Veränderte Rolle des Staates
Der Staat trifft die grundlegenden Entscheidungen über die Strukturen und die Organisation des Gesundheitswesens, er plant den Versorgungsbedarf und die vorzuhaltenden Kapazitäten, er vergibt Konzessionen für die Krankenversicherung, er legt den Umfang des Leistungskatalogs fest, er gestaltet das Tarifsystem und entwickelt Qualitätsstandards. Je nach Regelungsgegenstand werden weitere Akteure in die gesundheitspolitischen Entscheidungen einbezogen. So wirken die Provinzregierungen bei der Krankenhausplanung mit, eine Reihe von staatlichen beziehungsweise auf gesetzlicher Grundlage tätigen Institutionen und Gremien beraten die Regierung in verschiedenen Sachfragen und die Verbände der Krankenversicherungen, Leistungserbringer und der Patientinnen und Patienten sind in verschiedenen korporatistischen Arrangements in relevante Entscheidungsprozesse mit einbezogen.
Besonders ausgeprägt war die starke Rolle des Staates bei der Kapazitätsplanung und -entwicklung in der Versorgung. Eine zentrale Position nimmt dabei wiederum das Gesundheitsministerium ein, das die Verantwortung für die Bedarfsdeckung in der medizinischen Versorgung trägt. Das Ministerium entscheidet über die Zulassung von Versorgungseinrichtungen. So obliegt die Planung und Genehmigung von neuen Krankenhäusern und anderen stationären Einrichtungen, aber auch des Um- beziehungsweise Ausbaus bestehender Häuser, der zentralstaatlichen Regulierung durch das Gesundheitsministerium. Damit soll das Angebot dem Bedarf angepasst und eine effiziente Versorgung im stationären Sektor sichergestellt werden. Die Umsetzung der zentral beschlossenen Planung liegt in der Verantwortung der Provinzregierungen.
Mit der Gesundheitsreform aus dem Jahr 2006 zeichnet sich ein Wandel in der Steuerung des niederländischen Gesundheitssystems ab, der auch die Rolle des Staates als regulativer Instanz nachhaltig verändert. In den Niederlanden wurde der Krankenversicherungsmarkt (die zweite Säule) vollständig privatisiert. Zuvor bestehende gesetzliche Versicherungen wurden in privatrechtliche Organisationen überführt. Die Liberalisierung des Marktes für Gesundheitsdienstleistungen soll einen stärkeren Wettbewerb unter Finanzierungsträgern und Versorgungseinrichtungen erzeugen. Zu diesem Zweck werden bestehende staatliche Regulierungen abgebaut und – wie etwa in der Preisgestaltung – schrittweise dem Wettbewerb übertragen. Die Regierung setzt darin die Hoffnung, dass Leistungen künftig effizienter, kostengünstig und mit hoher Qualität erbracht werden. Der größere Handlungsspielraum, der den einzelnen Akteuren (Versicherungen, Leistungsanbieter, Versicherte) dabei eingeräumt wird, ist in ein neuartiges Steuerungssystem eingebettet, in dem die im Oktober 2006 gegründete Niederländische Gesundheitsagentur (Nederlandse Zorgautoriteit – NZa) eine zentrale Rolle spielt. Bei der NZa handelt es sich um eine unabhängige Regulierungsagentur, die nach dem Vorbild anderer liberalisierter Sektoren (Telekommunikation, Energie etc.) eingerichtet wurde. Das Gesundheitsministerium bleibt verantwortlich für die politische Entwicklung, die konkrete Regulierung des Gesundheitsmarktes ist in vielen Bereichen jedoch der neuen Agentur übertragen worden. Aufgabe der Agentur ist es, den Wettbewerb im Gesundheitswesen zu fördern. Dabei sollen die gesetzlich verankerten Ziele eines barrierefreien Zugangs zur Gesundheitsversorgung, einer hohen Qualität und der finanziellen Tragfähigkeit nicht verletzt werden.
Abnehmende Bedeutung der Verbände
In den Niederlanden wird die große Mehrheit der Versorgungsleistungen von nicht staatlichen Trägern erbracht. Private und freigemeinnützige Einrichtungen besitzen eine herausragende Bedeutung im Gesundheitssystem. Deren Verbände sind traditionell in die Formulierung und Umsetzung der niederländischen Gesundheitspolitik einbezogen. Gleiches gilt für die Organisationen der Krankenversicherungen. Insbesondere die Spitzenverbände der verschiedenen Akteursgruppen spielen eine wichtige Rolle in der korporatistischen Regulierungsstruktur. Das niederländische System weist damit einige Parallelen zum deutschen System auf, das traditionell ebenfalls durch eine einflussreiche Stellung von verschiedenen Verbänden geprägt ist. Das niederländische Verbändesystem im Gesundheitssektor ist allerdings weniger zentralisiert. Insgesamt wird die Zahl der Dachverbände im Gesundheitswesen auf circa 250 geschätzt. Während lange Zeit die gemeinnützigen Akteure eine dominante Stellung im Verbändesystem innehatten, gewinnen aufgrund der jüngsten Gesundheitsreformen private und kommerzielle Akteure an Bedeutung. Die traditionellen Verhandlungspartner in der niederländischen Gesundheitspolitik sind die Kassenverbände und der Staat. Aber auch der Ärzteverband (Nederlandse Vereniging von Artsen – VvAA), der sich in einen Hausarzt- und einen Facharztverband unterteilt, spielt in der Regulierung des Versorgungssystems eine wichtige Rolle.
In der jüngeren Vergangenheit wächst die Bedeutung von direkten Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen Versicherungen und Leistungserbringern. Der gesundheitspolitisch vergrößerte Spielraum in der Vertragsgestaltung ermöglicht den einzelnen Akteuren zunehmend selektive Vertragsabschlüsse zwischen einzelnen Versicherungen mit ausgewählten Leistungserbringern, das heißt, die Verbände verlieren einen Teil ihrer Aufgaben. Die Marktorientierung in der jüngeren niederländischen Gesundheitspolitik geht daher mit einer Schwächung des traditionellen korporatistischen Steuerungsmodells einher. Eine größere Bedeutung als im deutschen System besitzen die Patientenverbände. Es existiert ein nationaler Patientenverband, die Nederlandse Patiënten Consumenten Federatie (NPCF), in der etwa 300 Patienten- und Verbraucherorganisationen zusammengeschlossen sind. Die NPCF ist als vierter Partner neben Staat, Krankenversicherungen und Leistungserbringern in verschiedenen gesundheitspolitischen Regulierungsgremien vertreten.
Zunehmende Wettbewerbsorientierung
Die jüngere Entwicklung des niederländischen Gesundheitswesens gilt als Modell für die marktorientierte Reform eines Krankenversicherungssystems. Seit den 1980er-Jahren wurden verschiedene Schritte in Richtung einer stärkeren Bedeutung von Markt- und Wettbewerbselementen im Gesundheitswesen vollzogen. Die gesetzlichen Krankenversicherungen wurden bereits in den 1990er-Jahren auf ihre Rolle als Marktteilnehmer vorbereitet. Die Anfänge selektiver Vertragsgestaltung der Krankenkassen mit Vertragsärztinnen und -ärzten und Krankenhäusern wurden im Jahr 1994 gemacht. Damals wurden die Versicherungen vom Kontrahierungszwang mit den zugelassenen Leistungsanbietern befreit und konnten mit ausgewählten Versorgungseinrichtungen Verträge abschließen. Durch dieses System sollte auch der Wettbewerbsdruck unter den Leistungsanbietern erhöht werden. In den Folgejahren wurde dieses Instrument von den Versicherungen allerdings nur begrenzt genutzt. Die Regierung hat daraufhin den vertraglichen Gestaltungsspielraum weiter ausgedehnt. Mit der Einführung der freien Kassenwahl in der Krankenversicherung und der Privatisierung der ehemals gesetzlichen Versicherungen sind zudem Rahmenbedingungen geschaffen worden, die die einzelnen Akteure dazu veranlassen, ihre Marktposition durch eine geschickte Vertragspolitik zu verbessern.
Die Liberalisierung des niederländischen Gesundheitssektors folgt dem Leitbild eines nachfragegesteuerten Wettbewerbs von Anbietern und Leistungserbringern, der im Rahmen gesetzlicher Vorgaben den Interessen der Patientinnen und Patienten beziehungsweise Verbraucherinnen und Verbraucher und der Öffentlichkeit dienen soll. Als ein Schlüsselinstrument gilt die Wahlfreiheit der Patientinnen und Patienten beziehungsweise Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich insbesondere in der freien Wahl der Krankenversicherung seit 2006 ausdrückt. Generell werden drei Typen von Gesundheitsmärkten identifiziert (siehe Abbildung "Marktakteure im Gesundheitswesen"):
der Versorgungsmarkt, auf dem die Leistungsanbieter um die Patientinnen und Patienten beziehungsweise Verbraucherinnen und Verbraucher konkurrieren sollen
der Einkaufsmarkt, auf dem vor allem Versicherungen und Leistungsanbieter, aber auch Verbraucherinnen und Verbraucher sowie Leistungsanbieter interagieren
der Versicherungsmarkt, auf dem die Krankenversicherungen um Versicherte konkurrieren