1. Einleitung
Die Veränderungen, die sich in allen gesellschaftlichen Bereichen der DDR nach der politischen Wende im Herbst 1989 in einem enormen Tempo vollzogen haben, betrafen auch die Sprache. Es fand ein Sprachwandel statt, der in der Lexik (Wortschatz) besonders gut zu beobachten war. Um ihn zu erfassen oder gar zu beschreiben, braucht es aber mehr als nur die schlichte Kenntnis von Wortbedeutungen. Es bedarf vor allem eines soziokulturellen Hintergrundwissens über gesellschaftliche Mechanismen, die Sprache und Sprachgebrauch in der DDR beeinflussten. Dieses resultiert aus der Kenntnis der jeweiligen kulturellen, sozialen und historischen Situation, in der das Wort mit seiner spezifischen Bedeutung benutzt wird. Es verleiht dem Wort mithin eine spezielle soziokulturelle Prägung, die für außerhalb der Sprachgemeinschaft Stehende nicht leicht zu durchschauen ist
2. Deutsch bleibt Deutsch oder doch ein spezifisch gewachsener DDR-Wortschatz?
Am deutlichsten sichtbar werden sprachliche Veränderungen auf dem Gebiet der Lexik – also im Wortschatz einer Sprache selbst. Untersuchungen in diesem Bereich geben eine relativ gute Auskunft über den Sprachzustand und den lexikalischen Wandel einer Sprache innerhalb eines bestimmten Zeitraums – hier von 1950 bis 1989 – unter konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen. Neue sprachliche Entwicklungstendenzen zeigten sich unter anderem im Auftreten von DDR-spezifischen Lexemen (Wörtern), die zum ersten Mal im sechsbändigen "Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache" (WdG) festgehalten wurden. Selbstverständlich beruhte 1952 die Konzeption des WdG noch auf einer Wortschatzbeschreibung für das gesamte Deutschland. Dennoch: Die Existenz zweier deutscher Staaten brachte schon bald einen unterschiedlichen Sprachgebrauch mit sich und die Wörter blieben "auf Grund der verschiedenartigen gesellschaftlich-politischen Struktur beider Staaten auf den einen oder anderen Teil beschränkt, waren also dort jeweils nicht sprachüblich" (WdG, Bd. 1, 015). Daher bekamen diese neuen Lexeme oder Redewendungen den Zusatz /DDR/ oder /BRD/ und wurden in die Kategorien Neuwort
So wie staatliche Stellen in der DDR die offizielle Sprache beeinflussten, so griffen sie auch unmittelbar in die Arbeit der Lexikographen ein, sodass 1970 die Konzeption des WdG geändert werden musste. Man wollte "durch fragwürdige lexikographische Mittel die These stützen, in der DDR werde – nach damals nur zwanzigjähriger politischer Sonderentwicklung – nicht mehr das gemeinsame Deutsch, sondern eine von der Bundesrepublik schon wesentlich verschiedene Sprachvariante gesprochen (und nicht nur im 'Neuen Deutschland´ geschrieben)." (Schmidt 1992, 27) In der Vorbemerkung zu Band 4 des WdG hieß es deshalb: "Für den Lexikographen werden die sprachlichen Divergenzen zwischen der DDR und der BRD vor allem in der Veränderung der Bedeutungen, im Aufkommen neuer Wörter und im Zurückgehen alter Bildungen fassbar." (WdG, Bd.4, I) Die Bedeutungsdifferenzierungen ergeben "sich aus einer Veränderung der den Bedeutungen zugrundeliegenden Begriffe einschließlich deren Wertung ..." (ebenda, I).
Worin bestand nun aber das DDR-typische der sprachlichen Einheiten und gab es auch eine Differenzierung auf der grammatischen und syntaktischen Ebene? Alle dahingehenden Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass es einige Abweichungen oder Auffälligkeiten gab, aber keine andere Grammatik oder Syntax. Auffallend ist der im öffentlichen Sprachgebrauch der Medien dominante Nominalstil in Form von vielen Substantivierungen und aneinandergereihten Genitivketten. Dieser Stil ist auf russisches Vorbild zurückzuführen und steht für die Übernahme des russischen Strukturmodells in diesem Bereich der Syntax . Ein Beispiel für gängiges Zeitungsdeutsch in der DDR: "Hannelore P. ...Elektrikerin in der Volkswerft Stralsund, Mitglied der Kreisleitung Stralsund der SED, Mitglied der Zentralen FDJ-Leitung der Werft, Bezirkstagsabgeordnete, Trägerin der Artur-Becker-Medaille in Bronze und Gold, Mitglied eines Kollektivs der DSF."
Auch der Einfluss des Russischen auf den Wortschatz war nicht unerheblich, aber: "Direkte Entlehnungen, bei denen das Formativ und damit die fremde phonetische, grafische und morphologische Gestalt übernommen wurden, sind im Wortschatz der DDR äußerst selten zu finden." (Hartinger 2007, 27) Beispiele dafür waren Sputnik, Natschalnik und Subbotnik. Häufiger waren da schon die indirekten Entlehnungen wie Lehnübersetzungen
3. Jugendobjekt und Mumienexpress – Darstellung des spezifischen DDR-Wortschatzes
Der DDR-Wortschatz zeichnete sich durch eine Polarisierung des Sprachgebrauchs aus. Es existierte eine – nicht immer strikte – Trennung zwischen dem offiziellen und privaten Sprachregister. "Dieses code-switching zwischen Alltagssprache und offiziellem Sprachgebrauch gilt inzwischen ebenso wie die Veränderungen im Wortschatz als typisches Merkmal der Sprachsituation in der DDR."
3.1 Offiziell geprägter und propagierter Wortschatz
Neben der Alltagssprache existierte eine von Partei und Medien propagierte Sprache. Diese prägte weitgehend die offizielle und institutionelle Kommunikation und wurde insbesondere von den Vertretern der Partei- und Staatsmacht eingeführt und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens kontrolliert. Die sprachliche Entwicklung der sogenannten allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit wurde demnach bewusst gesteuert. Entgegen tritt uns dieser Sprachgebrauch überwiegend in den Leitartikeln der Zeitungen, Kommentaren der Parteiorgane, den Parteidokumenten des Politbüros der SED. Er ist wegen seiner schriftlichen Form sprachwissenschaftlich gut zu analysieren. Zu dem von offizieller Seite geprägten und propagierten Wortschatz gehörten:
neue Lexeme und Wortgruppenlexeme wie Neuerer, Dienstleistungskombinat, Dispensairebetreuung, Kinderkombination (kurz Kiko), Betriebskollektivvertrag, Personenkennzahl, gesellschaftliche Gerichte, öffentlicher Tadel, Kommunale Wohnungswirtschaft, mit denen Gegenstände oder gesellschaftliche Vorgänge bezeichnet wurden. Dabei spielte es keine Rolle, ob ein Wort/eine Wortgruppe und mithin das Denotat (Sache, Gegenstand) "auf der jeweils anderen Seite bekannt ...und gelegentlich gebraucht [wurden]"
, da sie nur sprachtypisch für die Kommunikationsgemeinschaft DDR waren. Neubenennungen, die aus politisch-ideologischen und wertenden Gründen geprägt wurden, um bereits vorhandene Benennungen zu ersetzen. In diese Gruppe gehörten DDR-Prägungen wie Sekundärrohstoffe für Altstoffe, Dreiraumwohnung für meist nur eine 2 1/2-Zimmer-Wohnung, Feierabendheim für Seniorenheim, Bürger im höheren Lebensalter für Rentner. Diese Lexeme hatten in Ost und West eine (fast) gleiche Bedeutung, aber die damit verbundene Nebenbedeutung (Konnotation) war eine andere. Manchmal bekamen die Wörter auch eine neue Bedeutung, wie es bei dem Lexem Dokument der Fall war. Dokument sollte das Wort Pass ersetzen. Ob Neubenennung oder Neubedeutung, die neu geschaffenen Lexeme sollten bei den Sprachteilnehmern eine positive Wertung auslösen. Bei dem Lexem Dokument und dem Syntagma Bürger im höheren Lebensalter ist es nach meinen Recherchen nicht gelungen, den gewünschten offiziellen Sprachgebrauch auf die Alltagssprache zu übertragen, bei den drei anderen schon. Des Weiteren gehörten in diese Gruppe DDR-Eigenprägungen, mit dem Ziel, vorhandene Westbenennungen nicht verwenden zu müssen wie zum Beispiel Schallplattenunterhalter (kurz SPU), Stadtbilderklärer oder Zellstofftaschentuch sowie DDR-Prägungen mit dem Ziel einer (vermeintlichen) Verwissenschaftlichung, z. B. Facharbeiter für Be- und Verarbeitung von Körner- und Hülsenfrüchten, Gliedermaßstab. Wörter wie Erntekapitän oder Schlenki waren angeblich vom Volk erfunden, aber eigentlich von offizieller Seite geprägt.
Neubedeutungen für DDR-spezifische Sachverhalte, mit denen sprachliche Benennungslücken geschlossen werden sollten. Bei bestimmten Wörtern entwickelte sich eine DDR-spezifische Bedeutung, die neben die alte trat. Dies war zum Beispiel bei den Lexemen Patenschaft, Bürgschaft oder Pionier der Fall. Die Formative existierten in beiden deutschen Kommunikationsgemeinschaften, Bedeutungen und/oder Konnotationen waren jedoch unterschiedlich. Die neue Bedeutung erschloss sich meist nur, wenn man über ein DDR-geprägtes gesellschaftliches Hintergrundwissen verfügte.
DDR-spezifische Wörter, neben denen eine bundesdeutsche Synonymvariante existierte, z. B. Kaderleiter vs. Personalleiter, Polylux vs. Overheadprojektor, Kaufhalle vs. Supermarkt, Werktätiger vs. Arbeitnehmer, Kosmonaut vs. Astronaut, DNS vs. DNA. Die DDR-spezifische Bedeutung wurde vom DDR-Alltag bestimmt. Nach dem Mauerfall hat die bundesdeutsche Variante die DDR-typischen Synonyme zum größten Teil verdrängt.
Nicht vordergründig politisch-ideologisch, aber sehr frequentierte Lexeme. Es handelte sich um Lexeme, die in der DDR fast gebetsmühlenartig gebraucht wurden, z. B. allseitig, sozialistisch, Planvorgaben, komplex, operativ, Bruderpartei. Ebenso gehören hierhin Lexemverbindungen wie immer + Komparativ oder noch + Komparativ, mit denen von offizieller Seite ein hohes Maß an schon Erreichtem konstatiert wurde, was gleichzeitig mit dem Aufruf verbunden war, auf diesem Niveau nicht stehen zu bleiben. Dieses in den Medien und von den SED-Funktionären ständig wiederholte sprachliche Muster, mit dem die DDR-Bevölkerung aufgefordert wurde, ihr Handeln zum Wohle des ganzen Volkes ständig zu erhöhen, brachte wegen der an sich schon unsinnigen und gar nicht mehr steigerungsfähigen Forderungen (immer optimalere Planerfüllung, immer planmäßigere Steigerung der Arbeitsproduktivität, immer schnellere Erfolge auf dem Dienstleistungssektor) nicht den gewünschten Motivationserfolg. Nach dem gleichen Muster fungierte auch das Muster noch + Komparativ, das ebenfalls zum aktiven Handeln im Sinne der SED auffordern sollte. Beispiele wie noch lückenlosere Erfolge auf dem Sektor des Bauwesens oder durch den Einsatz neuer Schlüsseltechnologien werden wir noch besser produzieren waren aber wenig glaubhaft und die ständige Wiederholung solcher Appelle führte eher dazu, dass die Bevölkerung sie gar nicht mehr wahrnahm.
Offizielle Benennungen, die Eingang in die DDR-Alltagskommunikation fanden. Eine Vielzahl von neuen Benennungen fand ihren Weg in die Alltagskommunikation. Diese Lexeme wurden von den Kommunikationsteilnehmern ohne inneren Widerstand und ohne negative Konnotation benutzt, denn man referierte auf DDR-relevante Sachverhalte, für die nur offiziell propagierte Benennungen existierten: Ehekredit, Abschnittsbevollmächtigter (ABV), sozialpolitische Maßnahmen, Elternaktiv. Nachweisen kann man das u. a. an dem 1984 erschienenen zweibändigen "Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache" (HdG). Es hatte sich die Aufgabe gestellt, den Wortschatz der letzten 30 Jahre darzustellen (etwa von 1952 bis 1984) und beschrieb "das gegenwärtige Deutsch, den heute sprachüblichen Bereich des Wortschatzes."
Im Hinblick auf die kommunikative Spezifik des DDR-Wortschatzes versuchte es, sich stärker als das WdG zu profilieren.
Es wies den ideologiegebundenen Wortschatz – zu dem in erster Linie Lexeme zählten, die den ideologisch-philosophischen, den gesellschaftlich-politischen oder den politisch-ökonomischen Bereich angehörten, klar aus und beschrieb ihn vom Standpunkt des Marxismus-Leninismus. Dieser Wortschatz beeinflusste die Kommunikation auch in der Alltagssprache und wurde demzufolge mit seinen vielfältigen Nuancen beschrieben. Das HdG präsentierte den Wortschatz der deutschen Gegenwartssprache also aus der Sicht und daher legitimerweise mit den Wertungen einer spezifischen Kommmunikationsgemeinschaft DDR, was aber nicht hieß, dass das Wörterbuch eine Art Kompendium der DDR-Lexik war. Beschrieben wurden die darstellbaren Unterschiede der in der DDR oder der BRD gebräuchlichen Lexeme, so dass sich "für den Benutzer deutlich die Zugehörigkeit des Denotats zu sozialistischen oder kapitalistischen Verhältnissen, zum Gesellschaftsgefüge der DDR oder der BRD bzw. der deutschsprachigen kapitalistischen Staaten"
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3.2 Der nicht-offizielle, meist nur mündlich wiedergegebene Wortschatz
Parallel zum offiziellen Sprachgebrauch bildete sich als Gegenpart eine nicht-offizielle Sprache heraus, aus der in Folge der politischen Ereignisse ein wahrhaft oppositioneller Diskurs in vielfältigen Erscheinungsformen entstand. Die Herausbildung einer "anderen" Sprache in der DDR ist darauf zurückzuführen, dass vor allem in den letzten Jahren die Kluft zwischen der gesellschaftlichen Realität und deren Versprachlichung in der offiziellen und institutionellen Kommunikation immer größer wurde. Aus der Ablehnung dieser sprachlichen Darstellung der Realität, die von der Bevölkerung des Landes ganz anderes erfahren wurde, und aus sich in diesem Zusammenhang herausbildenden 'sprachlichen Selbstverteidigungsmechanismen', entstand der Gegenpol zum offiziell propagierten Sprachgebrauch. Die DDR-Bevölkerung entwickelte ihren eigenen kritischen, witzig-sarkastischen Alltagswortschatz, durch den sie sich, mehr oder weniger bewusst, vom offiziellen Sprachgebrauch abgrenzen konnte. Der eigene Sprecherstandpunkt und Wertungen wurden durch die Wahl bestimmter sprachlicher Mittel ausgedrückt, die sich wie folgt beschreiben lassen:
Neue Lexeme bzw. neue Bedeutungen, besonders in Tabubereichen, die Benennungslücken schlossen. Dazu gehören u. a. Lexeme wie blaue Fliesen, Mumienexpress, falten gehen oder Tal der Ahnungslosen. Es gab aber auch Lexeme, die ihren Ursprung im nicht offiziellen Sprachgebrauch hatten und über die Verbreitung der Medien Eingang in die offizielle Sprache fanden, wie Babyjahr oder endversorgt.
Parallelbenennungen zu bestimmten (offiziell propagierten) Benennungen, z. B. Mauer statt antifaschistischer Schutzwall, Rotlichtbestrahlung statt Parteiversammlung, umrubeln statt Geld umtauschen, rabotten statt arbeiten.
Von der Bevölkerung geprägte Benennungen, die vorwiegend mündlich wiedergegeben wurden, z. B. die vielen Synonyme für das Ministerium für Staatssicherheit (langer Arm, Firma, Stasi, Horch und Guck ...) oder für den Trabant (Trabbi, Rennpappe, Asphaltblase, Karton de Blamage, Leukoplastbomber ...) oder Wörter wie Arbeiter- und Bauernschließfächer, Wohnklo mit Kochnische, Erichs Krönung und Kaderwelsch. Alle diese Wörter waren treffend, witzig und zeugten vom unerschöpflichen sprachlichen Einfallsreichtum der DDR-Bürger.