Das Ergebnis des britischen Referendums zum Austritt aus der EU (
Was ist Populismus?
Es gibt keine konsistente Ideologie mit unverwechselbaren Elementen, die ein kohärentes Ganzes bilden, sondern nur ein aus wenigen Kernelementen bestehendes Narrativ. Populismus, so Peter Wiles, sei ein Syndrom, keine Doktrin
Yves Mény und Yves Surel heben drei Kernelemente des populistischen Narrativs hervor: (a) das Volk ist die Grundlage der politischen Gemeinschaft, (b) seine Souveränität wird von einigen Akteuren oder Prozessen missachtet, (c) dies müsse angeprangert und der Platz des Volkes in der Gesellschaft wieder hergestellt werden
Populistische Führer sind oft Außenseiter und homines novi. Häufig kommen sie aus der Wirtschaft wie Silvio Berlusconi, der Schweizer Christoph Blocher oder die Amerikaner Henry Ross Perot und Donald Trump. Der Niederländer Pim Fortuyn war als homosexueller, katholisch sozialisierter Intellektueller gleich in dreifacher Hinsicht ein Außenseiter. Individueller Reichtum ist kein Hindernis für ihren Erfolg, zeigt er doch, dass sie weder zum politischen Establishment gehören noch sich von finanzstarken Sponsoren korrumpieren lassen. Trump machte gegenüber seiner Konkurrentin Hillary Clinton geltend, er sei nicht von Wallstreet "gekauft", sondern unabhängig und daher glaubwürdig. Der eher pseudo-populistische amerikanische Präsident Jimmy Carter, als baptistischer Südstaatenfarmer ebenfalls ein Außenseiter, wich der Frage aus, ob er ein Liberaler oder ein Konservativer sei. Er sei Populist: "Ich habe die politische Unterstützung, den Zuspruch für mich und mein Anliegen direkt vom Volk selbst hergeleitet, nicht von mächtigen Mittelsmännern (intermediaries) oder von Vertretern spezieller Interessen.
Die zwei Säulen der modernen Demokratie
Angst vor Statusverlust, Zukunftsunsicherheit, die wachsende Kluft zwischen arm und reich oder Verteilungskonflikte auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt zwischen Autochthonen und Immigranten lassen sich nicht mehr als Gegensatz zwischen rechts und links abbilden, sondern erscheinen als Konflikt zwischen Volk und Eliten. Zentral zum Verständnis von Populismus ist daher die Frage nach dem Zugang zur Macht: Im Prinzip lehnen Populisten intermediäre Instanzen (vor allem Parteien und mediale Bildungseliten) zwischen dem Volk und der Macht ab, da diese den wahren Volkswillen verfälschten und nur ihre Sonderinteressen im Auge hätten. In der Praxis organisieren sie sich aber in Parteien und nehmen an Wahl teil.
Moderne Demokratien sind Mischsysteme und beruhen auf zwei Pfeilern: dem Konstitutionalismus (in Deutschland eher als Rechtsstaat bekannt) und der Volkssouveränität. Der Rechtsstaat hat ältere Wurzeln, steht für die Herrschaft des Gesetzes (rule of law) und garantiert konstitutionelle Rechte zum Schutz des Einzelnen oder von Minderheiten gegenüber staatlicher Omnipotenz. Volkssouveränität ist dagegen eine Errungenschaft der Französischen Revolution und besagt, dass alle Macht vom Volke ausgeht. Das Volk ist der Souverän, d.h. oberster Gesetzgeber und Kontrolleur der Demokratie und bringt seinen Willen durch Wahlen zum Ausdruck. Eine bloße Akklamationsdemokratie – also eine Art Zustimmung- bzw. Ablehnungsdemokratie eines de facto öffentlich versammelten Volkes –, wie sie von rechts (Carl Schmitt) propagiert wurde, entzieht dagegen dem Wahlvolk die Kontrolle.
Das Misstrauen liberaler Eliten gegenüber dem Volk oder den Massen war immer schon groß. Der Liberalkonservative Alexis de Tocqueville (1805-1859) warnte vor der "Tyrannei der Mehrheit". Edmund Burke (1729-1797) oder der französische Liberale François Guizot (1787-1874) erklärten, nicht das Volk sei der Souverän, sondern die Vernunft, zu der nur das Bildungs- und Besitzbürgertum befähigt sei (heute eher Experten, Fachleute oder Berufspolitiker). Das Volk, gleichgesetzt mit dem "niederen" Volk oder den bildungsfernen Massen, sei dagegen stimmungsabhängig, emotional, und verführbar. Nach der Einführung des allgemeinen und geheimen Wahlrechts hat man daher Filter eingebaut, um zu verhindern, dass der Volkswille unmittelbar zum Ausdruck kommt. Einer dieser Filter sind die Parteien. In der Weimarer Verfassung von 1919 wurden sie nicht erwähnt und galten nur als zivilgesellschaftliche Vereinigungen. Erst das deutsche Grundgesetz hat sie in den Rang von Verfassungsorganen erhoben und ihnen die Aufgabe zugewiesen, den politischen Willen zu bilden und zu aggregieren. Populisten halten diesen Bildungsauftrag der Parteien für eine Bevormundung mündiger Bürger. Sie fordern eine ungefilterte, nicht-mediatisierte Willensartikulation durch direkte Demokratie, entweder nach Schweizer Vorbild oder als Netzdemokratie, für die sich die italienische M5S stark macht.
Es lässt sich kaum bestreiten, dass die beiden Säulen der liberalen Demokratie zunehmend in ein Ungleichgewicht geraten sind. Von der Volkssouveränität ist kaum noch die Rede. Im Zuge des Mehr-Ebenen-Regierens in der EU habe sie ihre Relevanz eingebüßt, zumal es Rechtspopulisten zufolge gar kein europäisches Volk gäbe. Der Populismusforscher Guy Hermet bemerkt dazu: "Besonders auffällig ist, dass der Souveränität des Volkes, bislang als das Herzstück der Demokratie betrachtet, immer weniger Bedeutung beigemessen wird. (…) Es schleicht sich, allgemeiner gesagt, ein philosophischer Zweifel an der Relevanz der Volkssouveränität ein.
Rechtspopulismus als Rechtsextremismus light?
In Europa sind rechtsextreme Parteien wie die British National Party (BNP), die deutsche NPD oder ethnozentrische Regionalparteien wie der Vlaams Belang (Belgien) und die Lega Nord (Italien) im Niedergang. Ausnahmen sind die ungarische Partei Jobbik und der französische Front National (FN). Der FN versteht sich als nationalpopulistisch, ist aber für rechtsextreme Strömungen und Holocaust-Leugner offen. Mit einer von der AfD-Politikerin Frauke Petry als "sozialistisch" bezeichneten Sozialpolitik, zugleich aber mit der Öffnung gegenüber sexuellen Minderheiten ist Marine Le Pen, der Vorsitzenden des FN, gelungen, was der Linken immer weniger gelingt: die Verbindung materieller mit postmateriellen Werten und wählersoziologisch ein Bündnis zwischen unteren und mittleren sozialen Segmenten.
Zwischen konservativen Volks- oder Sammlungsparteien und dem rechtsextremen Rand sind neue Parteien entstanden, die trotz teilweise großer programmatischer Unterschiede in der Wirtschafts-, Sozial- und Familienpolitik als rechtspopulistisch gelten: in Großbritannien die United Kingdom Independence Party (UKIP), in Flandern die Neue Flämische Allianz (Nieuw Vlaamse Alliantie, N-VA), in Italien die M5S. Sie vertreten einen "Dritten Weges von rechts" (René Cuperus), erklären aber, weder rechts, noch links zu stehen, sondern auf der Seite der Bürger
Krise der Repräsentation, Krise der Partizipation, Krise der Souveränität
Wenn sozialdemokratische Parteien ihre Funktion als Volkstribun oder Anwalt der "kleinen Leute" nicht mehr wahrnehmen, konservative Volksparteien sich dagegen "sozialdemokratisieren" und als Modernisierer auftreten, führt dies führt zur Schwächung ihrer Integrationsfunktion, zu Vertrauenskrisen und Wählerschwund. Solche Parteien hinterlassen auf ihrem Weg zur Mitte an den Rändern ein Vakuum, in das rechtspopulistische, nur in Südeuropa auch linkspopulistische, Parteien eindringen und es mit ihren Themen besetzen.
Von Krise der Repräsentation ist die Rede, wenn sich viele Menschen von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten fühlen und sie als alternativloses Kartell wahrnehmen. Lange vor dem Kampf der spanischen Podemos gegen die "oligarquía" haben Klassiker des politischen Denkens wie Robert Michels, Josef Schumpeter oder Gerhard Leibholz auf die Tendenz zur Oligarchisierung von Parteien hingewiesen. Parteien nehmen nicht mehr ihre Funktion als Interessenvertretungsorgane zwischen Staat und Gesellschaft wahr, sondern mutieren zu einer abgeschotteten Kaste mit sinkender innerparteilicher Demokratie. Eng verbunden mit der Krise der Repräsentation ist die Krise der Partizipation. Sie liegt vor, wenn eine beträchtliche Anzahl von Wahlbürgern vor allem im unteren sozialen Segment an Politik nicht mehr partizipiert, aber einen Groll gegen "die da oben" hegt und nach Ventilen für ihre Verdrossenheit sucht.
Der dritte Aspekt, die Krise der Souveränität, bezeichnet Einbußen an nationaler Souveränität zugunsten transnationaler Organisationen wie der EU, aber auch den Verlust individueller Handlungskompetenz. "Mit Krisen", so Jürgen Habermas, "verbinden wir die Vorstellung einer objektiven Gewalt, die einem Subjekt ein Stück Souveränität entzieht, die ihm normalerweise zusteht.
Neue gesellschaftliche Trennlinien
Zeitdiagnostiker sprechen von einer neuen epochalen Trennlinie (cleavage) zwischen erstarkendem Nationalismus und liberaler Weltoffenheit. Näher betrachtet überlagern sich aber vier Konfliktlinien: ein Konflikt zwischen materieller und postmaterieller Werteorientierung, ein Konflikt zwischen repräsentativer und direkter Demokratie, ein Identitätskonflikt zwischen Nativismus
Die soziale Ungleichheit hat unter der Hegemonie des Neoliberalismus zugenommen; die Schere zwischen arm und reich ist weit auseinandergegangen. Das dealignment, d.h. die Abkehr des unteren sozialen Segments (ehemalige Industriearbeiter, junge Arbeitslose, die keinen Zugang zum Arbeitsmarkt finden, kleine Selbständige) von den Linksparteien hat zu einer Unterschichtung rechtspopulistischer Parteien geführt. Sie übernehmen die Funktion eines Fürsprechers bzw. Advokaten, die lang Zeit die Linke innehatte. Populisten richten sich aber nicht an eine bestimmte soziale Klasse oder Schicht, sondern an die Vergessenen (den forgotten man), die "einfachen Menschen" (plain people), die "schweigende Mehrheit", die "ganz normalen Leute", die nicht nur mit drohendem Statusverlust, sondern mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Missständen (aufgeblähte, aber ineffiziente Bürokratie, Korruption, mangelhafte Infrastruktur) konfrontiert sind. Der rasante Aufstieg der Fünf-Sterne-Bewegung zur zweitstärksten Partei Italiens ist auch auf das Versagen der etablierten Parteien und ihre Missachtung zentraler Bürgerbelange zurückzuführen. Mittlerweile hat sich die sozialdemokratische Partei unter Matteo Renzi viele soziale und ökologische Forderungen dieser Außenseiterpartei zu Eigen gemacht, auch wenn die Wähler eher dem Original als der Kopie den Vorzug geben
Ausblick
Die Gründe für den Erfolg rechtspopulistischer Parteien unterscheiden sich von Land zu Land, nach 1989 auch zwischen West- und Mittelosteuropa