Am 21. Juli 2019 haben die Ukrainerinnen und Ukrainer ein neues Parlament gewählt. Die Partei "Sluha Narodu" des neugewählten Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist zum ersten Mal angetreten und als stärkste Partei aus der Wahl hervorgegangen.
Für die Vergabe der Sitze in der Werchowna Rada ("Oberster Rat") gilt eine Kombination von Verhältnis- und Mehrheitswahl. 225 Sitze werden nach Verhältniswahl vergeben. Hier erhielt Selenskyjs Partei 43,2 Prozent der Stimmen. Die prorussische "Oppositionsplattform" bekam 13,0 Prozent der Stimmen. Die Parteien der ehemaligen Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko ("Vaterland", 8,2 Prozent) sowie des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko ("Europäische Solidarität", 8,1 Prozent) sind erneut im Parlament vertreten. Außerdem konnte die Liste "Holos" des Rockmusikers Swjatoslaw Wakartschuk mit 5,8 Prozent der Stimmen die in der Ukraine geltende Sperrklausel von fünf Prozent überwinden.
Selenskyjs Partei konnte auch 130 der 199 zu vergebenden Direktmandate gewinnen. Damit kann die Partei künftig mit absoluter Mehrheit regieren. Die Wahlbeteiligung lag bei 49,2 Prozent.
Eigentlich hätte die Parlamentswahl erst im Oktober stattfinden sollen. Präsident Selenskyj hatte die Werchowna Rada jedoch am 21. Mai vorzeitig aufgelöst – einen Tag nach seiner Amtseinführung. Selenskyj fehlten Mehrheiten im Parlament, um die angekündigten Reformen umsetzen zu können. Der Schritt war rechtlich und politisch umstritten, eine Klage gegen die vorzeitige Neuwahl wurde aber Ende Juni vom ukrainischen Verfassungsgericht zurückgewiesen.
Selenskyj amtiert seit dem 20. Mai als ukrainischer Präsident. Der Schauspieler und Medienunternehmerhatte im ersten Durchgang der Interner Link: Präsidentschaftswahlen am 31. März rund 30 Prozent der Stimmen bekommen. Bei der Stichwahl am 21. April setzte er sich mit etwa 73 Prozent der Stimmen gegen den bisherigen Amtsinhaber Petro Poroschenko durch. Es war das bisher deutlichste Ergebnis bei einer ukrainischen Präsidentschaftswahl seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991.
Wunsch nach politischem Neuanfang
Selenskyjs Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen wurde als Votum gegen die bisher regierenden Eliten gewertet. Zwar soll er Verbindungen ins Umfeld des Oligarchen Ihor Kolomojskyj haben. Doch mit ihm wurde erstmals ein Bewerber gewählt, der noch nie zuvor ein politisches Amt innehatte. In einer Umfrage nach der Präsidentschaftswahl gaben 68 Prozent der Befragten als ausschlaggebend für ihre Wahlentscheidung an, dass der Kandidat eine neue Generation von Politikern repräsentiere.
Als wichtiger Faktor für seine Wahl galt auch die wirtschaftliche Situation in der Ukraine: Seinem Vorgänger Poroschenko war es zwar gelungen, das Land nach den Ereignissen im Jahr 2014 – den Interner Link: Euromaidan-Protesten, der Interner Link: Krim-Annexion und dem Interner Link: Kriegsbeginn im Osten des Landes – Interner Link: zu stabilisieren. Zuletzt stiegen auch die Löhne deutlich an – blieben aber im Vergleich zu anderen europäischen Staaten auf niedrigem Niveau. Die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und der Kampf gegen Korruption werden – neben der Beendigung des noch immer andauernden Krieges im Osten des Landes – in Umfragen immer wieder als wichtige Erwartungen an die Regierung formuliert. Der Wunsch nach einem personellen Neuanfang in der Politik schlägt sich auch in den Ergebnissen der Parlamentswahl nieder.
Selenskyjs Partei profitiert von Wechselstimmung
Selenskyj und seine Partei "Sluha Narodu" ("Diener des Volkes", benannt nach Selenskyjs erfolgreicher Fernsehserie) konnten von der Wechselstimmung profitieren. Auf der Liste seiner Partei befinden sich zum größten Teil politische Neueinsteiger, die Partei nimmt bewusst keine aktuellen oder ehemaligen Abgeordneten auf. Inhaltlich orientiert sie sich am Programm Selenskyjs: Bekämpfung der Korruption, mehr direkte Demokratie und die Liberalisierung der Wirtschaft. Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik versprach "Sluha Narodu" im Wahlkampf, den Anteil der Militärausgaben auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen (Externer Link: zuletzt 3,8 Prozent), die territoriale Integrität der Ukraine wiederherzustellen und die Beziehungen zur EU und zur NATO zu vertiefen.
Vom Wunsch nach einem politischen Neuanfang wollte auch die Liste "Holos" ("Stimme") des Rockmusikers Swjatoslaw Wakartschuk profitieren. Der Sänger von "Okean Elsy", einer populären Rockband in der Ukraine, war von den liberalen, europafreundlichen Maidan-Reformern bereits als möglicher Präsidentschaftskandidat umworben worden. Zur Parlamentswahl kandidierte der Rockstar nun. Seine Liste "Holos" verfolgt ein liberales Programm und warb damit, die Korruption zu bekämpfen.
Zweitstärkste Kraft jedoch wird die prorussische "Oppositionsplattform". Die Partei lehnt eine Annäherung an die EU ab. Die Parteien von Julija Tymoschenko ("Vaterland") und Petro Poroschenko ("Europäische Solidarität") werden nur mit wenigen Abgeordneten ins Parlament einziehen.
Krieg im Osten und Wirtschaft sind bestimmende Themen
Aus Sicht vieler Ukrainerinnen und Ukrainer sind die Beendigung des Krieges in der Ostukraine und wirtschaftliche Fragen die wichtigsten politischen Themen. Außenpolitisch hatte zudem ein Votum des Europarates für Schlagzeilen gesorgt: Russland wurde nach fünf Jahren wieder das Stimmrecht zuerkannt. Viele westliche Staaten, darunter auch Deutschland, hatten dafür gestimmt. Die Ukraine zog daraufhin den Botschafter beim Europarat ab.
Zur Lösung des Konflikts zwischen der Ukraine und Russland schlug der neue Staatspräsident Selenskyj zuletzt ein Gesprächsformat vor, zu dem neben Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine (sogenanntes Normandie-Format) auch die USA und Großbritannien eingeladen werden sollen. Damit würde das Gesprächsformat erweitert, das bislang für Verhandlungen zum Ukraine-Konflikt genutzt wurde.
Kombinierte Mehrheits- und Verhältniswahl
Die Werchowna Rada wird alle fünf Jahre gewählt, zuletzt im Jahr 2014. In der Theorie besitzt das Parlament weitreichende Einflussmöglichkeiten und wählt beispielsweise die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten. Da das ukrainische Parteiensystem ständig in Bewegung und stark personalisiert ist, kann der Staatspräsident mit einer eigenen Wahlliste auch im Parlament Einfluss geltend machen.
Das Parlament hat 450 Sitze. Das Wahlrecht sieht eine kombinierte Mehrheits- und Verhältniswahl vor: 225 der Sitze werden nach dem Verhältniswahlrecht vergeben, hier gilt eine Sperrklausel von fünf Prozent. Die anderen Sitze entfallen auf die Gewinner der Direktmandate in 225 Wahlkreisen, hier genügt eine einfache Mehrheit. Damit werden zwei Wahlverfahren nebeneinander und ohne Verrechnung angewandt (Grabenwahlsystem). Anders als in Deutschland findet kein proportionaler Ausgleich statt.
26 der 450 Sitze können nicht besetzt werden. Sie stünden den Wahlkreisen auf der Interner Link: von Russland annektierten und besetzten Krim und in der Ostukraine zu, die von durch Russland unterstützte Separatisten kontrolliert wird. Nach wie vor leben rund zwölf Prozent der ukrainischen Wahlberechtigten in diesen Regionen. Sie konnten nicht an der Wahl teilnehmen.
Änderung des Wahlrechts ab 2021
Interner Link: In den vergangenen fünf Jahren sollte das Wahlrecht reformiert werden, mehrere Gesetzesinitiativen scheiterten jedoch in der Rada. Am bisherigen Wahlrecht wurde kritisiert, dass es Unternehmern immer wieder gelinge, vermeintlich unabhängige Kandidaten ins Parlament zu bringen – unter anderem durch Stimmenkauf bei der Direktwahl der Kandidaten in den Wahlbezirken. Ein anderes Problem ist, dass die Wähler bei der Verhältniswahl, durch die die Hälfte der Abgeordneten gewählt wird, nur eine starre Parteiliste wählen können, deren Zusammenstellung durch die Parteien intransparent ist.
Am 11. Juli verabschiedete die Rada schließlich nach 17-maliger Abstimmung ein neues Wahlgesetz, das voraussichtlich am 1. Dezember 2023 in Kraft tritt. Die Wahl am 21. Juli fand daher noch nach den alten Regeln statt. Künftig soll die Ukraine ein reines Verhältniswahlrecht mit offenen Parteilisten haben. Wähler haben dann die Möglichkeit, Kandidaten durch Vorzugsstimmen einen besseren Listenplatz zu verschaffen. Außerdem müssen künftig zwei Fünftel der Listenplätze an Frauen vergeben werden. Weiterhin gilt die Sperrklausel von fünf Prozent. Selenskyj wollte noch im Juni mit einem von ihm eingebrachten Gesetzesentwurf die Absenkung der Sperrklausel auf drei Prozent durchsetzen, scheiterte damit aber.
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