Die Komplexität nachhaltiger Stadtentwicklung
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnet sich wieder eine zunehmende Konzentration der Bevölkerung in Städten ab: Mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung leben inzwischen durchschnittlich in städtischen Siedlungsgebieten, in Deutschland sind es bereits 75 Prozent. Weltweit prognostizieren die Vereinten Nationen bis zum Jahr 2050 bis zu 70 Prozent Stadtbewohner
Zentral an allen urbanen Orten der Welt werden somit die Fragen: Wie, von wem, mit welchen Ressourcen und mit welcher Verbindlichkeit können städtische Entwicklungsprozesse nachhaltig gestaltet werden? Nachhaltigkeit meint dabei die ökonomische, soziale und ökologische Zukunftsfähigkeit städtischer Entwicklung. Sie wiederum ist in Abhängigkeit von den jeweils spezifischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu sehen. Die Kunst nachhaltigen Handelns besteht darin, die jeweils angestrebten ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekte von Nachhaltigkeit so miteinander zu verzahnen, dass Ungleichheiten im Zugang zu städtischen Lebensbedingungen möglichst vermieden werden
Für dieses breite Spektrum an zentralen Herausforderungen in der Stadtentwicklung gibt es – trotz vielfältiger Forschungsanstrengungen – noch keine universellen Lösungen. Zu unterschiedlich sind, weltweit gesehen, sowohl die gesellschaftlichen und naturräumlichen Herausforderungen nachhaltiger Stadtentwicklung als auch die wirtschaftlichen, politischen und sozialkulturellen Ressourcen für deren Verwirklichung.
Notwendige wissenschaftliche Erkenntnisse für die Gestaltung nachhaltiger urbaner Entwicklungsprozesse unter Berücksichtigung ihrer sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Komplexität beschränken sich infolge der vorwiegend monodisziplinären Förderstrategien der Europäischen Union, der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie von Bundes- und Landesministerien noch zu häufig auf enge disziplinäre Handlungsfelder. Es stehen entweder – wie bei den meisten EU-Förderprogrammen – wirtschaftliche Interessen an der Verwertung von Forschungsergebnissen oder ökologische Herausforderungen des Klimawandels im Vordergrund. Soziale Nachhaltigkeit, die sich im Nutzen urbaner Transformationen für Wohnende, Beschäftigte und Besucher manifestieren müsste, bleibt dabei weitgehend unberücksichtigt
Gleiches gilt für eine systematische interdisziplinäre Ausbildung von Fachleuten, die notwendig wäre, um den hohen Anforderungen nachhaltiger Stadtentwicklung in ihrer Komplexität gerecht zu werden. Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Erkenntnis- und Gestaltungspraktiken sowie die notwendige kritische Reflexion praktizierter Handlungsstrategien – wie etwa der brandgefährlichen Dämmung von Wohnhäusern – finden im wissenschaftlichen und praktischen Handeln deshalb nur unzureichend Berücksichtigung. Sie werden allenfalls mit langen Verzögerungen für Lernprozesse in der nachhaltigen Stadtentwicklung fruchtbar gemacht. Folgekosten von als unvorhersehbar deklarierten Mängeln werden in Form erhöhter Wohnkosten an die Nutzer der Gebäude weitergereicht, die sich dagegen nur schwer zur Wehr setzen können.
Aspekte der Sozialverträglichkeit in Handlungsfeldern nachhaltiger Stadtentwicklung
QuellentextNachhaltige Stadtentwicklung
Nachhaltige Stadtentwicklung kann nur gelingen, wenn die Dimensionen sozial, wirtschaftlich, ökologisch sowie kulturell und institutionell so zusammenwirken, dass aus dem verantwortlichen Umgang mit den vorhandenen Ressourcen ein fairer Konsens zwischen den Interessen der heutigen und der künftigen Stadtmenschen erwirkt wird.
Quelle: BBSR 2017
Diese fachliche Positionierung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) verweist darauf, dass es bei nachhaltiger Stadtentwicklung um einen fairen Ausgleich zwischen zeitgenössischen und längerfristigen städtischen Lebensbedingungen geht. Fairness bezieht sich dabei auf eine ausgewogene Berücksichtigung sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Erfordernisse aller Menschen, die eine Stadt als Wohnende, Beschäftigte oder Besucher nutzen sowie auf alle Institutionen, die als Unternehmen, als politisch-administrative oder als sozial-kulturelle Einrichtungen Stadt gestalten.
Verantwortliche Akteure im Bereich nachhaltiger Stadtentwicklung können sich zudem nicht allein auf Bedürfnisse von Zeitgenossen konzentrieren, sondern müssen stets gleichzeitig auch als die Anwälte zukünftiger Generationen von Städtern handeln. Sie benötigen dafür Fähigkeiten zum Perspektivenwechsel zwischen der jeweils zur Diskussion stehenden urbanen Gegenwart und einer mehr oder weniger vorstellbaren urbanen Zukunft. Solche Kompetenzen entstehen in reflexiven professionellen Alltagsprozessen, in die sorgfältige und kritische Rückblicke auf urbane Vergangenheiten und deren Entwicklungsdynamik einfließen. Denn Analysen nicht beabsichtigter Handlungsfolgen und entstandener sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Gefährdungen städtischen Lebens bieten Lernmöglichkeiten für eine nachhaltige Gestaltung städtischer Zukunft, die verlässlicher sind als die meisten Prognosemodelle.
Gegenstand einer sozialverträglichen nachhaltigen Stadtentwicklung sind die Lebensbedingungen aller Menschen, die Stadt nutzen und gestalten. Sie sind weltweit geprägt von den Zugangsmechanismen zu Boden, Wasser, Luft und Energie. Auch in den Städten befindet sich der Boden je nach Gesellschaftsstruktur in privatem oder in öffentlichem Besitz. Er wird von den jeweiligen Eigentümern entsprechend ihrer je spezifischen Interessen und Entscheidungsmacht sowie geltender politisch-administrativer Regulationen mehr oder weniger nachhaltig genutzt: sei es als Bau-, Grün- oder Verkehrsfläche, sei es für den Abbau von Rohstoffen, für Energiegewinnung oder -transport, für Müllentsorgung, Wohnen, Arbeit, Mobilität, Freizeit oder Ernährung. Je nach Bodennutzung wiederum sind unterschiedliche Auswirkungen auf die Qualität von Wasser, Luft und energetischer Versorgung zu erwarten.
Diese Auswirkungen können sich ihrerseits für unterschiedliche Stadtbewohner als mehr oder weniger sozialverträglich erweisen. So erfordert der Abbau von Braunkohle nach wie vor den unfreiwilligen Umzug von Bewohnern, oberirdischer Energietransport und die Produktion von Windenergie belasten Nutzer betroffener Grundstücke durch elektrische Spannungsfelder und Lärm, Mülldeponien können die Trinkwasserversorgung gefährden und zunehmende berufliche und Freizeitmobilität sowie intensiver Wohnungsneubau an gefragten Standorten führen zu Flächenversiegelung und Reduzierung lebenswichtiger Grünräume.
Folgende komplexe Wechselwirkungen werden gegenwärtig in nationalen und internationalen Stadtdiskursen thematisiert:
Die Nutzung fossiler Energien für Heizungen sowie für den Personen- und Warentransport verunreinigt zusammen mit industriellen Emissionen die Atemluft in dicht besiedelten urbanen Räumen
Die Anlage und Pflege von Grünzonen, die durch Sauerstoffeintrag die Luftqualität verbessern könnten, ist vor dem Hintergrund zunehmend leerer öffentlicher Kassen und eines Wohnungsbaus, der in hoch verdichteten Gebieten mit überdurchschnittlichem Nachfragedruck nicht mehr allein durch Innenverdichtung zu gewährleisten ist, gefährdet.
Der Klimawandel führt als Ergebnis fehlender Nachhaltigkeit im Umgang mit planetaren Ressourcen in vielen Regionen der Welt zu Wassermangel und/oder zu Überschwemmungen von Böden. Dadurch ist vielerorts die Nahrungs- und Trinkwasserversorgung gefährdet und es können wasserrechtlich bedingte politische Konflikte ausgelöst werden.
Arbeiten zur historischen Entwicklung städtischer Lebensbedingungen zeigen, dass ein Wissen um deren Gefährdung durchaus vorhanden ist