Dass Mord nicht verjährt, ist in Deutschland heute eine Selbstverständlichkeit. Wer einen Menschen vorsätzlich und aus niederen Motiven umbringt, muss auch nach Jahrzehnten noch mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Das war jedoch nicht immer so. Die so genannte "Verjährungsdebatte" begleitete die Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland fast zwei Jahrzehnte lang. Geführt wurde sie vor dem Hintergrund der Strafverfolgung der Verbrechen der Nationalsozialisten.
"Verjährungshemmung" in den Besatzungszonen
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Besatzungsmächte festgelegt, dass die Verjährung der Verbrechen des Nationalsozialismus, die von der NS-Justiz nicht verfolgt wurden, in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai (britische und französische Besatzungszone) bzw. bis zum 1. Juli 1945 (US-amerikanische Besatzungszone) ruhen sollte. Ob ein Verbrechen bereits verjährt war oder noch strafrechtlich verfolgt werden konnte, wurde daher nicht anhand des Datums der Tat, sondern dieser Stichtage überprüft.
Die Fristen regelte das Strafgesetzbuch und sah vor, dass Straftaten, "wenn sie mit lebenslänglichem Zuchthaus bedroht sind, in zwanzig Jahren" verjähren. Für Verbrechen, für die mehr als zehn Jahre Freiheitsstrafe vorgesehen waren, galt eine Verjährungsfrist von 15 Jahren. Deswegen drohten viele schwere Verbrechen, darunter auch Totschlagsdelikte und Beihilfe zum Mord, bereits 1960 zu verjähren.
Die SPD-Bundestagsfraktion schlug daher bereits im Jahr 1960 eine Ausweitung des Beginns der Verjährungsfrist auf den 16. September 1949 vor – also auf den Tag nach der Wahl von
Leidenschaftliche Debatte im Bundestag
Fünf Jahre später drohten die bisher ungestraften Morddelikte der NS-Zeit zu verjähren. Die DDR-Führung hatte bereits 1964 die Verjährung von Kriegs- und nationalsozialistischen Verbrechen ausgeschlossen.
Im Bundestag wurde deswegen am 10. März 1965 abermals über eine Verlängerung der Verjährungshemmung für NS-Verbrechen und eine Abschaffung der Verjährungsfrist für Mord diskutiert. Die Sitzung gilt als "Sternstunde des Parlamentarismus". Ohne Fraktionszwang diskutierten die Abgeordneten über das Für und Wider einer solchen Regelung. Mittelbar ging es dabei auch um die Frage, wann bzw. ob ein Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit gezogen werden dürfe: Sollte 20 Jahre nach Ende der NS-Herrschaft um der gesellschaftlichen Befriedung willen die Strafverfolgung von nationalsozialistischen Verbrechen ein Ende finden? Oder wog die Verantwortung gegenüber den Opfern und ihren Nachkommen schwerer, so wie die Befürworter des Gesetzes einwandten? Der CDU-Abgeordnete Ernst Benda trat für eine Neuregelung ein und begründete das mit dem "Druck der eigenen Überzeugung". Der SPD-Abgeordnete Martin Hirsch pflichtete ihm bei.
Grundsatzfragen des Rechtsstaats
Gegner der Fristverlängerung vertraten die Ansicht, dass die Geltendmachung eines formal bereits erloschenen Rechtsanspruchs gegen die Prinzipien des Rechtsstaats verstoße, der als Gegenentwurf zum Unrecht des Naziregimes verstanden wurde. Bundesjustizminister Ewald Bucher (FDP) warf die Frage auf, ob man dem "Ruf nach lückenloser Sühne" folgen solle oder dem "rechtsstaatlichen Satz treu bleiben wolle, dass jedes rückwirkende Gesetz im Strafrecht von Übel" sei.
Die gesamte Debatte steht unter Externer Link: Bundestag.de zur Verfügung.
Am Ende stand ein vorläufiger Kompromiss, den der Bundestag am 23. Mai 1965 beschloss: Der Beginn der Verjährungsfrist für Verbrechen mit lebenslanger Haftstrafe wurde auf den 1. Januar 1950 festgesetzt. Gelöst war die Frage nach dem Umgang mit den NS-Verbrechen damit noch nicht, der Stichtag war nur auf das Ende der 1960er Jahre verschoben worden. Währenddessen hatten am 26. November 1968 die Vereinten Nationen in einer Resolution der Generalversammlung festgestellt, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht verjähren. Die Rechtslage in der Bundesrepublik blieb jedoch vorerst eine andere.
1969: Ein weiterer Kompromiss
Gegner eines neuen Gesetzes wandten ein, dass die deutsche Justiz mit den bereits laufenden Verfahren – es waren damals etwa 10.000 – noch gut ein Jahrzehnt beschäftigt wäre. Die früher bereits vorgebrachten rechtsstaatlichen Argumente gegen eine Fristverlängerung für die Verfolgung von NS-Verbrechen hatte das Bundesverfassungsgericht im April 1969 zerstreut: Es erklärte das 1965 vom Bundestag beschlossene Gesetz für konform mit dem Grundgesetz.
Schließlich hob der Deutsche Bundestag nach erneuter Debatte am 26. Juni 1969 die Verjährung für Völkermord auf. Für Mord wurde die Frist auf 30 Jahre erhöht. Damit war die Debatte um jene Verbrechen, die sich nicht der Definition von "Völkermord" zurechnen ließen, abermals aufgeschoben worden.
Politischer Wandel bis 1979
Ein letztes Mal wurde im Jahr 1979 über die Verjährung von nationalsozialistischen Verbrechen diskutiert. In Bonn regierte zu diesem Zeitpunkt bereits fast zehn Jahre lang eine sozialliberale Koalition aus SPD und FDP. Politisch hatte sich das Land gewandelt: Die Studentenproteste führten seit Ende der 1960er-Jahre zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit der deutschen Schuldfrage.
Außerdem hatte in der deutschen Öffentlichkeit Anfang 1979 der amerikanische TV-Mehrteiler "Holocaust" eine neue Debatte um NS-Verbrechen ausgelöst.
Nach der fast elfstündigen, mit großem Ernst geführten Debatte stimmten 255 Abgeordnete für die Aufhebung der Verjährung von Mord, 222 Abgeordnete stimmten dagegen. Neu entdeckte Mordverbrechen aus der Nazizeit konnten nach der Aufhebung der Verjährungsfrist ohne Blick auf Verjährungsfristen verfolgt werden.
Das Ende dieser knapp dreißigjährigen Debatte ebnete den Weg für weitere Verfahren. So wurde 1981 das Urteil gegen SS-Aufseher aus dem Vernichtungslager Majdanek verkündet. Über 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde 2011 der ehemalige KZ-Wachmann Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord verurteilt.