Jeder moderne Nationalstaat betreibt Sozialpolitik; zum Sozialstaat machen ihn aber erst deren Reichweite, Qualität und Quantität. Während in anderen Ländern dafür üblicherweise der Begriff „Wohlfahrtsstaat“ (welfare state) verwandt wird, ist in Deutschland zumindest in der politischen Diskussion nach wie vor der Begriff „Sozialstaat“ üblicher. Beide Begriffe werden im Folgenden synonym genutzt, auch wenn einzelne Wissenschaftler versucht haben, die Begriffe voneinander abzugrenzen.
Der Sozialstaat ist in der heutigen Zeit ein gemeinsames Strukturelement aller Demokratien. Allerdings sind die Sozialstaaten noch sehr jung. In einem Überblick wird aufgezeigt, wann die Anfänge staatlicher Sozialpolitik waren.
Eine wichtige Rolle in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatforschung nehmen Ländervergleiche ein. Die einzelnen Wohlfahrtsstaaten unterscheiden sich u.a. hinsichtlich der Leistungsdichte, der Anspruchsvoraussetzungen, und der Art, wie Sozialleistungen finanziert und erbracht werden. Früher wurden die Wohlfahrtsstaaten in einen Bismarck- und Beveridge-Typ unterschieden. Seit den 1990er Jahren hat sich eine Unterteilung in drei Typen etabliert: liberale Modelle, konservative Modelle und sozialdemokratische Modelle. Es wird gezeigt, welchen Hintergrund diese Aufteilung hat und welche Länder welchem Modell zugeordnet werden.
Der Sozialstaat besitzt in Deutschland einen großen Rückhalt bei der großen Mehrheit der Bevölkerung. Argumentiert wird aber auch, dass der Sozialstaat zu teuer geworden sei. Die zeitliche Entwicklung und ein internationaler Vergleich runden daher diesen Beitrag ab. Verweisen möchten wir zudem auf ausführlichere Überblicke zum Sozialstaat auf anderen Seiten der Bundeszentrale, z.B. hier.
Seit wann gibt es staatliche Sozialpolitik?
Die Entwicklung des modernen Wohlfahrtsstaates hat vor rund 125 Jahren mit der Entwicklung staatlicher Sozialversicherungssysteme in Westeuropa ihren Anfang genommen. Die im Deutschen Kaiserreich unter dem Kanzler Otto von Bismarck geschaffenen Kranken-, Unfall- und Rentenversicherungen waren weltweit die ersten Leistungen dieser Art. Deutschland war also im Bereich der Sozialpolitik weltweit Vorreiter, viele europäische Länder folgten diesem Beispiel. Nationale Gesetze zur Arbeitslosenversicherung wurden in den meisten europäischen Ländern während des ersten Fünftels des 20. Jahrhunderts verabschiedet. Bei diesem Versicherungszweig war Deutschland eher ein „Nachzügler“; Vorreiter war hier Frankreich.
Verfassung und Sozialordnung
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland fordert in Artikel 20, Abs. 1 den Sozialstaat. Konkret verankert sind im Grundgesetz allerdings nur sehr wenige Sozialrechte. Diese sind die Garantie der Koalitionsfreiheit (Art. 9, Abs. 3 GG), die die Bildung von Gewerkschaften verfassungsrechtlich absichert, sowie das Recht der freien Berufswahl und der freien Wahl des Arbeitsplatzes (Art. 12, Abs. 1).
Kodifiziert ist das Sozialrecht im Sozialgesetzbuch. Das Sozialgesetzbuch (SGB) wurde eingeführt, um das Sozialrecht übersichtlicher zu gestalten. Startpunkt war im Jahr 1975 der Allgemeine Teil als Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I). Das SGB wird fortlaufend weiterentwickelt. So wird aktuell das SGB XIV implementiert, das bis zum 1. Januar 2024 schrittweise das Recht der sozialen Entschädigung neu regelt. Das Sozialgesetzbuch gliedert sich aktuell wie folgt:
SGB I – Allgemeiner Teil
SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende
SGB III – Arbeitsförderung
SGB IV – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung
SGB V – Gesetzliche Krankenversicherung
SGB VI – Gesetzliche Rentenversicherung
SGB VII – Gesetzliche Unfallversicherung
SGB VIII – Kinder und Jugendhilfe
SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen
SGB X – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz
Eine wesentliche Hilfe bei der Durchsetzung des Rechtsanspruchs im Einzelfall versprechen die Regelungen in den §§ 13, 14 und 15 des SGB I. Hier werden alle Leistungsträger der sozialen Sicherung zur Aufklärung, Beratung und Auskunft verpflichtet.
Grundmodelle der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung
Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Typen von Wohlfahrtsstaaten besser herausstreichen zu können, wurden die einzelnen Staaten verschiedenen Gruppen zugeordnet. Diese Gruppen oder Idealtypen von Wohlfahrtsstaaten vereinigen Länder, deren Sozialpolitik ähnlich strukturiert ist. Natürlich passt kein Staat wirklich hundertprozentig in eine dieser Gruppen, denn die meisten Staaten sind Mischsysteme.
Die ältere vergleichende Wohlfahrtsforschung unterschied in der Regel zwei Systeme: Bismarck- und Beveridge Systeme. Der Bismarck-Typ stützt sich auf beitragsfinanzierte Sozialversicherungen, die für gewöhnlich an die (abhängige) Erwerbsarbeit gekoppelt sind, der Beveridge-Typ auf eine steuerfinanzierte Mindestsicherung für alle Staatsbürger.
In Deutschland hatte Bismarck Ende des 19. Jahrhunderts ein Sozialsystem geschaffen, das im Wesentlichen durch Beiträge der Arbeitnehmer und ihrer Arbeitgeber finanziert wird und dessen Leistungen sich danach richten, wie viele und wie hohe Beiträge gezahlt werden. Über diese leistungsorientierte Art des Sozialsystems verfügen in Europa neben Deutschland vor allem Frankreich und Italien.
William Beveridge, der als Leiter einer Sachverständigenkommission dem britischen Parlament im November 1942 seinen Bericht zur Reform des Sozialversicherungssystems vorstellte, setzte dagegen viel stärker auf eine steuerfinanzierte Grundversorgung für alle, die durch Eigenleistungen ergänzt werden sollte. Über diese bedürfnisorientierte Art des Sozialsystems verfügen in Europa neben Großbritannien vor allem die skandinavischen Länder.
Das traditionelle deutsche Sozialversicherungssystem stand in der Phase der alliierten Besatzungsherrschaft (1945-1949) dicht am Rande eines tiefgreifenden Kontinuitätsbruchs. Entwürfe der Alliierten für ein deutsches Sozialsystem orientierten sich eher am Beveridge Modell und fanden Unterstützung bei Gewerkschaften, Sozialdemokraten und Kommunisten. Allerdings verzichteten die Alliierten dann auf Entscheidungen und überließen diese dem ersten deutschen Bundestag. Mit CDU/CSU, FDP und DP (Deutsche Partei) bildeten Parteien die Regierungskoalition, die übereinstimmend entschlossen waren, die Grundlagen der traditionellen deutschen Sozialversicherung wiederherzustellen.
Die aktuell bekannteste und am häufigsten verwendete Unterscheidung stammt vom dänischen Soziologen Gøsta Esping-Andersen. Dieser unterscheidet drei Typen: liberale, konservative und sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten. Die Kategorisierung orientiert sich dabei an der Logik des Verhältnisses zwischen Staat und Markt in der Bereitstellung sozialer Leistungen, an Modus und Qualität der Leistungen und an der Wirkung von Sozialpolitik auf soziale Schichtung und gesellschaftliche Machtverteilung.
Die konservativen (oder kontinentaleuropäischen) Wohlfahrtsstaaten sind danach durch das Bismarcksche Sozialversicherungsmodell geprägt. Versicherungsleistungen stehen hier im Vordergrund. Die starke Verbindung von Lohnarbeit mit sozialen Ansprüchen führt dazu, dass Frauen, die nicht im Erwerbsleben stehen, häufig ausgeschlossen werden. Die umverteilende Wirkung von Sozialleistungen ist bei diesem Typ gering. Beispiele für diesen Typ sind Länder wie Deutschland, Frankreich und Österreich.
Sozialdemokratische (oder skandinavische) Wohlfahrtsstaaten werden durch universale Leistungen charakterisiert. Es wird Gleichheit auf hohem Niveau angestrebt und die Anspruchsgrundlage bilden soziale Bürgerrechte. Die Leistungen werden überwiegend aus relativ hohen Steuern finanziert und treiben die Dekommodifizierung voran. Beispiele für diesen Typ sind die skandinavischen Länder Schweden, Norwegen, Dänemark und Finnland.
Das liberale (oder angelsächsische) Wohlfahrtsstaatsmodell betont vor allem die Rolle des freien Marktes und der Familie. Es ist überwiegend steuerfinanziert, Transferleistungen sind i. d. R. bedürftigkeitsgeprüft. Die Anspruchsvoraussetzungen sind streng und die Leistungen niedrig. Beispiele für diesen Typ sind Kanada, die USA, Großbritannien, Australien und die Schweiz.
Inzwischen neigt die Forschung dazu, die Esping-Andersen-Typologie um zwei weitere Typen zu erweitern: Zum einen um rudimentäre (oder mediterrane) Wohlfahrtsregime, die durch eine Dominanz des landwirtschaftlichen Sektor gekennzeichnet sind und in denen der Wohlfahrtsstaat und das Dekommodifizierungsniveau nur gering ausgeprägt sind (Beispiele sind Italien und Portugal), zum anderen um die postsozialistischen Wohlfahrtsstaaten, die in den transformatorischen politischen Systemen Osteuropas vorherrschen.
Wer finanziert den Sozialstaat?
Der deutsche Sozialstaat wird zu knapp 40 Prozent aus Steuern und zu 60 Prozent aus Versicherungsbeiträgen finanziert. Mit Ausnahme der Gesetzlichen Unfallversicherung wurden bis Mitte der 1990er Jahre alle Versicherungszweige hälftig von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert. Mit der Einführung der Pflegeversicherung änderte sich dies, da die Arbeitnehmenden zur Finanzierung auf einen Feiertag verzichten mussten.
Die Finanzierungsanteile müssen bis zu einer so genannten Beitragsbemessungsgrenze entrichtet werden. Für den Teil der Einnahmen, der die Beitragsbemessungsgrenze übersteigt, müssen keine Beiträge geleistet werden. Dies hat den Effekt, dass dieser Personenkreis einen geringeren prozentualen Anteil seiner Einnahmen in die sozialen Sicherungssysteme zahlt als andere.
Ist der Sozialstaat zu teuer?
Auffallend häufig betonen Personen aus Politik, Medien und auch Wissenschaft, dass der deutsche Sozialstaat so teuer geworden ist, dass er die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands gefährde. Um die verbreiteten Behauptungen zu überprüfen, bieten sich zwei Untersuchungsmethoden an: ein internationaler und ein interner historischer Vergleich.
Im Jahr 2018 wurden für Sozialleistungen insgesamt 996 Mrd. Euro ausgegeben. Die Sozialausgaben in Deutschland teilen sich wie folgt auf die einzelnen Bereiche auf:
Betrachtet man die Entwicklung der Sozialleistungsquote (ab 1991 Gesamtdeutschland) so zeigt sich, dass diese insgesamt im Trend steigt, aber mit leichten Schwankungen seit etwa zwanzig Jahren konstant ist, auch wenn in den Medien oder in der Politik häufig ein anderes Bild vermittelt wird.
Daten von Eurostat ermöglichen einen internationalen Vergleich. Im Gegensatz zu den Daten des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sind hier steuerliche Begünstigungen nicht berücksichtigt, so dass sich die Daten unterscheiden. Deutschland liegt bei der Betrachtung der Sozialleistungsquoten im Mittelfeld.
Ein häufig vorgetragenes Argument lautet, dass der Standort Deutschland wegen zu hoher Lohnnebenkosten seine Wettbewerbsfähigkeit verliere. Der Begriff der Lohnnebenkosten entstammt einer vom Statistischen Bundesamt übernommenen Übereinkunft der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 1966, wonach sich die Arbeitskosten insgesamt zusammensetzen aus:
Direktvergütungen,
Vergütung arbeitsfreier Zeiten,
Sonderzahlungen,
Naturalleistungen,
Aufwendungen für Wohnungsfürsorge,
Arbeitgeberaufwendungen für die soziale Sicherheit,
Aufwendungen für die berufliche Aus- und Weiterbildung,
Kosten für Belegschaftseinrichtungen,
sonstigen Arbeitskosten sowie
Steuern, die als Arbeitskosten gelten.
Als Lohnnebenkosten werden praktisch alle Kosten außer den Direktvergütungen bezeichnet, d.h. weit mehr als nur die Sozialversicherungsabgaben.
Die Lohnnebenkosten können die Arbeit deutlich verteuern. Um ihren Beitrag zu den gesamten Arbeitskosten unabhängig vom Lohnniveau eines Landes darzustellen, kann die Relation zwischen Lohnnebenkosten und Bruttolöhnen- und –gehältern betrachtet werden.
QuellentextHartmut Reiners
„Auch in personalintensiven Betrieben schlagen die Sozialabgaben nicht so zu Buch wie allgemein behauptet. Die Handwerkskammern in Bayern veranschlagten 2003 die Kosten für eine Handwerkerstunde auf 43 Euro. Davon sind 4,70 Euro (= 10,9 Prozent) Sozialabgaben (Rest: 13,60 Euro Betriebskosten und Gewinn, 12,30 Euro Bruttolohn, 6,50 Euro tarifliche und freiwillige Sozialleistungen und 5,90 Euro Mehrwertsteuer). Würde man die Sozialabgaben (…) um zwei Prozentpunkte senken, würde dies die Kosten einer Handwerkerstunde um ganze 25 Cent senken. Die Nachfrage nach Handwerkerleistungen würde dies kaum erhöhen.“
Reiners, Hartmut (2005): Lohnnebenkosten – Mythen und Fakten. In: Die Ersatzkasse 11; S. 461.
Frank Oschmiansky ist Diplom Politologe und Partner in der Partnerschaftsgesellschaft ZEP – Zentrum für Evaluation und Politikberatung. Seine Forschungsschwerpunkte sind Implementation und Evaluation der Arbeitsmarktpolitik; Geschichte der Arbeitsmarktpolitik; atypische Beschäftigungen; Entwicklung der Sozialpolitik und Übergangssystem Schule-Beruf.
Julia Berthold ist Studentin der Rehabilitationspädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin und studentische Mitarbeiterin beim ZEP – Zentrum für Evaluation und Politikberatung. Sie beschäftigt sich vorrangig mit Fragen der Inklusion in arbeitsmarktlichen Zusammenhängen.
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