschaft. Durch den Zustrom von Menschen entstanden slumartige Arbeiterwohnviertel, Kriminalität und ein informeller Sektor. In den Zentren bildeten sich Geschäftsviertel mit Handelshäusern, Banken und Versicherungen, während die wohlhabenden Bürger in Villen in den grünen Vororten zogen. Grand Hotels und Warenhäuser schufen neue urbane Räume, in denen sich Frauen der besseren Schichten unbegleitet bewegen konnten. Arbeiter lebten in Mietskasernen, Kellerwohnungen, Baracken.
Der Blick auf die Arbeiterviertel war ambivalent: Einerseits fürchteten die Bürger Revolten, andererseits war die nächtliche Unterwelt der Armenviertel eine exotische Abwechslung, die von Künstlern und Schriftstellern erkundet und beschrieben wurde(vgl. Walkowitz 1992; Schlör 1991).
Die hohe Dichte und die unkontrolliert wachsende Bevölkerung konfrontierten die Städte mit sozialen und hygienischen Problemen. Die Bekämpfung von Seuchen, vor allem der Cholera, war ein zentrales Thema der Stadtplanung und der Hygienebewegung. Akteure waren einerseits Vertreter sozialer Reformen, andererseits Befürworter einer effizienten technischen Infrastruktur
Zwischen den 1870er und den 1890er Jahren wandelten sich die deutschen Stadtverwaltungen zu Leistungsverwaltungen mit ausgebildeten Fachkräften. Nachdem sich um 1890 die Städte Bauzonenpläne gaben, beschäftigte sich Stadtplanung nicht mehr mit Stadtteilen, sondern richtete den Blick auf die Stadt als Ganzes
1903 wurde in Dresden anlässlich der ersten deutschen Städteausstellung der Deutsche Städtetag gegründet. Im Zentrum standen die Leistungen der kommunalen Selbstverwaltungen in den Bereichen Stadtplanung, Infrastruktur und Soziales. Stolz wurden die Ängste der Modernisierungskritiker widerlegt: Das befürchtete Chaos durch die Bevölkerungsdichte war durch gezielte Maßnahmen bewältigt worden, die Lebenserwartung höher als auf dem Land
Rationalisierung und Modernisierung in der Zwischenkriegszeit
In der Zwischenkriegszeit wurden Maßnahmen zur Rationalisierung und Modernisierung umgesetzt, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg eingeleitet worden waren. Der Wettbewerb für Groß-Berlin wurde 1907 ausgeschrieben,1920 wurden umliegende Dörfer und Städte eingemeindet und die Bevölkerung stieg von 1,9 auf 3,1 Millionen. Auch polyzentrische Stadtregionen wie das Ruhrgebiet modernisierten sich: 1904 hatten sich betroffene Kommunen in der Emschergenossenschaft zum gemeinsamen Abwassermanagement zusammengeschlossen. Um 1914 folgten erste Vorschläge für eine Regionalplanung,1920 gründete sich der Verband Ruhrkohlebezirk
Auf internationaler Ebene organisierten sich die Planer 1928 im CIAM (Congrès International d’Architecture Moderne). Sie befassten sich 1929 mit „der Wohnung für das Existenzminimum“, mit rationellen Bauweisen und ab 1931 mit der „Funktionalen Stadt“. Die Trennung der Funktionen Arbeit, Wohnen, Verkehr und Erholung wurde zur Ideologie des CIAM
Wiederaufbau im geteilten Deutschland
1945 lagen die deutschen Städte in Trümmern. Der Wiederaufbau sollte nicht nur die Wohnungsnot beheben, sondern zur Umerziehung und ideologischen Erneuerung der Gesellschaft beitragen. In allen Besatzungszonen knüpften die Planer zunächst an die funktionalistischen Ideen der Zwischenkriegszeit an. Die Kriegserfahrung der Flächenbrände mit zahlreichen Todesopfern förderte das Konzept der gegliederten, aufgelockerten und durchgrünten Stadt. Die Städte wurden auf den alten Grundrissen wieder aufgebaut, weil die unterirdische Infrastruktur weitgehend intakt war. Die 1950er Jahre kannten Bombenkrater, Trümmerfelder, Wohnungsnot und ärmliche Verhältnisse. Viele Menschen lebten zur Untermiete.
Während der European Recovery Plan (Marshall-Plan) die Wirtschaft in den westlichen Zonen ankurbelte, bestand die Sowjetunion auf Reparationen und demontierte Industrieanlagen. Beim Wiederaufbau oder der Sanierung zerstörter Bausubstanz entsprach der Standard in der SBZ/DDR zunächst dem der Arbeiterhäuser der Vorkriegszeit mit Etagenklos, Duschen im Keller und Korridorwohnungen. Nach der Gründung der beiden deutschen Staaten verfolgte die BRD dezidiert den Weg der internationalen Moderne. In der DDR knüpften die Planer Heinrich Henselmann und Hans Scharoun nach 1945 ebenfalls an die Prinzipien des Neuen Bauens an. Doch 1950 übermittelte die Sowjetunion der DDR in 16 Punkten
Die bekannteste Folge war der Bau der Stalin-Allee in Berlin „vom Volk für das Volk“: Freiwillige, Trümmerfrauen wie Schüler, klopften Ziegelsteine sauber. Wie versprochen, erhielten manche der Beteiligten tatsächlich eine der neuen Wohnungen an der Prachtstraße. Diese wurde zum sozialen Raum des gemeinsamen Aufbaus, der Affirmation des Regimes an den sozialistischen Feiertagen, aber auch des Protestes: Von hier aus breiteten sich am 17. Juni 1953 die Unruhen gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen aus. 1958 wurde der Abschnitt zwischen Strausberger Platz und Alexanderplatz im Stil der Moderne mit Plattenbauten in offener Bauweise weitergebaut, nachdem das Ende des stalinistischen Städtebaus, das der Erste Sekretär der KPdSU, Nikita Chruščev, 1954 am Moskauer Architektenkongress verkündet hatte, bis zum widerstrebenden Staatsratsvorsitzenden der DDR, Walter Ulbricht, durchgedrungen war. Erst auf dem zweiten Höhepunkt der Entstalinisierung 1961 wurde die Stalin-Allee in Karl-Marx-Allee umbenannt.
Wie das arbeitsteilige deutsche Städtesystem entstand
Deutschland sollte nach 1945 bewusst dezentral wiederaufgebaut werden. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Berlin eine zentrale Steuerungsfunktion in metropolitanen Wirtschaftszweigen wie Banken, Medien und Wirtschafts- und Sozialverbänden, stand aber neben Regionalmetropolen wie Hamburg, Leipzig oder Düsseldorf als Zentren des Großhandels. Nach 1945 hatte Berlin als geteilte Stadt und Hauptstadt der DDR eine Sonderstellung, regionale Zentren der DDR waren Leipzig und Dresden
1970 konzentrierten sich in Bonn die Regierungsbehörden und die Lobby, in Hamburg und Düsseldorf der Handel, in Köln und München Versicherungen, in München zudem Publizistik und Kultur, während sich Frankfurt zur Finanzmetropole entwickelt hatte. Frankfurt konnte seine Spezialisierung während der westdeutschen Wirtschaftswunderjahre auch deswegen ausbauen, weil hier der bizonale Wirtschaftsrat saß, der es ermöglichte, Kontakte zu amerikanischen Unternehmen zu knüpfen. Die Rhein-Main-Airbase der amerikanischen Besatzungsmacht trug als internationaler Flughafen wesentlich zur Wirtschaftsentwicklung bei. Die enge Verbindung zu den USA schlug sich in Frankfurt sichtbar im Entscheid für einen Hochhausplan nieder, der die Skyline prägt.
Die Planungseuphorie der 1960er Jahre
In den 1960er Jahren waren die schlimmsten Kriegsschäden repariert, Vertriebene und Kriegsgefangene im Alltag angekommen, die Wirtschaft hatte sich erholt und das Raumfahrtzeitalter war angebrochen. Nun begann ein Prozess, der später von Kritikern als „zweite Zerstörung“ der deutschen Städte bezeichnet wurde. Die neuen Zentrumsplanungen sollten den rapide wachsenden Städten einen zeitgemäßen Ausdruck verleihen. Das galt auch in der DDR: Zum neuen sozialistischen Zentrum gehörten markante Bauten für Kultur, Freizeit und Konsum, Cafés, Kinos, Hotels und Warenhäuser. Beispiele dafür sind die Prager Straße in Dresden und der Alexanderplatz in Berlin. Aber auch die Innenstadt von Karl-Marx-Stadt (heute wieder Chemnitz), nach dem Krieg zunächst auf dem alten Grundriss aufgebaut, wurde in den 1960er Jahren durch ein völlig neu angelegtes Straßennetz und neue Infrastrukturanlagen in moderner Großtafelbauweise umgestaltet.
Die Stimmung in dieser Zeit des Kalten Krieges war ambivalent: Die wissenschaftlich-technische Revolution und die Kybernetik versprachen, durch ungeheure Effizienzsteigerungen alle materiellen Probleme zu lösen. Die Sowjetunion punktete mit Sputnik und Gagarin, die USA mit Fertighäusern, Einbauküchen, Automobilen und dem American Way of Life. Über allem schwebte die Gefahr eines Atomkriegs. DDR und BRD waren Frontstaaten in diesem Systemwettkampf, und bis zum Mauerbau 1961 tobte in Berlin ein Kleinkrieg der Konsumgüter- und Publikumsausstellungen zwischen Ost und West, bei dem es um Wohlstand, aber auch um die Frage des guten Geschmacks und der richtigen Bewahrung des kulturellen Erbes ging
Von der unwirtlichen zur lebenswerten Stadt
Zwischen den 1950er und den 1970er Jahren war die „autogerechte Stadt“ Leitbild in West und Ost. Obwohl in der DDR nur wenige ein Auto besaßen, waren auch hier ungehinderte Mobilität und Verkehrsflüsse Signale von Modernität. Gleichzeitig mit dem konsumgerechten Ausbau der Zentren förderten typisierte Großsiedlungen an den Rändern der Städte in West und Ost eine gewollte Dezentralisierung, bekämpften die Wohnungsnot und schufen Nachfrage nach Konsumgütern. In der DDR stand die Baustelle für den Fortschritt und das Experiment der sozialistischen Zukunft, für die an neuen Kunststoffen getüftelt wurde. Im Alltag bedeutete die Großtafelbauweise einen Komfortsprung aus notdürftig sanierten Altbauten in die ferngeheizte Moderne mit eigenem Badezimmer und Einbauküche. Die neuen Siedlungen waren mit großzügigen begrünten Freiräumen zur Erholung und einer gestuften Infrastruktur versehen, die neben Spielplätzen, Kindergärten und Schulen auch die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs wie Konsum, Apotheke und Arzt umfasste. Davon profitierten vor allem junge Familien mit Kindern, während in den vernachlässigten Altbauvierteln schlecht Ausgebildete, Randständige und Rentner zurückblieben
In der Bundesrepublik zogen die Mittelschichten lieber in ein Eigenheim im Grünen und überließen die Großsiedlungen den unteren Einkommensschichten. Gleichzeitig setzte die Verdichtung und Kommerzialisierung der Innenstädte in den 1960er Jahren die Altbauviertel unter Druck. In den durch „Flächensanierungen“ bedrohten Altbauten lebten Wenigverdienende, Gastarbeiter und Studierende. Schon bald wurde intellektuelle Kritik laut an der „Unwirtlichkeit der Städte“ (Alexander Mitscherlich, 1965), auch in der DDR: In ihrem Roman „Franziska Linkerhand“ (1974) erzählt Brigitte Reimann von der Verzweiflung einer jungen Architektin angesichts der Aufgabe, monotone Plattenbauviertel hochzuziehen. Die Mehrzahl der ehemaligen DDR-Bürger erinnert sich jedoch gerne an ihre Kindheit in den neuen Wohnvierteln zurück.
Die weltweit verfolgte Reise zum Mond 1969 ermöglichte den Menschen den Blick aus dem Weltall auf die als zerbrechlich wahrgenommene Erde, den blauen Planeten. 1972 erschien der Bericht des Club of Rome über die Endlichkeit der Ressourcen, 1973 führte die erste Ölkrise zu einer Rezession und dem Erlebnis autofreier Wochenenden. Alles zusammen förderte ein neues ökologisches Bewusstsein und eine Hinwendung zu traditionellen Werten. Diese äußerte sich in der Bundesrepublik unter anderem in scharfer Kritik an den Großsiedlungen der 1960er Jahre, darüber hinaus im „Europäischen Denkmalschutzjahr“ und auch darin, dass junge Leute Altbauwohnungen wieder schätzten. Hier formierte sich Widerstand gegen die Förderung des Autoverkehrs, die damit verbundenen Abriss-Orgien und die Stadtautobahnen der 1970er Jahre. Die westdeutsche Stadtentwicklungspolitik wandelte sich grundlegend. Straßenprojekte wurden auf Eis gelegt und Innenstädte vom Autoverkehr befreit. Es war die Geburtsstunde der Fußgängerzone, später kamen Fahrradwege und modernisierte öffentliche Verkehrsmittel hinzu, befördert von einem Generationenwechsel bei den führenden Stadt- und Verkehrsplanern
Die verkehrsberuhigten Innenstädte wurden seit dem Ende der 1980er Jahre zu Bühnen für eine neue Eventkultur
Urbanisierungspfade in West und Ost
Auch in der DDR entstanden Fußgängerzonen und in den 1980er Jahren kleinteilige Rekonstruktionen von Altbauvierteln wie etwa dem Nikolaiviertel in Berlin oder in der Altstadt von Rostock. Trotz solcher Ähnlichkeiten wiesen die urbanistischen Entwicklungspfade der BRD und der DDR tiefgreifende systembedingte Unterschiede auf. Die De-Industrialisierung setzte in Westdeutschland in den 1970er Jahren ein und führte zur Wahrnehmung einer „Krise der Stadt“. Paradigmatisch war der Niedergang der Montanindustrie im Ruhrgebiet, dem mit der Ansiedlung neuer Industrien sowie mit gestalterischen und kulturpolitischen Maßnahmen begegnet wurde. Die sozialistischen Länder dagegen hielten am Primat der Produktion und an den Großsiedlungen fest. Obwohl in der DDR nur wenige Städte wie etwa Eisenhüttenstadt neu gegründet wurden, waren doch zahlreiche Städte industriell überformt worden. Das Chemie-Programm der 1960er Jahre führte in den 60er und 70er Jahren zum Bau von Chemie-Städten wie Halle-Neustadt und Schwedt. Stadträumlich blieben die Lebensbereiche Arbeit und Wohnen stärker verflochten als in bundesdeutschen Städten
Die Unterschiede der Städte in Ost- und Westdeutschland waren im konkreten Stadtraum mit allen Sinnen erfahrbar. Die Städte der DDR rochen im Winter schweflig nach Braunkohlerauch und hatten eine spezifische Farbigkeit, die sich in westdeutschen Städten vor allem im Ruhrgebiet wiederfand. Die Geräuschkulisse westdeutscher Städte war vom Verkehrsrauschen geprägt, während es in ostdeutschen Städten ruhig war und ab und zu ein Zweitakter vorbeituckerte. Während westdeutsche Städte in den Zentren abends hell erleuchtet waren, versanken die Städte der DDR in Dunkelheit. Orte zivilgesellschaftlicher Begegnung waren selten, das soziale Leben spielte sich im Privaten oder auf Betriebsfesten und in Jugendclubs ab. Der Aufenthalt und das Verhalten im öffentlichen Raum waren in der DDR stärker reguliert und kontrolliert als in der BRD.
Schrumpfende Städte und Schwarmstädte in der mobilen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts
Nach dem Niedergang des planwirtschaftlichen Systems trafen die Abwanderung junger, gut ausgebildeter Menschen und die nachholende De-Industrialisierung die Städte der DDR mit doppelter Wucht. Schließlich standen rund eine Million Wohnungen leer. In vielen Städten wurden im Rahmen des vom Bund geförderten Programms „Stadtumbau Ost“ zwischen 2002 und 2009 die Großsiedlungen der 60er und 70er Jahre selektiv saniert und dabei ganze Blöcke abgerissen. Eine nachholende Suburbanisierung, die wegen der Wohnungspolitik und aufgrund des geringen Motorisierungsgrades in der DDR ausgeblieben war, wurde durch den Trend zum Wohnen in der Stadt abgefedert, zumal die vernachlässigten Altbauten in den Innenstädten seit den 1990er und 2000er Jahre saniert werden. Inzwischen fehlen jedoch mancherorts Wohnungen, denn einige Städte in den neuen Bundesländern sind zu beliebten Wohnorten für Junge und Qualifizierte geworden.
Städte wie Leipzig oder Jena haben sich zu so genannten Schwarmstädten entwickelt, ähnlich wie Freiburg und Münster. Ausschlag für das „Schwarmverhalten“ bei der Wahl des Wohnortes geben demographische Faktoren wie der Pillenknick, der die um 1975 Geborenen nach Orten suchen lässt, an denen Gleichaltrige mit ähnlichen Interessen leben. Die Attraktivität der Städte messen sie an Freizeitangeboten (Kneipen, Kino, Kleinkunst), Lage, Lebensstil und der Konzentration Gleichgesinnter. Wenn Arbeitsplätze hinzukommen und mehr Menschen mit festen Einkommen versorgen, steigt die Nachfrage nach Wohnraum und damit auch die Miete rasch an
Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum in vielen deutschen Städten gewinnt durch die Welle an Geflüchteten seit 2015 an politischer Brisanz. Die vergleichsweise starke mietrechtliche Regulierung und ein breites Spektrum kommunaler Maßnahmen sollten soziale Gerechtigkeit und Durchmischung fördern sowie die Entwicklung von Stadtteilen ankurbeln. Kritiker weisen darauf hin, dass die Regulierung aber auch Entwicklungsdynamiken in Städten mit Potenzial behindert, weil Überregulierung und niedrige Renditen Investoren abschrecken und Neubauten verhindern. 2016 wird der Bedarf auf 800.000 und mehr Wohnungen geschätzt. Wie schon in den 1990er Jahren möchte der Bund den privaten Wohnungsbau durch Steuerabschreibungen fördern. Im Bereich der Wohnbauförderung und des Mietwesens sind äußerst komplexe Mechanismen und Maßnahmen am Werk, die weitreichende Auswirkungen auf die Stadtentwicklung haben.