Der NSU-Prozess ist beendet, das Urteil umstritten. Anhand einer Indizienkette fanden die Richter am Oberlandesgericht München zu der Überzeugung: Beate Zschäpe und die vier Mitangeklagten sind schuldig. Viele Verteidiger und Opfervertreter sind mit dem Urteil nicht zufrieden. Die Verteidiger aller Angeklagten und die Bundesanwaltschaft haben Revision eingelegt. Die juristische Aufarbeitung ist noch nicht beendet. Ein größeres Verfahren gegen rechtsextremen Terrorismus hat es in der deutschen Nachkriegsgeschichte nicht gegeben: Mehr als fünf Jahre lang lief der Prozess um die Terrorgruppe NSU vor dem Oberlandesgericht München, am 11. Juli 2018 fiel das Urteil. Eine Erlösung? Ein Fanal? Ein Versagen? Das Ende?
Die Bilanz des Verfahrens hängt von der Interessengruppe ab, die sie zieht, denn der Prozess lässt sich nur schwer objektiv vermessen. Doch wie kam das Urteil zustande? Drei Neonazis, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, fliehen an einem Januarmorgen 1998 vor der Polizei. Aus dem Untergrund heraus ermorden sie acht Männer mit türkischem und einen mit griechischem Hintergrund sowie eine deutsche Polizistin, sie zünden drei Bomben, begehen 15 Raubüberfälle. Im November 2011 fliegt die Gruppe auf, die Männer töten sich. Zschäpe setzt die Zwickauer Wohnung der Gruppe in Brand und stellt sich der Polizei.
Von 2013 bis 2018 steht sie zusammen mit vier Helfern des NSU vor Gericht. Zschäpe erhält lebenslange Haft, die Richter stellen die besondere Schwere der Schuld fest. Sie ist schuldig der Mittäterschaft an allen Taten des NSU, der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, des versuchten Mords durch Brandstiftung. Die anderen Strafen sind breit gefächert: Wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung erhält Holger Gerlach, Beschaffer von falschen Ausweispapieren, drei Jahre Haft. Der ebenfalls als Terrorhelfer schuldige André Eminger bekommt zwei Jahre und sechs Monate. Wegen Beschaffung der Mordwaffe wird der seit Anbeginn geständige Carsten Schultze zu drei Jahren nach Jugendstrafrecht, der Mitangeklagte Ralf Wohlleben zu zehn Jahren verurteilt. Bislang liegt lediglich die mündliche Urteilsbegründung vor, die Richter Manfred Götzl innerhalb weniger Stunden verlas, und in der detaillierte Begründungen für Schuld und Strafen weitgehend ausgespart sind. Für die ausführliche Schriftfassung hat das Gericht rund ein Jahr und neun Monate Zeit. Dennoch lässt sich aus 438 Prozesstagen der Weg zum Urteil nachzeichnen.
Welche Rolle spielte Beate Zschäpe?
Verantwortlich für die lange Dauer des Prozesses war auch die Beweislage: Den einen unwiderlegbaren Beweis gegen Beate Zschäpe gab es nicht. Das ist insofern logisch, als Zschäpe unter anderem wegen Mordes durch Mittäterschaft verurteilt wurde. Der Mittäter muss nicht selbst eine Waffe abfeuern oder eine Bombe zünden; es reicht, wenn er die Taten mitträgt, sie "gemeinschaftlich" begeht, wie es im Strafgesetzbuch heißt.
Essentiell war im Fall der Hauptangeklagten die Erkenntnis: Beate Zschäpe war weder eine unwissende noch eine bedeutungslose Mitbewohnerin von Mundlos und Böhnhardt, sondern "gleichberechtigtes Mitglied"
Aus demselben Grund untersuchte der Senat selbst scheinbar belanglose Urlaube des Trios, vor allem auf der Insel Fehmarn. Die Aussagen von Zeltplatz-Nachbarn wurden zu Puzzlestücken, die das Bild der selbstbewussten Beate Zschäpe stützten. So sagten die Urlaubsbekanntschaften aus, Zschäpe habe die gemeinsame Kasse des Trios verwaltet, ein Familienvater sagte: "Die waren so ein Team zu dritt."
Streitpunkt Mitwisserschaft
Kontroversester Teil des Urteils ist die Frage, was die Angeklagten zur Zeit des NSU im Untergrund von den Terrorplänen wussten – denn davon hing im Falle der Mitangeklagten ab, ob sie unwissend alten Freunden halfen oder bewusst Terroristen unterstützten. Für alle fünf Angeklagten stellte das Gericht fest, dass sie in die Mordabsichten des NSU eingeweiht waren.
So hatte Holger Gerlach laut Ergebnis der Beweisaufnahme eine später nicht verwendete Pistole an den NSU überbracht, zudem war ihm klar, dass die Mitglieder der Gruppe über Waffengewalt als politisches Werkzeug diskutiert hatten – er habe mithin die entsprechenden Schlüsse ziehen müssen. Ähnlich Ralf Wohlleben, der seinen Kameraden Carsten Schultze die bei neun Morden eingesetzten Waffe Ceska 83 mit Schalldämpfer besorgen ließ. André Eminger hielt bis zuletzt engen Kontakt zu Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe, teilte die rechtsradikale Einstellung der drei und ließ sich darauf ein, sie beim Leben im Untergrund zu unterstützen.
Die Verteidiger wiederum hatten in den Plädoyers für alle fünf Angeklagten die Mitwisserschaft bestritten. Waffenbeschaffer Carsten Schultze etwa handelte laut seinen Anwälten "nicht bedingt vorsätzlich", rechnete also nicht damit, dass mit der Pistole Menschen erschossen werden. Die Verteidigung forderte Freispruch.
Im Dezember 2015 machte Beate Zschäpe eine Aussage, in der sie behauptete, sie habe von den Morden stets erst im Nachhinein erfahren. Sie habe sich dagegen ausgesprochen und gegenüber Mundlos und Böhnhardt gedroht haben, sich bei der Polizei zu stellen.
Ähnlich waren es auch bei den anderen Angeklagten insbesondere Zeugenaussagen oder interpretationsoffene Selbstbelastungen
Trio-These vs. Netzwerk-These
Nach Ansicht insbesondere mehrerer Anwälte der Nebenklage war der Prozess unter falscher Prämisse gestartet: Der NSU habe in Wahrheit aus mehr Mitgliedern bestanden, die sich nicht nur Beihilfehandlungen, sondern der Mittäterschaft schuldig gemacht hätten.
So bildeten sich in kurzer Zeit zwei gegensätzliche Thesen zur Größe des NSU heraus. Auf der einen Seite jene der Bundesanwaltschaft mit einer klaren Begrenzung: "Die terroristische Zelle bestand ausschließlich aus den drei Personen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe."
Auf der anderen Seite steht die von einer Vielzahl von Nebenklageanwälten vertretene These, nach der die Gruppe NSU Teil eines Netzwerks war, in dem es neben Helfern auch gleichberechtigte Mittäter gab. Dafür spreche etwa die große Zahl von 20 Schusswaffen im Fundus des NSU, deren Herkunft in 17 Fällen ungeklärt ist.
Der Annahme einer größeren Gruppe lagen zudem Hinweise auf gemeinsame Vorbereitungen von Anschlägen zugrunde – so schloss eine Reihe von Nebenklageanwälten aus einer Zeugenaussage, dass der Chemnitzer Rechtsextremist Jan W. an der Ausspähung einer Berliner Synagoge beteiligt war.
Die Nebenklageanwälte beantragten wiederholt, mutmaßliche Helfer der Untergetauchten aus der rechtsextremen Szene als Zeugen zu laden oder auf anderem Wege Erkenntnisse über sie zu gewinnen. So wurde beispielsweise beantragt, die frühere Leiterin des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes als Zeugin zu laden, da sich Hinweise ergeben hätten, ein örtlicher Neonazi sei am ersten Sprengstoffanschlag von Köln aus dem Jahr 2001 beteiligt gewesen.
Im Urteil schließlich galten drei Personen als Hauptverantwortliche: "Keinen Zweifel lässt Götzl aufkommen, dass der Senat nur Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos für die NSU-Täter hält", fasst Gisela Friedrichsen in der Welt zusammen. Für weitere Mittäter hätten sich außer in "den geradezu beschwörenden Behauptungen mancher Opfer und deren Anwälten" auch keine Anhaltspunkte gefunden.
Verfassungsschützer und V-Leute als Zeugen
Mehrfach wurden Mitarbeiter des Verfassungsschutzes sowie früherer V-Personen, also Informanten der Geheimdienste, als Zeugen gehört. Dabei ging es zumeist um Ermittlungen kurz nach dem Untertauchen des NSU-Trios 1998. Für Reibung sorgten erneut die unterschiedlichen Interessen von Nebenklagevertretern und Gericht. Die Anwälte bemühten sich dabei, auch das postulierte Versagen der Ermittlungsbehörden herauszuarbeiten.
Schwierig sei dies allein schon gewesen, weil "die Bundesanwaltschaft den Verfassungsschutz weitgehend aus dem Verfahren heraushalten will", wie der Nebenklageanwalt Stephan Kuhn behauptete. Die Anklagebehörde habe sich gegen viele Vernehmungen gesträubt.
Die Vernehmungen gestalteten sich kompliziert. Für die Befragung des früheren V-Manns Carsten Sz. wollte das Brandenburger Innenministerium zunächst keine Aussagegenehmigung erteilen, entschied nach erheblichem öffentlichen Druck dann jedoch anders.
In der mündlichen Urteilsbegründung spielten Angaben von Verfassungsschützern keine Rolle. Auf die mutmaßlichen Fehler von Ermittlern und Geheimdienst ging Richter Götzl mit einem indirekten Satz ein, als er feststellte, dass sich schon frühzeitig "an Deutlichkeit nicht zu überbietende Hinweise auf die Gefährlichkeit" des Trios ergeben hätten.
Die Urteilsverkündung
Am 11. Juli 2018 fiel das Urteil. In der mündlichen Urteilsbegründung bestätigte Richter Götzl weitgehend die Rekonstruktion der Taten, wie sie die Bundesanwaltschaft in der Anklageschrift vorgelegt hatte. Als entscheidendes Merkmal der Mittäterschaft Zschäpes führte Götzl an, dass Zschäpe dafür zuständig war, das rund 15-minütige Bekennervideo des NSU auf DVD zu verschicken, um "größtmögliche Verunsicherung in der Bevölkerung" zu verursachen. Sie sollte so den Akt des Terrorismus komplettieren, selbst dann, wenn Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt dazu nicht mehr in der Lage waren. Daher sei ihr Tatbeitrag "von essentieller Bedeutung" gewesen. Zschäpe musste folglich in die "gemeinsam [vereinbarte] Gesamtkonzeption" eingeweiht gewesen sein.
Deutlich wird an dieser Begründung, dass zumindest die Verteidigungsstrategie von Zschäpes erst im Laufe des Verfahrens hinzugekommenen Anwälten Mathias Grasel und Hermann Borchert bei den entscheidenden Argumenten ins Leere lief. In einer Stellungnahme zum Urteil schrieb Grasel: "Frau Zschäpe war nachweislich an keinem Tatort anwesend und hat nie eine Waffe abgefeuert oder eine Bombe gezündet."
Auch in der Verteidigungsstrategie der sogenannten Altverteidiger Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm offenbarten sich Diskrepanzen im Vergleich zum Urteil: An drei der sieben Tage ihres Plädoyers im Juni 2018 ging es einzig um das Feuer, das Zschäpe nach dem Tod ihrer Komplizen in der Zwickauer Wohnung des NSU gelegt hatte, um Beweise zu vernichten.
Wie es nach dem Urteil weitergeht
Das öffentliche Echo auf das Urteil war überwiegend einhellig: Das Urteil gegen Beate Zschäpe wurde begrüßt, die gegen ihre Mitangeklagten als mild gewertet. "Ein Urteil, das an einer erwartbaren Stelle hart, an einer unerwarteten Stelle zu hart und an einigen unerwarteten Stellen zu milde war", nannte es der Opferanwalt Mehmet Daimagüler (mit "zu hart" ist die Strafe für Carsten Schultze gemeint).
Einer gerichtlichen Aufklärung war mehreren dieser Fragen durch die engen Grenzen der Strafprozessordnung von Anfang an der Boden entzogen. Denkbar ist allerdings, dass sich andere mutmaßliche NSU-Helfer einem Verfahren stellen müssen: Der Generalbundesanwalt führt nach wie vor Ermittlungsverfahren gegen neun Beschuldigte und ein weiteres Verfahren gegen Unbekannt.
Die Überprüfung des Urteils vor dem Bundesgerichtshof steht noch aus: Die Verteidiger aller Angeklagten haben Revision eingelegt. Sie müssen diese noch begründen, sobald die schriftliche Urteilsbegründung vorliegt. Die Bundesanwaltschaft hat ihrerseits Revision gegen das Urteil gegen André Eminger eingelegt.
Damit kann der Fall NSU auch juristisch noch lange nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Er wird weiter Gerichte beschäftigen. Ob dabei auch die Aufklärung weitergeht, ist eine andere Frage.