bpb.de: Wie war die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt vor der Corona-Krise?
Lena Becher: Vor der Corona-Krise war der Arbeitsmarkt in einer sehr guten Verfassung: Es gab eine
Arbeitslose und Arbeitslosenquote (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Arbeitslose und Arbeitslosenquote (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Nichtsdestotrotz gab es auch vorher bereits Probleme, die durch die insgesamt positive Lage allerdings nicht so stark ins Gewicht fielen. So sank die Nachfrage nach Arbeitskräften schon vor der Krise aufgrund der schwächelnden Konjunktur, was sich zum Beispiel an einem leichten Anstieg der Kurzarbeit und einer sinkenden Nachfrage nach Leiharbeit zeigte. Ein weiterer problematischer Faktor ist der hohe Anteil an Minijobberinnen und -jobbern, Teilzeitkräften und Soloselbstständigen, die sehr wenig oder gar nicht in soziale Sicherungssysteme eingezahlt haben.
Hinzu kommen externe Faktoren, die den Arbeitsmarkt unter Druck setzen:
Welche Branchen und Arbeitsformen sind aktuell besonders gefährdet?
Neben dem Hotel- und Gaststättengewerbe, der Reisebranche und dem Kulturbereich ist die Corona-Krise insbesondere für kleine Einzelhandelsunternehmen problematisch, die keine Produkte des täglichen Bedarfs verkaufen, beispielsweise Buchhandlungen oder Boutiquen. Diese Unternehmen standen schon vorher in starker Konkurrenz zum Onlinehandel und haben nun möglicherweise nicht die nötigen Rücklagen, um einen längeren Einnahmeausfall von bis zu 100 Prozent wirtschaftlich zu überleben.
Als Arbeitsformen sind insbesondere geringfügig Beschäftigte und Soloselbständige gefährdet und auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit befristeten Verträgen. Diese zu entlassen oder den Arbeitsvertrag auslaufen zu lassen, ist für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber verhältnismäßig einfach umsetzbar.
Was bedeutet die Situation für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber?
Lena Becher ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung der Hochschule Koblenz.
(© Adrian Engel)
Lena Becher ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung der Hochschule Koblenz.
(© Adrian Engel)
Wenn Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber Einnahmeausfälle haben, stehen sie unter hohem Druck, ihre Kosten senken zu müssen. Personalkosten sind dabei ein großer Faktor. Unternehmen, die ihr Geschäft komplett schließen mussten, müssen daher abwägen: Kann man das Personal halten? Oder muss man Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlassen, damit das Unternehmen wirtschaftlich überleben kann?
Viele Unternehmen und Einrichtungen müssen versuchen, den Normalbetrieb möglichst aufrechtzuerhalten und zugleich das Personal präventiv zu schützen. Das kann bedeuten, dass das Personal so sparsam eingesetzt wird, dass es sich nicht gegenseitig ansteckt und dann ausfällt. Die notwendigen Hygienemaßnahmen sind mit weiteren Kosten verbunden, etwa für Umbaumaßnahmen oder Schutzausrüstung wie Gesichtsmasken, Handschuhe oder Glasscheiben, die installiert werden müssen.
Die bekannteste arbeitsmarktpolitische Maßnahme ist zurzeit das
Das Instrument des Kurzarbeitergeldes bricht das Spannungsverhältnis auf, zugleich Personal halten und das Überleben des Unternehmens sichern zu wollen. Es soll unmittelbar krisenbedingte Entlassungen möglichst vermeiden, indem die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber weniger Lohn zahlen müssen und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Ersatzleistungen erhalten. Das Kurzarbeitergeld können aber nur sozialversicherungspflichtig Beschäftigte erhalten: Minijobberinnen und -jobber sowie Soloselbständige gehen leer aus.
Ein großer Vorteil am Kurzarbeitergeld ist, dass Unternehmen, sobald die Kontaktbeschränkungen gelockert werden, relativ schnell in den Normalbetrieb zurückkehren können, ohne wertvolle Zeit damit zu verbringen, neues Personal zu rekrutieren. Dies hat sich nach der Finanzkrise 2008/2009 sehr bewährt.
Wie viele sind derzeit in Kurzarbeit?
Laut Bundesagentur für Arbeit gab es Ende April über 10 Millionen Kurzarbeiterinnen und Kurzarbeiter, 750.000 Unternehmen haben Kurzarbeit angemeldet. Das sind historische Werte. Um das am Beispiel der Gastronomie zu verdeutlichen: Dort waren Ende April bis zu 93 Prozent in Kurzarbeit – also 9 von 10 Beschäftigten. Das heißt, sie haben zwar ihre Stelle nicht verloren, aber eben auch nicht ihren gesamten Lohn erhalten. Für manche bedeutet das, dass sie zusätzlich Sozialleistungen beziehen müssen, um nicht unter dem Existenzminimum zu leben.
Um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu unterstützen, hat der
Wie lange kann diese Strategie funktionieren?
Kurzarbeit funktioniert, solange der Bund zahlt und die Unternehmen die Krise überleben. Eine erste Umfrage des Ifo Instituts in München zeigt aber, dass Kurzarbeitergeld für die meisten Unternehmen keine langfristige Strategie darstellt: Nur etwa die Hälfte würde mehr als sechs Monate überstehen. Falls die Krise andauert, würden die Arbeitsplätze also dauerhaft verloren gehen.
Kehren wir nach der Corona-Krise zum alten Modell zurück? Oder stößt die Corona-Krise auch Reformdiskussionen an?
Wenn man über die Corona-Krise und den Arbeitsmarkt spricht, gibt es aktuell zwei Argumentationsstränge: Beim ersten werden kleine Veränderungen am bestehenden System favorisiert. Das bedeutet zum Beispiel, dass man an den Instrumenten Kurzarbeitergeld und Arbeitslosengeld festhalten und nur einzelne Stellschrauben verändern will, etwa die Höhe der Leistungen oder die Bezugsdauer.
Der zweite Argumentationsstrang stellt die Systemfrage. Dabei wird dann oft auf das
Welche arbeitsmarktpolitischen Strategien gibt es auf europäischer Ebene?
Die EU und ihre Institutionen wie die
Wenn die Nationalstaaten der EU ihre Grenzen schließen, ist allerdings die
Welche langfristigen Folgen hat die Corona-Krise für den Arbeitsmarkt?
Die Corona-Krise setzt den Arbeitsmarkt enorm unter Druck und verstärkt existierende Problembereiche – als würde man ein Brennglas auf den Arbeitsmarkt halten. Man könnte ganz allgemein sagen: Einige Unternehmen, die im Zuge der Corona-Krise nicht überleben werden, sind nicht zukunftsfähig. Das klingt zynisch, kann aber heißen, dass Platz für Unternehmen entsteht, die zukunftsfähig sind. Optimistisch formuliert: Wo viel kaputt geht, kann viel Neues entstehen. Aber nicht nur Unternehmen müssen sich verändern, sondern auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Die Hoffnung ist, dass auf den Ab- auch wieder ein Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt folgt. Das ist am Arbeitsmarkt mit Blick auf Konjunkturzyklen eine normale Entwicklung. Unklar ist, an welchem Punkt wir uns befinden. Bleiben wir eine Weile im Tal? Oder wird es durch Lockerungen und erneute Beschränkungen ein längeres Auf und Ab geben, was den Arbeitsmarkt vor die Herausforderung stellt, besonders flexibel zu agieren.
Die Frage ist, ob sich der Arbeitsmarkt durch die Corona-Krise so stark verändert, dass am Ende das sogenannte
Inwieweit kann Homeoffice dabei eine zukunftsfähige Lösung für den Arbeitsalltag von morgen sein?
Unmittelbar hat es einen großen Schritt in Richtung Digitalisierung gegeben. Der Anteil derjenigen, die im Homeoffice arbeiten, hat sich von 12 auf 25 Prozent mehr als verdoppelt. Das erhöht nicht nur für die Unternehmen den Druck, die digitale Infrastruktur für Heimarbeit zu schaffen, sondern spiegelt sich in der aktuell politisch diskutierten Frage, ob ein Recht auf Homeoffice gesetzlich verankert werden soll.
Homeoffice kommt aber nicht für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer infrage. Als Pflegefachkraft, als Kassiererin oder Kassierer im Einzelhandel beispielsweise können Sie nicht zu Hause arbeiten. Zudem gibt es Bedenken, dass die Arbeit im Homeoffice zu einer Vermischung zwischen Privat- und Arbeitsleben führt, also sodass beispielsweise Arbeits- und Ruhezeiten nicht korrekt nachgehalten werden. Eine andere Schattenseite ist, dass vor allem Frauen, die im Homeoffice tätig sind, eine zusätzliche Belastung durch unbezahlte
Was verändert sich für die Beschäftigten, die derzeit als systemrelevant bezeichnet werden?
Personen, die für das tägliche Funktionieren unseres Gesellschaftssystems zuständig sind und vorher teils nicht gesellschaftlich wahrgenommen wurden, geraten durch die Corona-Krise in den Fokus der Öffentlichkeit. Das betrifft beispielsweise Beschäftigte im Einzelhandel, in der Lagerei und der Logistik, saisonale Arbeitskräfte, Pflegerinnen und Pfleger oder medizinisches Personal. Nun wird auch über die Arbeitsbedingungen in diesen Berufsgruppen gesprochen – und die sind nicht gut: Die Löhne sind niedrig, die Arbeit anstrengend. Vielfach sind davon Frauen betroffen. Zugleich ist in diesen Berufsgruppen der Organisationsgrad, beispielsweise mit Blick auf die Mitgliedschaft in Gewerkschaften, häufig sehr niedrig.
Wir können meiner Meinung nach daher nicht davon ausgehen, dass das aktuelle gesellschaftliche Bewusstsein für die Relevanz dieser Berufe zu langfristigen, greifbaren Verbesserungen der Arbeitsbedingungen führt. Es besteht eher die Gefahr, dass nach der Corona-Krise eine Art globale Amnesie einsetzt und über diese Beschäftigten nicht mehr gesprochen wird.
Das Interview führte Julia Günther. Redaktion: Frederik Schetter, André Nagel
Dossier:
Interner Link: Arbeitsmarktpolitik Friederike Hardering:
Interner Link: Zur Zukunft der Arbeit (APuZ 2017)