Seit etwa zwanzig Jahren ist Berlin-Neukölln das wohl bekannteste "Problemviertel" der deutschen Großstädte. Den zentralen Auftakt für diese Bekanntheit bildete ein Spiegelartikel im Jahr 1997 mit dem Titel Externer Link: Endstation Neukölln. Darin werden Verwahrlosung, extreme Gewalt und scheinbar ungezügelte Kriminalität als Alltagsphänomene in dem Berliner Bezirk beschrieben. Berlin zog zu dieser Zeit, als alte neue Hauptstadt nach dem Mauerfall, sukzessive die Medien in seinen Bann. Nun tat sich fast im Zentrum dieser Großstadt mit Neukölln ein verruchtes Viertel auf, eine von Armut, Fremdheit und Gewalt geprägte No-go-Area.
Imageproduktion eines Problemviertels
Einen weiteren Meilenstein in der Imageproduktion von Neukölln als Problemviertel markierte knapp zehn Jahre später der Kinofilm
Das Image des Verruchten, Gefährlichen und Fremden, das benachteiligten Stadtteilen oft anhaftet, war schon immer ein Grund für das Interesse an ihnen. Der ambivalente Reiz, der von diesen scheinbar anderen Welten ausgeht, hat auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen häufig inspiriert.
Das Image eines Viertels führt ein Eigenleben
Auch wenn benachteiligten Stadtgebieten meist ein schlechtes Image anhaftet, wäre es sozialwissenschaftlich verfänglich, allein an diesem Kriterium Problemquartiere zu identifizieren. Das Image eines Viertels führt ein Eigenleben, es ist Medium und Speicher von Geschichten wie Mythenbildungen. Diese können zwar handlungsrelevant werden, etwa für Menschen "außerhalb" des Stadtgebiets, indem sie deren Mobilitäts- oder Investitionsverhalten mit beeinflussen. Der Städtetourismus ist ein Beispiel dafür, wie durch die Vermarktung der Images von Städten und Stadtteilen Mobilitätsentscheidungen gelenkt werden sollen. Jedoch ist das Image eines Stadtteils stets pauschalisierend. Mindestens verdeckt es die zahlreichen sich in ihm verbergenden sozialen Differenzierungen. Im schlimmsten Fall ist es unzutreffend oder rein abwertend, ein Stigma, wie zum Beispiel die geläufige Bezeichnung "Assi-Viertel" oder "Ghetto".
Was von außen als "sozialer Brennpunkt" oder "Problemquartier" bezeichnet wird, kann sich von innen friedlich, tolerant und selbst solidarisch gestalten. Beispielsweise haben Studien über die hochgeschossigen Großsiedlungen am Rand von Städten, die oft allein schon aufgrund ihrer monströs wirkenden Architektur als "Problemviertel" gelten, immer wieder gezeigt, dass viele dieser Siedlungen besser sind als ihr Ruf und die Bewohner gerne in ihnen wohnen. Eine aktuelle Studie, die Großsiedlungen aus den alten Bundesländern wie die Neue Vahr in Bremen und Nordostbahnhof in Nürnberg mit solchen aus den neuen Bundesländern wie Dresden-Gorbitz und Roter Berg in Erfurt vergleicht, kommt zu dem selben Schluss.
Vor diesem Hintergrund ist es angebracht, möglichst neutrale und analytische Begriffe zur Beschreibung von benachteiligten Stadtteilen zu wählen. Der Begriff "Problemquartier" erweist sich selber als problematisch, da er dazu verleitet, unterschiedlichste Problemlagen auf ein Viertel zu projizieren, das vielleicht lediglich eine vernachlässigte Bausubstanz aufweist oder in dem eine einkommensschwache Bewohnerschaft lebt.
Soziale Benachteiligung: mehr Arbeitslosigkeit, mehr Armut
Benachteiligte Stadtteile oder Quartiere lassen sich zunächst darüber definieren, dass in ihnen ein erhöhter Anteil von Personen lebt, die sozial benachteiligt sind. Zieht man die klassischen Statusindikatoren Bildung, Beruf und Einkommen als Maß für soziale Benachteiligung heran, kann man im Fall von Berlin-Neukölln sagen, dass es sich weiterhin um einen benachteiligten Stadtbezirk handelt. So weisen die Daten des aktuellen Externer Link: Berliner Sozialstrukturatlas Neukölln als den Bezirk aus, der die höchsten Anteile an Personen ohne schulische und berufliche Bildungsabschlüsse, die höchste Arbeitslosenquote und Einkommensarmut aufweist.
Berlin-Neukölln liegt relativ zentral und ist geprägt von Altbaubestand. Zwei Merkmale, die auf viele benachteiligte Quartiere zutreffen. In manchen dieser Viertel steigen die Mieten. Mit der Folge, dass statusschwache Haushalte "ihre" Viertel teils verlassen. (© picture-alliance)
Berlin-Neukölln liegt relativ zentral und ist geprägt von Altbaubestand. Zwei Merkmale, die auf viele benachteiligte Quartiere zutreffen. In manchen dieser Viertel steigen die Mieten. Mit der Folge, dass statusschwache Haushalte "ihre" Viertel teils verlassen. (© picture-alliance)
Hinsichtlich der sozialen Lage der Bewohner lässt sich Neukölln also auch heute noch als ein "Problembezirk" bezeichnen. Zwar sind einzelne Viertel zu In-Vierteln geworden, zu To-go-Areas, aber diese Entwicklung bleibt (bislang) räumlich beschränkt. Die soziale Benachteiligung stellt gegenüber den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Gleichheit von Lebenschancen weiterhin eines der gravierendsten Probleme dar. Neukölln ist allerdings ein Bezirk mit über 320 000 Einwohnern, der sich von gründerzeitlich geprägten Innenstadtlagen innerhalb des S-Bahn-Rings bis hin an die südliche Berliner Peripherie erstreckt. Im südlichen Teil von Neukölln dominieren kleinteiligere Wohnbebauungen mit teils suburbanem und dörflichem Charakter. Abgesehen von der Großsiedlung Gropiusstadt sind die Bewohner hier in der Regel sozial etwas besser gestellt als im Berliner Durchschnitt. Sozial benachteiligte Quartiere befinden sich in Neukölln vor allem im nördlichen Teil. Dies spiegelt sich deutlich bei den Quoten der Empfänger der Grundsicherung (nach Sozialgesetzbuch II) wider: Bis auf das Quartier Reuterplatz liegt die Quote an erwerbsfähigen Transferempfängern (Arbeitslosengeld II) in Nord-Neukölln durchschnittlich bei über 30 Prozent, bei Kindern unter 15 Jahren sogar bei über 60 Prozent. Im Vergleich: Der Berliner Durchschnitt liegt bei 18 beziehungsweise 29 Prozent (in 2011).
Im Vergleich auch mit anderen deutschen Städten und Regionen sind das durchaus hohe absolute Konzentrationswerte. Dies ist vor allem Ausdruck davon, dass Berlin (im Februar 2014: 19,8 Prozent), hinter Bremerhaven und Gelsenkirchen (mit 22,5 Prozent) sowie dem Landkreis Uckermark (20,2 Prozent) die Liste der deutschen Städte und Regionen bei den Empfängerquoten der Grundsicherung anführt, während insbesondere Städte und Regionen in Süddeutschland niedrigere Quoten aufweisen.
Der Vorort Chorweiler im Kölner Norden wurde in den 1970er-Jahren gebaut. Heute ist er Symbol einer verfehlten Städtebaupolitik. Dringend notwendig sind Investitionen in die Infra- und Sozialstruktur. (© picture-alliance/dpa)
Der Vorort Chorweiler im Kölner Norden wurde in den 1970er-Jahren gebaut. Heute ist er Symbol einer verfehlten Städtebaupolitik. Dringend notwendig sind Investitionen in die Infra- und Sozialstruktur. (© picture-alliance/dpa)
Die Konzentration von statusschwachen Bewohnern in bestimmten Stadtteilen überlagert sich typischerweise mit der von Menschen mit Migrationshintergrund. Mit anderen Worten wohnen Personen mit Migrationshintergrund überproportional häufig in benachteiligten Quartieren.
Historische Stadtentwicklung und Quartierstypen
Der Bezirk Berlin-Neukölln zeigt ein für deutsche Städte geradezu typisches Muster bei der Konzentration benachteiligter Personen auf: Benachteiligte Quartiere liegen zum einen innenstadtnah und sind überwiegend durch Altbaubestand, je nach Grad der Kriegszerstörungen und Art der Stadtplanung mehr oder weniger aber auch von Nachkriegsbauten und Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus geprägt. Solche innenstadtnahen Viertel haben meist eine Geschichte als Arbeiterquartiere; sie entstanden in der Zeit der Industrialisierung in unmittelbarer Nähe zu den Fabriken und zentralen Verkehrsadern wie Bahnhöfen und Flüssen. Auch heute prägen große Verkehrsachsen und inzwischen oft umgewidmete Industrieareale die Gestalt dieser Viertel oder grenzen sie räumlich ab. In Berlin liegen solche Quartiere außer in Neukölln vor allem im Wedding und in Kreuzberg, in anderen Städten finden sie sich beispielsweise im Gutleut-, Bahnhofs- und Gallusviertel (Frankfurt am Main), Nord-Holland, Wesertor und Rothenditmold (Kassel) oder Altendorf, Altenessen und Katernberg (Essen), um nur einige zu nennen. In den vergangenen Jahren sind es gerade diese Quartierstypen, die im Zuge der sogenannten Reurbanisierung von Aufwertungstendenzen erfasst werden.
Halle-Neustadt wurde als Chemiearbeiterstadt errichtet. In den 1980er-Jahren lebten dort über 90 000 Menschen. Der Ort war zeitweise eine eigenständige Stadt. (© picture-alliance)
Halle-Neustadt wurde als Chemiearbeiterstadt errichtet. In den 1980er-Jahren lebten dort über 90 000 Menschen. Der Ort war zeitweise eine eigenständige Stadt. (© picture-alliance)
Den zweiten von sozialer Benachteiligung häufig betroffenen Quartierstyp stellen randstädtische Großsiedlungen dar, die in Westdeutschland überwiegend in den 1960er- und 1970er-Jahren, in Ostdeutschland bis Ende der 1980er-Jahre entstanden. Diese im Westen ― wie die Gropiusstadt in Berlin-Neukölln, Neuperlach in München, Chorweiler in Köln oder die Nordweststadt in Frankfurt ― in der Regel als sozialer Wohnungsbau entwickelten, monofunktional auf das Wohnen ausgerichteten Siedlungen konnten das Versprechen einer sozialen Mischung ihrer Wohnbevölkerung nur vorübergehend einlösen. Schnell erlebten sie Entmischungsschübe: Auszüge von Bessergestellten und Einzüge statusschwacher Haushalte.
Einschränkung der Lebensqualität und Lebenschancen
Häufig gehen mit der räumlichen Konzentration statusschwacher Haushalte weitere Benachteiligungen der Quartiere einher, die die Lebensqualität einschränken. Neben Verkehrs- und Lärmbelastungen besonders in den innerstadtnahen Lagen sind eine vernachlässigte Bausubstanz und geringere Instandhaltungen der Gebäude und Wohnungen zu konstatieren. Diese treten ebenso wie defizitäre Infrastrukturen in den Quartieren häufiger auf: Es fehlt an differenzierten Angeboten für Waren des täglichen Bedarfs, besonders jedoch an kulturellen Angeboten. Gründe für die unbefriedigende Situation sind die mangelnde Kaufkraft, aber auch die geringe öffentliche Artikulations- und Verhandlungsmacht statusschwacher Gruppen. Außerdem kann die Anbindung an die Möglichkeiten und Angebote der restlichen Stadt durch schlecht ausgebauten oder frequentierten öffentlichen Nahverkehr gerade in randstädtischen Siedlungen erschwert sein. Doch selbst in innenstadtnahen Lagen sind Quartiere teilweise stark von Gewerbegebieten und Verkehrsachsen eingekapselt, sodass, wie beispielsweise im Kasseler Rothenditmold oder Frankfurter Gutleutviertel, Mobilitätsbarrieren bestehen. Die Aktivitätsräume der statusschwachen Bewohner, die sich unter anderem aufgrund ihrer geringen finanziellen Möglichkeiten ohnehin kleinflächiger gestalten, werden durch derartige Mobilitätsbarrieren zusätzlich eingeschränkt.
Resümierend lässt sich sagen, dass das Wohnen in einem benachteiligten Quartier eher zu einer Verfestigung benachteiligter Lebenslagen beiträgt – auch wenn nicht nur Restriktionen, sondern ebenso Potenziale existieren. Letztere bestehen beispielsweise darin, dass sich Unterstützungsnetzwerke zwischen Bewohnern ausbilden und dass das Quartier als ein Schutzraum erlebt wird, in dem man intern weniger Diskriminierungen aufgrund eines geringen sozialen Status und/oder eines Migrationshintergrundes ausgesetzt ist.
Weiterführende Literatur und Links
Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen (IAQ) 2014: Empfängerquoten der Grundsicherung für Arbeitsuchende in ausgewählten Städten und Kreisen Deutschland 02/2014 Externer Link: http://www.sozialpolitik-aktuell.de/sozialstaat-datensammlung.html#empfaenger-1789
direkter Link: Externer Link: http://www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Arbeitsmarkt/Datensammlung/PDF-Dateien/abbIV72.pdf (PDF)
Vaskovics, Laszlo A. 1976: Segregierte Armut. Randgruppenbildung in Notunterkünften. Frankfurt/ New York Wensierski, Peter: Endstation Neukölln, Der Spiegel, 43/1997 (Externer Link: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8805068.html)
Teltemann, Janna; Dabrowski, Simon; Windzio, Michael 2015: Räumliche Segregation von Familien mit Migrationshintergrund in deutschen Großstädten: Wie stark wirkt der sozioökonomische Status?. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 1, JG. 67, 2015, Seite 83-103