bpb.de: Mehrere europäische Staaten haben im Zuge der Corona-Krise den Notstand ausgerufen. Auch in Deutschland wurde das öffentliche Leben drastisch eingeschränkt. Befinden wir uns also auch hier in einem "Notstand"?
Anika Klafki: Rechtlich betrachtet: nein. In Deutschland gelten derzeit keine verfassungsrechtlichen
In anderen Staaten Externer Link: wie zuletzt Ungarn sieht das anders aus. Dort führt die Ausrufung eines Notstands dazu, dass bestimmte Entscheidungen direkt durch die Regierung getroffen werden dürfen, statt durch das Parlament. Das soll dem Staat ermöglichen, schnell und flexibel auf Notlagen reagieren zu können.
In Deutschland haben wir eine stark zurückgenommene
Anika Klafki (© Anne Günther)
Anika Klafki (© Anne Günther)
Was gibt es für Möglichkeiten?
Seit 1968 gibt es im Grundgesetz (GG) einige Gesetze für einen Notstand. Zum einen zur Abwehr einer drohenden Gefahr von innen – also für den Bestand oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes (Externer Link: Artikel 91 GG). Bei einem bewaffneten Angriff von außen (Externer Link: Artikel 115a GG) kann der Verteidigungsfall festgestellt werden. Beides gilt in einer Pandemiesituation nicht.
In der aktuellen Situation greifen nur Externer Link: Artikel 35 Abs. 2 und 3 GG. Wenn eine Naturkatastrophe oder ein Unglücksfall das Gebiet von mehr als einem Bundesland gefährdet, kann die Bundesregierung die Landesregierungen anweisen, anderen Bundesländern ihre Polizeikräfte zur Verfügung zu stellen. Außerdem kann sie die Bundeswehr – zum Beispiel zur Unterstützung der medizinischen Versorgung – einsetzen. Besondere Entscheidungsbefugnisse erwachsen der Bundesregierung daraus aber nicht.
Neben diesen Notstandsbefugnissen gibt es noch das Katastrophenschutzrecht. Das ist in Deutschland aber reine Ländersache. Ruft ein Land den Katastrophenzustand aus, dann ist nicht mehr der einzelne Landrat zur Katastrophenbekämpfung befugt, sondern die jeweilige Landesregierung, sofern das erforderlich ist. Das gilt jetzt zum Beispiel in Bayern und Sachsen.
Ich finde, gerade die aktuelle Corona-Pandemie zeigt, dass unsere Demokratie gut gerüstet ist für den Umgang mit Krisen und dass es keiner weitergehenden Notstandsbefugnisse der Bundesregierung bedarf.
Zur Eindämmung der Corona-Pandemie wurden die Grundrechte in Deutschland immer stärker eingeschränkt. Welche betrifft das genau?
Durch die verschiedenen Maßnahmen werden zurzeit sehr viele Interner Link: Grundrechte eingeschränkt. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Die häusliche Isolation, also die sogenannte Quarantäne, beschränkt die Fortbewegungsfreiheit, schließlich darf man dann bestimmte Orte nicht mehr verlassen. Das Kontaktverbot beschränkt zum Beispiel das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Denn es gehört zur freien Entfaltung der Person, andere Menschen zu treffen. Außerdem werden die Versammlungsfreiheit und die Glaubensfreiheit eingeschränkt. Man darf zurzeit keine politischen Demonstrationen abhalten und keine Gottesdienste mehr besuchen. Bestimmungen, die den Einzelhandel verbieten, beschränken die Berufsfreiheit.
Auf welcher gesetzlichen Grundlage geschieht das?
All diese Maßnahmen werden auf das Externer Link: Infektionsschutzgesetz (IfSG) gestützt. Dort sind aber viele der jetzt getroffenen Maßnahmen gar nicht so explizit geregelt. Stattdessen stützt man sich auf eine sogenannte Generalklausel, wo es heißt, dass die Behörde die "notwendigen Maßnahmen" ergreifen darf.
Man könnte jetzt natürlich denken: Wunderbar, wenn wir so eine Generalklausel haben, dann können wir ja alle Maßnahmen darauf stützen. Aber so einfach ist das nicht. Nach der langjährigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss jeder Grundrechtseingriff durch eine gesetzliche Grundlage gestützt werden. Je mehr in die Grundrechte eingegriffen wird, desto höher sind auch die Anforderungen an die Bestimmtheit des Gesetzes. Deshalb regelt das deutsche Gefahrenabwehrrecht Befugnisse, die Grundrechte besonders einschränken, immer in gesonderten Normen. Dort sind dann konkrete Voraussetzungen für die Grundrechtseingriffe genannt und oft auch räumliche oder zeitliche Begrenzungen von Maßnahmen geregelt.
Wenn man sich nun die zentrale Norm des Infektionsschutzrechts, den Externer Link: § 28, Absatz 1 IfSG anschaut, stellt man fest, dass diese erstaunlich unbestimmt ist. Darin heißt es, dass Behörden die "notwendigen Schutzmaßnahmen" verhängen können, "soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist". Kürzlich wurde noch ergänzt: "Sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten." Hierauf werden nun in vielen Bundesländern unterschiedlich weitgehende Ausgangsbeschränkungen gestützt.
Infektionsschutzgesetz (IfSG)
§ 28 Schutzmaßnahmen
(1) Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen. Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden. Die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Artikel 11 Absatz 1 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes) werden insoweit eingeschränkt.
Wichtig wäre aber eine genauere rechtliche Regelung, unter welchen Umständen genau solche Maßnahmen verhängt werden dürfen – schon bei der saisonalen Grippe oder nur bei epidemischen Notlagen? – welche Ausnahmen vorgesehen werden müssen und wie lange solche Maßnahmen gelten dürfen, bis sie zumindest nochmal erneut geprüft werden müssen.
In der Bevölkerung gibt es Externer Link: laut Umfragen eine breite Zustimmung den Maßnahmen gegenüber. Sind sich Juristinnen und Juristen da genauso einig?
Selbstverständlich muss alles Erforderliche getan werden, um die Ausbreitung des Corona-Virus zu stoppen und Menschenleben zu schützen. Gleichzeitig ist es aber auch unsere Aufgabe als Juristen, den Rechtsstaat zu verteidigen. Wenn wir nun während der Corona-Pandemie alle unsere wohlbedachten Schutzmechanismen der liberalen Demokratie über Bord werfen – frei nach dem Motto "Not kennt kein Gebot" – dann birgt das in meinen Augen große Gefahren für die Zeit nach Corona.
Das heißt nicht, dass man keine Kontakt- oder Ausgangsbeschränkungen aussprechen sollte. Ich plädiere nur dafür, die verfassungsrechtlichen Verfahren einzuhalten und den Gesetzgeber – nicht nur die Regierungen und Verwaltung – darüber entscheiden zu lassen, welche Maßnahmen in welchem Umfang zur Bekämpfung einer Pandemie getroffen werden dürfen. In einer Demokratie ist es angemessen, dass sich das Parlament darüber austauscht und entscheidet, unter welchen Umständen solche weitreichenden Eingriffe in die Grundrechte der Menschen möglich sein sollen und wie lange diese andauern dürfen.
Ende März hat der Bundestag das Infektionsschutzgesetz reformiert. Sind die Neuerungen aus Ihrer Sicht ausreichend?
Mit der Reform des Infektionsschutzgesetzes wird zum Beispiel geregelt, wie das Bundesgesundheitsministerium die medizinische Versorgung der Bevölkerung in epidemischen Lagen sicherstellen kann. Das Bundesgesundheitsministerium darf aber auch weiterhin keine Bekämpfungsmaßnahmen wie zum Beispiel Schulschließungen oder Kontaktverbote anordnen. Das bleibt alleine die Aufgabe der Länder.
Zu den freiheitsbeschränkenden Maßnahmen – wie den Ausgangssperren, -beschränkungen und Kontaktverboten, die jetzt getroffen werden – wurde nur ein Satz im IfSG ergänzt. Es ist immer noch nicht geklärt, welche Voraussetzungen genau gelten sollen, wie die Maßnahmen im Einzelnen bemessen werden müssen und wann sie wieder außer Kraft gesetzt werden müssen. Wichtig wäre etwa zu regeln, welche Ausnahmen im Alltag für die Menschen erlaubt bleiben müssen. So sollte es zum Beispiel stets gewährleistet sein, dass die Menschen sich mit Lebensmitteln versorgen können oder zum Arzt gehen dürfen. Das alles sollte aus meiner Sicht gesetzlich genauer bestimmt werden.
Wenn wir auf die aktuellen Maßnahmen schauen: Was ist ihre Einschätzung – wie lange lassen sich solche Einschränkungen der Grundrechte rechtfertigen?
Das ist sehr schwer zu beantworten, solange die rechtlichen Grundlagen so unklar sind. Grundsätzlich hängt das davon ab, wie schwerwiegend die Gefahrenlage ist und wie einschneidend der konkrete Grundrechtseingriff. Ausgangsbeschränkungen mit großzügigen Ausnahmen, die auch noch das Spazierengehen erlauben, kann man sicher viel länger aufrechterhalten als strengere Bestimmungen.
Wie bewerten Sie aus verfassungsrechtlicher Perspektive, ob die Voraussetzungen für die Einschränkung von Grundrechten gegeben sind?
Zum einen muss es eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage für die Maßnahme geben. Das halte ich – wie schon gesagt – bei einigen der aktuellen Maßnahmen für zweifelhaft. Die Gerichte sind da aber weniger streng. Die meisten Verwaltungsgerichte halten die Generalklausel des § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG angesichts der außergewöhnlichen Situation für ausreichend, um die gegenwärtig geltenden Maßnahmen zu stützen. Einen zweiten Prüfmaßstab bildet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die konkret getroffene Maßnahme muss für ein legitimes Ziel geeignet sein – hier also für die Verhinderung der Ausbreitung des Virus. Außerdem muss man prüfen, ob die Maßnahme erforderlich ist. Dazu muss sie das mildeste unter den gleichgeeigneten Mitten darstellen. Schließlich muss die Maßnahme auch bei Abwägung der betroffenen Grundrechte angemessen sein.
In eine solche Abwägung fließen zum einen qualitative Aspekte ein. Dazu gehört, wie schwer der Grundrechtseingriff wiegt. Bei den Kontaktverboten stehen sich z.B. das Recht auf die freie Entfaltung der Person und auf der anderen Seite das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gegenüber. Es spielen aber auch quantitative Kriterien eine Rolle – also zum Beispiel, wie lange ein Grundrechtseingriff dauert und wie viele Menschen davon betroffen sind. Abwägungsentscheidungen sind inmitten von neuartigen Pandemien natürlich sehr schwer zu treffen, weil wir nicht viel über das Corona-Virus wissen. Selbst Epidemiologen sind sich nicht sicher, wie hoch die tatsächliche Sterberate ist. Wir wissen auch nicht genau, wie schnell sich das Virus verbreitet.
Sind die rechtlichen Grundlagen mit den aktuellen Maßnahmen schon erschöpft?
Aus meiner Sicht sind die rechtlichen Grundlagen juristisch bereits erschöpft, weil das Parlament die Rechtsgrundlagen bisher nicht im ausreichenden Maße erweitert hat. Externer Link: Andere sind da weniger skeptisch und meinen, besondere Zeiten rechtfertigten – auch ohne nähere rechtliche Spezifikation – besondere Grundrechtseingriffe.
Ich kann mir durchaus vorstellen, dass noch strengere Ausgangsbeschränkungen verhängt werden. Solchen Maßnahmen stehe ich aber sehr kritisch gegenüber. Es darf trotz der Corona-Krise kein temporärer Polizeistaat entstehen, in dem man jederzeit auf der Straße polizeilich kontrolliert werden kann. Aus meiner Sicht müsste das Parlament tätig werden, um genau zu definieren, welche Freiheitseingriffe in so einer Krise angeordnet werden dürfen, für wie lange sie gelten dürfen – und was zu weit geht.
Das Interview führte Tilman Schächtele. Redaktion: Thomas Fettien
Der fachjournalistische Externer Link: "Verfassungsblog" bietet derzeit einen guten Überblick über die wissenschaftlichen und rechtlichen Standpunkte und Debatten rund um die verfassungsrechtlichen Fragen zur Corona-Pandemie.