Jüngst erschien die Wochenzeitung "Junge Freiheit" (JF) (Nr. 17/2008) mit folgender Schlagzeile auf der Titelseite: "Rettet die Alleinschuld! Geschichtsdebatte: Das deutsche Urheberrecht für die Eskalation des Zweiten Weltkriegs ist bedroht". Der Autor Thorsten Hinz berichtet darin von den Forschungsergebnissen des Historikers Bogdan Musial, der das Buch "Kampfplatz Deutschland. Stalins Kriegspläne gegen den Westen" (Berlin 2008) veröffentlichte. Nach der Aussage des JF-Stammautors belege es: "Mit seinem Überfall auf die hochgerüstete Sowjetunion am 22. Juni 1941 ist Hitler einem sowjetischen Angriff auf Deutschland zuvorgekommen". Das Thema sei brisant, "weil das Bekenntnis zur deutschen Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg – neben der permanenten Vergegenwärtigung des Holocaust – den einzigen Identitätsanker in diesem sonst identitätslosen Land darstellt." Es berühre den "geschichts- und staatspolitischen Lebensnerv der Bundesrepublik". Mit Freude konstatiert die JF-Titelseite dessen scheinbare Erosion durch ein anderes Geschichtsbild.
Doch wie angemessen ist die referierte und zitierte Deutung von Musials Buch überhaupt? Der Historiker widmet sich in seiner neuesten Studie der sowjetischen Außenpolitik gegenüber dem Westen zwischen 1920 und 1941: Der bolschewistischen Revolutionstheorie sei danach eine weltrevolutionäre Dimension eigen gewesen, welche in einer expansionistischen Militärstrategie und Außenpolitik mündete. Als besonderes Indiz dafür interpretiert Musial die ökonomische Konzentration auf die militärische Aufrüstung. Genaue Belege für konkrete Angriffsabsichten der Sowjetunion für den Herbst 1941 benennt er allerdings nicht. Gleichwohl geht Musial davon aus, dass ein solches Vorgehen für das Frühjahr 1942 geplant gewesen sei. Viele seiner Ausführungen bewegen sich im Konsens mit der bisherigen Forschung: Die weltrevolutionäre Perspektive hatte Stalin trotz seines Bekenntnisses zum Aufbau des "Sozialismus in einem Land" nie vergessen. Aufrüstung und Expansionsperspektiven prägten auch die Außenpolitik, wofür exemplarisch der Angriff der Roten Armee auf Finnland 1939 und 1940 steht.
Doch gerade dieses militärische Desaster für die Sowjetunion machte deutlich, dass die Truppen Stalins noch nicht einmal ansatzweise für einen Militärschlag gegen die weitaus besser gerüstete deutsche Wehrmacht vorbereitet waren. Wenn Historiker demnach davon ausgehen, dass im Herbst 1941 keine Absicht der Roten Armee zum Einmarsch in Westeuropa bestand, so hat dies nichts mit einem wirklichkeitsfremden Bild von der "friedliebenden Sowjetunion" zu tun. Man wäre schlicht und ergreifend noch nicht bereit dazu gewesen. Diese Auffassung vertritt auch Musial in seinem Buch. Er macht darüber hinaus deutlich, dass die Hitler-Regierung keineswegs von einem Angriff der Sowjetunion ausging. Dafür gibt es weder für die NS-Führung noch für die Wehrmacht historische Belege. Selbst wenn demnach die Sowjetunion einen Angriff beabsichtigt hätte, könnte man nicht von einem Präventivkrieg des NS-Regimes sprechen. Dies sieht nicht nur Musial so, sondern auch Herbert Ammon in seiner Rezension von dessen Buch in der gleichen Ausgabe der JF (S. 15).
Was macht nun aber der JF-Stammautor auf der Titelseite der Zeitung daraus? Entgegen der anderslautenden Position von Musial behauptet Hinz, der Historiker hätte trotz einiger "Verneigungen vor geschichtspolitischen Geßlerhüten" die These vom Präventivkrieg belegt. Das genaue Gegenteil ist allerdings der Fall, wie man selbst in der weiter hinten in der JF stehenden Buchbesprechung lesen kann. Offenkundig ist diese fehlerhafte Deutung durch ideologische Voreingenommenheit bedingt. Ob sie nur eine selektive Lesart oder schon eine manipulative Täuschung motivierte, lässt sich schwer sagen. Selbst wenn Hinz mit seiner Behauptung über Musials Buch richtig liegen würde, spräche dies aber nicht gegen die These von Deutschlands Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, begann dieser doch bekanntlich nicht 1941, sondern bereits 1939 mit dem Einmarsch in Polen.
Neben dieser falschen Darstellung der Positionen eines Historikers verdient der JF-Artikel aber auch wegen einiger demokratietheoretisch interessanter Implikationen Interesse. Die Zeitung stellt folgendes Zitat aus dem Text gesondert heraus: "Die Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg stellt den einzigen Identitätsanker dar." Diese Einschätzung bezieht sich auf den "Lebensnerv der Bundesrepublik". Wenn demnach die These von der "Alleinschuld" falle, so berühre dies auch die Legitimationsgrundlage der politischen Ordnung.
Genau dieser Zusammenhang erklärt, warum derartige manipulative Umdeutungen des Geschichtsbildes für die JF offenbar von so großer Bedeutung sind. Ihr geht es erkennbar darum, mit einer insgesamt wohlwollenderen Perspektive auf die NS-Vergangenheit den "staatspolitischen Lebensnerv der Bundesrepublik" zu treffen. Noch etwas platter formuliert hätte man solche Auffassungen auch in der "Nationalzeitung" lesen können. Exemplarisch steht der erwähnte Artikel aber nicht nur für bedenkliche Ideologien, sondern auch für schlechten Journalismus.