Artikel 1
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Mit dieser feierlichen Erklärung beginnt der erste Artikel des Grundgesetzes. Die Grundrechte sind in Art. 1 bis 19 an die Spitze des Grundgesetzes gestellt worden. Der hohe Rang, den die Verfassungsgeber den Grundrechten beimaßen, erklärt sich aus den Erfahrungen der Weimarer Republik und der Zeit des nationalsozialistischen Regimes. Die Weimarer Verfassung enthielt ebenfalls einen Katalog von Grundrechten, doch sie waren nicht einklagbar, und sie konnten durch Notverordnungen außer Kraft gesetzt werden. Eine Notverordnung, die Verordnung des Reichspräsidenten "zum Schutz von Volk und Staat", leitete die nationalsozialistische Willkürherrschaft ein, und die Entwürdigung des Menschen begann.
Abwehrrechte und Grundlage der Wertordnung
Viele betrachten die Grundrechte als etwas Selbstverständliches, das ihre persönliche Sphäre kaum berührt. Wie die geschichtliche Erfahrung zeigt, sind sie keineswegs selbstverständlich gewährleistet, und sie beeinflussen den Alltag des Einzelnen und das Zusammenleben aller in Staat und Gesellschaft. Grundrechte schützen den Freiheitsraum des Einzelnen vor Übergriffen der öffentlichen Gewalt, es sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Zugleich sind sie Grundlage der Wertordnung der Bundesrepublik Deutschland, sie gehören zum Kern der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes.
Menschen- und Bürgerrechte
Zu unterscheiden ist zwischen allgemeinen Menschenrechten, die jedem zustehen, und Bürgerrechten, die nur für Staatsangehörige gelten.
Menschenrechte sind überstaatliche Rechte, sie gehören zur Natur des Menschen, es sind natürliche, angeborene Rechte. Dazu gehören die meisten Freiheitsrechte oder Grundfreiheiten, wie Freiheit der Person, Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit. Bürgerrechte sind beispielsweise das Recht der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit und der Freizügigkeit. Im Grundgesetz beginnen die Menschenrechte mit den Worten: "Jeder hat das Recht ...", bei den Bürgerrechten heißt es: "Alle Deutschen haben das Recht ..."
Freiheits-, Gleichheits- und Unverletzlichkeitsrechte
Eine andere Einteilung unterscheidet zwischen Freiheitsrechten, wie dem Recht auf freie Meinungsäußerung, Gleichheitsrechten, zum Beispiel dem Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz und der Gleichberechtigung von Mann und Frau, und Unverletzlichkeitsrechten oder Abwehrrechten, wie Unverletzlichkeit der Wohnung, Freizügigkeit, Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis.
Über den Grundrechtskatalog in Art. 1 bis 19 hinaus enthält das Grundgesetz noch weitere Grundrechte:
Art. 20 Abs. 4: Widerstandsrecht,
Art. 33: Gleicher Zugang zu öffentlichen Ämtern,
Art. 38: Wahlrecht,
Art. 101, 103 und 104: Justizielle Grundrechte.
Der Datenschutz ist in Deutschland noch nicht ausdrücklich im Grundgesetz verankert. In viele Verfassungen der Länder ist das Recht auf den Schutz der personenbezogenen Daten allerdings aufgenommen.
Mit dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983 wurde früh das "Recht auf informationelle Selbstbestimmung" festgeschrieben. Das Bundesdatenschutzgesetz von 1990 trug in der Folge dazu bei, "den Einzelnen davor zu schützen, dass er durch den Umgang mit seinen personenbezogenen Daten in seinem Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt wird" (Paragraf 1). Mit zwei weiteren Urteilen hat das Bundesverfassungsgericht 2008 (27. Februar und 11. März) das Recht auf informationelle Selbstbestimmung erheblich gestärkt und sogar ein neues Grundrecht zum Schutz der digitalen Kommunikation geschaffen.
Garantien der Grundrechte
Im Unterschied zur Weimarer Verfassung sind die Grundrechte im Grundgesetz mit besonderen Garantien ausgestattet:
Artikel 1
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
Die Grundrechte sind geltendes Recht. Keine der drei Staatsgewalten kann etwas tun oder unterlassen, was im Widerspruch zu ihnen steht. Die Grundrechte können notfalls bis zum Bundesverfassungsgericht eingeklagt werden.
Artikel 79
(1) Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes aus- drücklich ändert oder ergänzt. (...)
(2) Ein solches Gesetz bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates.
(3) Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.
Die Grundrechte dürfen nicht beseitigt werden. Auch eine mit Zweidrittelmehrheit beschlossene Verfassungsänderung darf die Grundsätze der Unantastbarkeit der Menschenwürde und der Rechtsstaatlichkeit, die auch die Garantie der Grundrechte enthalten, nicht antasten.
Artikel 19
(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. (...)
(2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.
Nur solche Grundrechte dürfen eingeschränkt werden, für die dies im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen ist. Zum Beispiel ist das Grundrecht der Versammlungsfreiheit für Versammlungen unter freiem Himmel durch das Versammlungsgesetz eingeschränkt (Art. 8 Abs. 2). Solche gesetzlichen Beschränkungen müssen allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Die "Bannmeile" um Parlamente zum Beispiel gilt für alle. Ein Grundrecht darf nicht in seinem Kern ("Wesensgehalt") angetastet werden. Wenn Versammlungen unter freiem Himmel eingeschränkt sind, bleibt die Versammlungsfreiheit grundsätzlich erhalten.
Die Grundrechte dürfen nicht aberkannt werden. Wer aber bestimmte Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt sie, das heißt, er kann sich beim Einschreiten der Staatsgewalt nicht auf das betreffende Grundrecht berufen.
Gegen Versuche, die verfassungsmäßige Ordnung und damit die Grundrechte zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand.
Soziale Grundrechte
Die Bundesrepublik Deutschland ist nach Art. 20 ein Sozialstaat. Das Grundgesetz enthält aber nur wenige soziale Grundrechte. Darin unterscheidet es sich von der Weimarer Verfassung, die weitreichende soziale Verpflichtungserklärungen aufweist, darunter die Zusicherung, jeder Deutsche solle die Möglichkeit haben, durch Arbeit seinen Unterhalt zu erwerben. Diese begründeten keine Rechtsansprüche und blieben folgenlos, weil sie angesichts der wirtschaftlichen Misere nicht eingelöst werden konnten.
Soziale Grundrechte unterscheiden sich von den überlieferten Freiheits- und Gleichheitsrechten in einem zentralen Punkt. Die Letzteren schützen Rechte der Bürger. Sie fordern vom Staat, Eingriffe zu unterlassen, und sind gerichtlich einklagbar. Soziale Grundrechte begründen Ansprüche von Bürgern. Sie fordern vom Staat, Eingriffe vorzunehmen. Die Problematik wird deutlich, wenn die Konsequenzen bedacht werden: Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13) beispielsweise schützt den Einzelnen vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen in die Privatsphäre. Ein Grundrecht auf Wohnung würde den Staat verpflichten, jedem Bürger eine angemessene Wohnung zu verschaffen. Wohnungen müssten auf Staatskosten errichtet und vom Staat verwaltet werden. Es müsste gesetzlich geregelt werden, welche Wohnfläche jedem zusteht und wie viel dafür zu zahlen ist.
Ein Grundrecht auf Arbeit würde den Staat in die Pflicht nehmen, jedem einen Arbeitsplatz zu garantieren. Der Staat müsste selbst Arbeitsplätze schaffen oder die Privatwirtschaft veranlassen, Arbeitsplätze bereitzustellen. In jedem Fall müsste der Staat für die finanziellen Folgen einstehen, wenn die Arbeitsplätze sich als nicht wirtschaftlich erweisen. Die erforderliche staatliche Lenkung des Arbeitsmarktes würde das Grundrecht auf freie Wahl des Berufs und des Arbeitsplatzes sowie die Tarifautonomie einschränken.
Angesichts der begrenzten finanziellen Mittel könnten Ansprüche, die aus sozialen Grundrechten erwachsen, immer nur begrenzt eingelöst werden. Unerfüllte Ansprüche müssten zur Enttäuschung führen und könnten Zweifel an der Verbindlichkeit der Verfassung auslösen.
In den Verfassungen zahlreicher Bundesländer, darunter in denen aller neuen Bundesländer, sind soziale Rechte auf Arbeit, soziale Sicherheit und Wohnung niedergelegt. Es sind Staatszielbestimmungen mit allgemein verpflichtendem Charakter und Bindung an die finanziellen Möglichkeiten. In der brandenburgischen Verfassung heißt es beispielsweise: "Das Land ist verpflichtet, im Rahmen seiner Kräfte für die Verwirklichung des Rechts auf soziale Sicherung, (... auf eine angemessene Wohnung, ... auf Arbeit) zu sorgen." (Art. 45, 47, 48)
Rechte und Pflichten
Das Grundgesetz spricht, anders als die Weimarer Verfassung, nicht ausdrücklich von Grundpflichten. Nur einige wenige Pflichten sind aufgeführt, so die Pflicht zur Verfassungstreue für Inhaber des (wissenschaftlichen) Lehramts (Art. 5 Abs. 3), die Pflicht der Eltern zur Pflege und Erziehung der Kinder (Art. 6 Abs. 2), die Wehrpflicht und die Pflicht zum zivilen Ersatzdienst (Art. 12 a).
Ein Katalog von Grundpflichten würde dem Geist einer demokratischen Verfassung widersprechen. Demokratie setzt voraus, dass jeder aus eigener Verantwortung seinen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft nachkommt.
Die selbstverständliche Verbindung von Rechten und Pflichten stellt Art. 33 Abs. 1 her: "Jeder Deutsche hat (...) die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten." Der Bestand des demokratischen Rechtsstaates hängt von der Einsicht eines jeden Bürgers ab, dass Rechte und Pflichten eine untrennbare Einheit bilden.
Die Menschenrechtskonvention des Europarats
Über die Garantie der Grundrechte im Grundgesetz hinaus genießen die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland auch den Grundrechtsschutz der Europäischen "Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten" (Europäische Menschenrechtskonvention=EMRK) des Europarats. Sie wurde 1950 verabschiedet und trat 1953 in Kraft. Das Abkommen verpflichtet die Mitgliedsstaaten, die klassischen Menschenrechte zu schützen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der in seiner heutigen Form als ständig tagendes Gericht seit 1998 besteht, ist aus Berufsrichtern zusammengesetzt. Jeder Mitgliedsstaat (Oktober 2009: 47) entsendet einen Richter. Die Amtszeit beträgt sechs Jahre. Die Einrichtung und die Verfahrenswege des Gerichtshofs sind in Abschnitt II der EMRK genau festgelegt. Beschwerden können von Mitgliedsstaaten gegen andere Mitgliedsstaaten erhoben werden (Staatenbeschwerde). Aber auch Bürger können, nachdem sie den innerstaatlichen Rechtsweg ausgeschöpft haben, Klage erheben (Individualbeschwerde).
Die Zahl der Anrufungen stieg von 404 im Jahr 1981 auf 40.000 im Jahr 2007. In diesem Jahr wurden 1.500 Entscheidungen gefällt. 27.100 Beschwerden wurden für unzulässig erklärt. Ende 2007 waren noch 80.000 Beschwerden anhängig. Wegen des großen Anfalls an Beschwerden wird die Verfahrensdauer immer länger. 2007 lagen 2.000 Verfahren mehr als fünf Jahre beim EGMR. Eine Reform soll die chronische Überlastung des Gerichtshofs vermindern, vor allem durch eine vereinfachte Abweisung unzulässiger Beschwerden. Sie ist Anfang 2006 von allen Mitgliedsstaaten des Europarats ratifiziert worden, mit Ausnahme Russlands, das damit die Reform bisher blockiert.
Alle Entscheidungen des Gerichtshofes sind verbindlich, sie müssen von den Staaten befolgt werden. Die Tätigkeit des Gerichtshofes hat wesentlich dazu beigetragen, dass Menschenrechte und Grundfreiheiten in Europa einen hohen Wert darstellen. Viele grundlegende Urteile, in denen Staaten verurteilt wurden, haben zu Änderungen der Gesetzgebung und des Umganges der Mitgliedsstaaten mit den Menschenrechten geführt.
Aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2009, S. 18-21.