In der Türkei wird es künftig eine Koalitionsregierung geben. Bei den Wahlen zum nationalen Parlament, der Großen Nationalversammlung der Türkei ("Türkiye Büyük Millet Meclisi") mit Sitz in Ankara, erreichte die bisher allein regierende islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung ("Adalet ve Kalkınma Partisi", Interner Link: AKP) Externer Link: dem offiziellen Endergebnis nach 40,87 Prozent der Stimmen. Sie verlor damit neun Prozentpunkte gegenüber der letzten Wahl 2011. Das ist das schlechteste Ergebnis der Partei bei Parlamentswahlen seit 13 Jahren. Die AKP hält in der Großen Nationalversammlung nun 258 der insgesamt 550 Sitze. Damit fehlen ihr 18 Mandate zur absoluten Mehrheit. Das türkische Parlament wird alle vier Jahre neu gewählt.
HDP zieht ins Parlament ein
Neben der AKP sind drei weitere Parteien ins Parlament eingezogen. Zweitstärkste Partei wurde erneut die 1923 von Interner Link: Mustafa Kemal Atatürk gegründete Republikanische Volkspartei ("Cumhuriyet Halk Partisi", Interner Link: CHP). Sie erhielt 24,95 Prozent der Stimmen und konnte damit die Zahl ihrer Abgeordneten von 125 auf 132 erhöhen. Die Partei der Nationalistischen Bewegung ("Milliyetçi Hareket Partisi", Interner Link: MHP) erreichte 16,29 Prozent der Stimmen. Für die MHP, die eine nationalistische, sozialpolitische und EU-skeptischen Agenda vertritt, sitzen statt bisher 52 künftig 80 Abgeordnete im Parlament. Ebenso viele Abgeordneten kann die Partei für Frieden und Demokratie ("Halkların Demokratik Partisi", Interner Link: HDP) entsenden, die erstmals zu Parlamentswahlen angetreten war und auf 13,12 Prozent der Stimmen kam.
Die HDP war 2014 mit der Demokratischen Partei der Völker ("Barış ve Demokrasi Partisi", Interner Link: BDP) fusioniert und gilt als linke bzw. sozialistische Partei. Während die pro-kurdische BDP eher auf regionaler Ebene in süd- und südostanatolischen Landesteilen der Türkei agiert, Interner Link: in denen vor allem Kurden leben, ist es der HDP gelungen, ein größeres Wählerpotential in der gesamten Türkei zu erschließen.
Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan von der AKP hat seiner Partei als stärkster Kraft nun den Auftrag erteilt, Koalitionsverhandlungen zu führen. Am wahrscheinlichsten gilt nun eine Koalition aus AKP und MHP. Gelingt es der AKP nicht, eine Koalition zu formen, würde der Auftrag zur Regierungsbildung laut Erdoğan an die CHP gehen. Würde auch diese scheitern, seien Neuwahlen zu erwarten. Beobachter werten das Wahlergebnis als Absage an die mutmaßlichen Pläne Erdoğans und der AKP, die Türkei zu einer Präsidialrepublik mit zentralen Machtbefugnissen beim Staatsoberhaupt umzubauen.
Die letzten Wahlergebnisse der AKP
Die Parlamentswahlen am 7. Juni waren der dritte wichtige Urnengang des Landes innerhalb von etwas mehr als einem Jahr. Aus den Kommunalwahlen vom 30. März 2014 und der Interner Link: Präsidentschaftswahl am 10. August 2014 war die AKP jeweils als deutliche Siegerin hervorgegangen. Die drei vergangenen Parlamentswahlen hatte die AKP jeweils mit absoluter Mehrheit gewonnen.
Im vergangenen Jahr gewann AKP-Kandidat Erdoğan die ersten Direktwahlen der türkischen Republik zum Staatspräsidenten. Zuvor hatte er als Ministerpräsident von 2003 bis 2014 das Land regiert. Sein Nachfolger Ahmet Davutoğlu übernahm von Erdoğan den Parteivorsitz der AKP und führte sie nun als Spitzenkandidat in die Parlamentswahlen.
Neben der AKP saßen zuletzt mit der CHP, der MHO und der BDP drei Oppositionsparteien und zwölf fraktionslose Abgeordnete im türkischen Parlament, außerdem sechs neugegründete Parteien mit je einem Abgeordneten.
Ministerpräsidenten der Türkei
Ministerpräsidenten der Türkei
In der Türkei war bis 2017 der Ministerpräsident der politisch einflussreichste Amtsträger. Welche Personen auf diesem Posten haben die Türkei seit ihrer Republikwerdung 1923 geprägt?
Wer darf kandidieren?
Ein Kandidat bei den Parlamentswahlen muss mindestens 25 Jahre alt sein, die Grundschule besucht und als Mann den Militärdienst absolviert haben. Zudem darf der Kandidat, bzw. die Kandidatin nicht vorbestraft sein und muss – wenn gewählt - die Arbeit als Richter, Staatsanwalt, Professor, Angehöriger der Streitkräfte bzw. als Beamter oder Angestellter im öffentlichen Dienst niedergelegen.
Wahlsystem und hohe Sperrklausel
In der Türkei herrscht ein reines Verhältniswahlrecht mit einer landesweiten Sperrklausel von zehn Prozent, was kleinen Parteien den Einzug ins Parlament erschwert. Unabhängige Kandidatinnen und Kandidaten, die in ihrem Wahlkreis die meisten Stimmen erhalten, sind von dieser Zehnprozenthürde ausgenommen.
Von den 550 Parlamentsmandaten der Türkischen Großen Nationalversammlung fällt jeweils ein Mandat auf eine der 81 Provinzen. Wer in einer Provinz die meisten Stimmen erhält, zieht direkt ins Parlament ein – vorausgesetzt die eigene Partei konnte insgesamt zehn Prozent erringen. Die weiteren 467 Mandate werden je nach Einwohnerzahl auf die Provinzen verteilt – wovon besonders die bevölkerungsreichen Städte profitieren.
Wer darf wählen?
Wahlberechtigt sind über 53 Millionen der knapp 78 Millionen Türkinnen und Türken über 18 Jahre. Ausgenommen davon sind jedoch Soldaten und Garnisonsoffiziere, Schüler einer Militärschule, Strafgefangene, beschränkt Geschäftsfähige und Personen, die vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen wurden. Die besondere Regelung für das Militär geht auf den Staatsgründer Kemal Atatürk und den von ihm geprägten Interner Link: "Kemalismus" zurück, wonach das Militär als Verfassungshüterin außerhalb von Staat und Gesellschaft stehen sollte.
In der Türkei besteht Wahlpflicht. Nicht-Wählen wird mit einem Bußgeld von etwa sieben Euro bestraft. Nicht zuletzt deshalb ist die Beteiligung in der Regel sehr hoch; bei den Parlamentswahlen 2011 betrug sie 83,16 Prozent, am 7. Juni 2015 nun 83,92 Prozent.
Wahlberechtigt waren ebenso knapp 2,8 Millionen türkische Staatsbürger, die im Ausland leben. Mit rund 1,4 Millionen leben Interner Link: die meisten davon in Deutschland. Zum ersten Mal bei Parlamentswahlen können sie in diesem Jahr ihre Stimme abgeben, ohne dafür in die Türkei reisen zu müssen. Die Stimmabgabe im Ausland erfolgte zwischen dem 8. und 31. Mai.
Politische Konfliktlinien
Die politische Landschaft der Türkei ist durch eine tiefe Spaltung zwischen der mit autoritärem Führungsstil regierenden AKP und der parlamentarischen wie außerparlamentarischen Opposition gekennzeichnet. Diese wurde besonders bei den Gezi-Park-Proteste in Istanbul und deren gewaltsamer Niederschlagung im Interner Link: Sommer 2013 deutlich. Die Demonstrationen gegen die islamisch-konservative Regierung weiteten sich daraufhin landesweit aus. Es kam zu einer Verhaftungswelle und starken Einschränkungen der Meinungsfreiheit, etwa in sozialen Medien.
Die öffentliche Debatte wurde zudem von zahlreichen Korruptionsaffären Ende 2013 bzw. Anfang 2014 bestimmt, bei denen auch einige AKP-Politiker oder deren Familienmitglieder in Zusammenhang mit Schwarzgeldtransfers und Bestechung festgenommen wurden.
Eine weitere Konfliktlinie zieht sich zwischen der AKP und den Anhängern des in den USA im Exil lebenden einflussreichen islamischen Predigers Fethullah Gülen. Zwischen den einstigen Weggefährten tobt seit Jahren ein Interner Link: Kampf um Macht und Einfluss in der Türkei.
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