In den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts begann die Bundesrepublik Deutschland, im großen Stil sogenannte Gastarbeiter anzuwerben. Das Wirtschaftswunder nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte dazu geführt, dass die junge, aufstrebende Republik immer mehr Arbeitskräfte brauchte. Auf dem inländischen Markt waren sie nicht länger zu finden. Die Idee war, Arbeitskräfte auf Zeit ins Land zu holen.
So schloss die damalige Regierung unter Konrad Adenauer am 20. Dezember 1955 mit Italien das erste Anwerbeabkommen ab. Es folgten Verträge mit Griechenland und Spanien (1960), der Türkei (1961), Marokko und Südkorea (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und dem ehemaligen Jugoslawien (1968). Besonders viele Menschen kamen damals aus der Türkei: Zwischen 1961 und 1973 bewarben sich mehr als zweieinhalb Millionen Türkinnen und Türken um eine Arbeitserlaubnis in Deutschland. Jeder Vierte von ihnen, rund 625.000 Menschen, wurde aufgenommen.
Die Zugereisten waren allgemein willkommen, auch wenn ihr Aufenthalt temporär gedacht war und sie keine Chance auf Einbürgerung hatten. Der millionste Gastarbeiter, Armando Rodrigues de Sá, wurde im Jahr 1964 sogar von Bundesinnenminister Hermann Höcherl mit einer feierlichen Zeremonie am Bahnhof Köln-Deutz begrüßt. Der 38-jährige Portugiese erhielt nicht nur einen Strauß Nelken und eine Ehrenurkunde, sondern auch ein zweisitziges Moped der Firma Zündapp.
Doch schon die ersten Anzeichen einer Rezession zwei Jahre später lösten Diskussionen aus, ob die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte nicht wieder zu verringern sei. Die Arbeitslosigkeit nahm zu und die Deutschen bangten plötzlich um Arbeit und Wohlstand. Im Jahr 1973 führte die sich abzeichnende Öl- und Wirtschaftskrise schließlich dazu, dass die Regierung unter Bundeskanzler Willy Brandt einen Anwerbestopp verhängte.
Der Effekt war ein anderer als gedacht: Zwar sank in den Folgejahren die Zahl der zugewanderten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, doch die Zahl der in Deutschland lebenden Menschen nichtdeutscher Herkunft stieg. Denn viele der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten holten jetzt ihre Familien nach Deutschland und beschlossen, hier zu bleiben.
Deutschland braucht Fachkräfte
Seit einigen Jahren ist Deutschland erneut auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. Doch die Gründe sind diesmal andere: Der demografische Wandel sowie Defizite bei der Aus- und Fortbildung von Beschäftigten haben unter anderem dazu geführt, dass hierzulande junge, gut ausgebildete Menschen zunehmend fehlen. Immer mehr Unternehmen beklagen, dass sie offene Stellen nicht mehr adäquat besetzen können. Vor diesem Hintergrund kündigte bereits im Jahr 2000 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder während der internationalen Computermesse CeBIT in Hannover an, eine deutsche Greencard einzuführen. Ziel dieser Maßnahme sollte es sein, ausländische Expertinnen und Experten auf dem Gebiet der Informationstechnologien (IT) mit möglichst geringem bürokratischem Aufwand ins Land zu holen.
Bis zum Auslaufen des Programms Ende 2004 folgten dem Ruf knapp 18.000 IT-Experten. Auch wenn der Erfolg der Initiative umstritten blieb, setzte diese doch eine breite Diskussion in Gang, die letztlich den Weg für ein neues Zuwanderungsgesetz ebnete. Das 2005 in Kraft getretene Regelwerk ermöglicht es ausländischen IT-Fachkräften bis heute, ohne größere bürokratische Hürden nach Deutschland einzuwandern. Darüber hinaus konnten nun ausländische Studierende nach Abschluss ihres Studium in Deutschland bleiben.
Die Zahl der erwerbsfähigen Menschen in Deutschland wird schrumpfen
Aktuell wird für Deutschland kein allgemeiner Fachkräftemangel festgestellt. An einem drohenden Fachkräftemangel, vor allem in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, den sogenannten MINT-Fächern, hat sich allerdings noch immer wenig geändert. In den kommenden Jahren werde Deutschland voraussichtlich eine verstärkte Zuwanderung von Fachkräften und Hochqualifizierten benötigen, um negative Auswirkungen eines drohenden Fachkräftemangels auf Produktivität und Wachstum abzumildern, heißt es im Demografiebericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2011. Einer Analyse des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) zufolge fehlten 2015 in Deutschland rund 164.000 Fachkräfte in technischen Berufen. Ohne die Zuwanderung der vorangegangenen Jahre etwa aus Polen, Russland, Indien und Spanien wären es sogar mehr als 200.000 gewesen.
Einer der Gründe für die absehbar sinkende Zahl zur Verfügung stehender Arbeitskräfte ist die seit Mitte der 1970er Jahre stagnierende Geburtenrate in Deutschland. Hatten Frauen in den 1960er Jahren noch im Durchschnitt zwei bis drei Kinder zur Welt gebracht, waren es ein Jahrzehnt später nur noch durchschnittlich 1,4 Kinder. An dieser Zahl hat sich bis heute wenig geändert: Im Jahr 2011 beispielsweise lag die Geburtenrate pro Frau bei 1,36 Kindern. Zwar ist sie seitdem wieder leicht angestiegen, auf 1,5 Kinder im Jahr 2015; Um die Bevölkerungszahl konstant zu halten, wären jedoch 2,1 Kinder je Frau nötig, so das Statistische Bundesamt. Außerdem altert Deutschland zunehmend, und die Zahl der Sterbefälle übersteigt die Zahl der Geburten.
Diese Trends, so viel steht jetzt schon fest, werden sich in den kommenden Jahren fortsetzen. Nach den Prognosen des Statistischen Bundesamtes werden im Jahr 2060 nur noch 68 bis 73 Millionen Menschen in Deutschland leben. Das wäre ein Verlust von bis zu einem Sechstel der Einwohnerinnen und Einwohner innerhalb von 45 Jahren. Damit geht auch ein Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter einher. (Das ist in den Berechnungen des Statistischen Bundesamts die Zeitspanne vom 21. bis zum 65. Lebensjahr.) Noch gehören knapp 49 Millionen Menschen in Deutschland dieser Altersgruppe an. Nach 2020, so schätzen Experten, wird deren Zahl jedoch deutlich zurückgehen und schon 2030 nur noch zwischen 44 und 45 Millionen liegen.
Zwar plant die Bundesregierung, bei der Suche nach Fachkräften zunächst das Potenzial im eigenen Land zu nutzen. So sollen vor allem Bedingungen geschaffen werden, um Frauen und ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verstärkt am Erwerbsleben teilnehmen zu lassen. Nichtsdestotrotz setzt die Regierung weiterhin auf eine verstärkte Zuwanderung gut qualifizierter ausländischer Fachkräfte.
Ohnehin ist Deutschland inzwischen zum beliebtesten Einwanderungsland Europas geworden. Einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aus dem Jahr 2014 zufolge nimmt die Bundesrepublik auf der Liste der begehrtesten Zielländer unter den 34 Industrieländern, die der Organisation angehören, bereits Platz zwei ein – hinter den USA und noch vor den klassischen Einwanderungsländern Kanada, Australien oder auch Großbritannien.
Zuwanderung auf Rekordniveau
Dass Deutschland so begehrt ist, hat seinen Grund. Immerhin steht die größte Volkswirtschaft im Euro-Raum vergleichsweise gut da: Deutsche Unternehmen gelten als hochgradig wettbewerbsfähig und ihre Produkte sind auf der ganzen Welt beliebt. Und dass der deutsche Arbeitsmarkt eine Menge Chancen bietet, scheint sich inzwischen ebenfalls herumgesprochen zu haben. Seit Beginn der Wirtschaftskrise in Teilen Europas im Jahr 2008 kommen wieder vermehrt Ausländerinnen und Ausländer nach Deutschland. Seit 2010 ist der Wanderungssaldo positiv, das heißt: Mehr Menschen ziehen nach Deutschland als das Land verlassen. Viele von ihnen sind Migrantinnen und Migranten aus krisengeschüttelten Mittelmeerländern des Euro-Raums. So kamen Beispielsweise im Jahr 2012 viele Menschen aus Spanien, Griechenland und Italien. Im Jahr 2015 gab es zudem eine äußerst hohe Zahl an schutzsuchenden Menschen, die vor allem aus Konfliktregionen im Nahen und Mittleren Osten sowie in geringerem Maße aus afrikanischen Staaten nach Deutschland geflohen sind.
Nach vorläufigen Ergebnissen des Statistischen Bundesamts kamen 2015 insgesamt ca. 2 Millionen Menschen mit ausländischem Pass nach Deutschland. Knapp 860.000 Ausländer verließen das Land, so dass im Saldo rund 1,16 Millionen ausländische Personen nach Deutschland gezogen sind. 45 Prozent der 2015 Zugewanderten stammten aus anderen EU-Ländern. Der hohen Zahl an Zuzügen aus EU-Ländern nach Deutschland stand dabei eine ebenfalls hohe Zahl von Menschen gegenüber, die in EU-Länder abgewandert sind. EU-Bürgerinnen und -Bürger sind in der Regel ohne weiteres dazu berechtigt, in Deutschland zu arbeiten. Andere Nicht-Deutsche benötigen dafür einen Aufenthaltstitel, der von den Ausländerbehörden ausgestellt werden kann. Wie viele der in den vergangenen Jahren nach Deutschland gezogenen Menschen letztlich dauerhaft im Land leben werden, ist derzeit nicht absehbar.
Vielfach gehören Menschen mit Migrationshintergrund nicht zu den Hochqualifizierten. Etwas mehr als 13 Prozent von ihnen besaßen 2015 keinen allgemeinen Schulabschluss und rund 38 Prozent keinen berufsqualifizierenden Abschluss. Zum Vergleich: Unter den in Deutschland lebenden Menschen ohne Migrationshintergrund fanden sich im gleichen Jahr nur knapp 1,7 Prozent ohne Schulabschluss und rund 14 Prozent ohne berufsqualifizierenden Abschluss. Auf der anderen Seite jedoch war der Anteil an Menschen, die einen Fachhochschul- oder einen Hochschulabschluss in der Tasche hatten, in der Gruppe der Ausländerinnen und Ausländer mit eigener Migrationserfahrung höher als in der Gruppe der Deutschen ohne Migrationshintergrund.
Erste Erkenntnisse über den Bildungsstand der in den vergangenen Jahren nach Deutschland gekommenen Schutzsuchenden besagen, dass ihre Ausbildungsstände äußerst heterogen sind. Einerseits verfügen viele Menschen, die aus Syrien, dem Iran oder aus Balkanstaaten stammen, über eine stringente Bildungsbiografie. Andererseits gibt es eine Gruppe vergleichsweise schlecht ausgebildeter Menschen, die sich bereits in der zweiten Generation auf der Flucht befinden oder Minderheiten angehören, die in den Heimatländern unter Diskriminierung beim Zugang zu Bildungschancen gelitten haben.
Hilfe zur Integration
Selbst die aktuelle Bevölkerungszunahme durch hohe Zuwanderung kann wahrscheinlich langfristig nicht verhindern, dass die Bevölkerung hierzulande schrumpft. Und anders als in den 1960er Jahren, in denen Deutschland vor allem Arbeiterinnen und Arbeiter brauchte, die sich auch für schwere und körperlich anstrengende Aufgaben nicht zu schade waren, ringt man inzwischen vor allem um hoch ausgebildete Akademikerinnen und Akademiker – und das auf der ganzen Welt.
In diesem globalen Wettbewerb zielen viele Integrationspolitikerinnen und Integrationspolitiker darauf ab, Deutschland zu einem attraktiven Ziel für Zuwanderer zu machen. Den Migrantinnen und Migranten soll eine gleichberechtigte Teilhabe am wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben ermöglicht werden. Zugleich will man die Integration und den sozialen Zusammenhalt stärken. Im September 2010 verabschiedete die damalige Bundesregierung erstmalig ein bundesweites Integrationsprogramm. Seither können und sollen alle bereits in Deutschland lebenden und neu zuwandernde Ausländer an einem Integrationskurs teilnehmen, der ihnen in – je nach Bedarf – 430 bis 1000 Unterrichtsstunden die deutsche Sprache, Kultur und Rechtsordnung nahebringen soll. Zur Bewältigung der Flüchtlingssituation stockte die Bundesregierung die Mittel für Sprachkurse und Integrationsprogramme zuletzt weiter auf.
Alle nützlichen Informationen für Fachkräfte aus dem Ausland bündelt das Willkommensportal Externer Link: Make it in Germany. Es ist Teil der so genannten Fachkräfte-Offensive, die das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie die Bundesagentur für Arbeit im Sommer 2012 gestartet haben. Zwar gebe es in Deutschland keinen flächendeckenden Fachkräftemangel, es gelte jedoch Engpässen in einzelnen Regionen, Branchen und Berufen entgegenzuwirken.
Eines ist sicher: Deutschland wird sich im globalen Wettbewerb um die klügsten Köpfe anstrengen müssen. Zugleich muss es sich der Herausforderung stellen, allen, die kommen, zumindest die Chance auf eine gute Ausbildung geben zu können. Nur so kann die deutsche Wirtschaft den demografischen Wandel für sich nutzen.