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Nationalismus und Rassismus bei "Russlanddeutschen"? | Rechtsextremismus | bpb.de

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Nationalismus und Rassismus bei "Russlanddeutschen"?

Nikolai Klimeniouk

/ 18 Minuten zu lesen

Obwohl Russlanddeutsche mit 2,4 Millionen die größte Gruppe unter den 6,5 Millionen deutschen Wählern mit Migrationshintergrund darstellen, wurden sie von der soziologischen Forschung lange Zeit vernachlässigt. Dennoch wird ihnen immer wieder eine verstärkte Affinität zu rechtskonservativen Parteien und Positionen unterstellt. Nikolai Klimeniouk mit einer Analyse.

Demonstranten protestieren am 23.01.2016 in Berlin vor dem Kanzleramt gegen eine angebliche Vergewaltigung einer Minderjährigen aus einer deutsch-russischen Familie im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Laut Polizeiangaben hat es weder eine Entführung noch eine Vergewaltigung gegeben. (© picture-alliance/dpa)

"Um sich zu verteidigen, erfanden Deutsche die Atombombe, den Nebelwerfer, die Panzerfaust, Raketen und fliegende Untertassen. Die heutige EU beruht auf Prinzipien vom vereinten Europa, die Deutsche zwischen 1939 und 1944 entwickelt hatten", – dieser Satz, geschrieben im Jahre 2017, ist durchaus ernst gemeint. Er steht in einem Artikel, den das Medium "Heimat-Rodina" veröffentliche, eine "zweisprachige Zeitung für Russlanddeutsche in ganz Deutschland", die als Blatt und Website von der "Bundesvereinigung Heimat e.V". herausgegeben wird und als Sprachrohr der Minipartei "Die Einheit" agiert.

Der Autor heißt Reinhold Schulz, auch Papa Schulz genannt, geboren 1949 als Roman Assafowitsch Schulz in Syktywkar im Norden Russlands, seit 1990 wohnhaft im hessischen Gießen. Papa Schulz, seines Zeichens ein Satiriker, ist hoch produktiv. Man muss gar keine Parteiveranstaltungen von "Der Einheit" besuchen oder Nischenblätter lesen, um auf seine Texte zu stoßen. Es reicht, in einem Laden einzukaufen, der russische Lebensmittel führt, und dort eine kostenlose Werbezeitung zu nehmen, zum Beispiel die mit dem harmlosen Titel "Krugosor", Gesichtskreis. Ganz prominent zwischen Anzeigen von russischsprachigen Bestattungsunternehmern und Reiseagenturen steht Papa Schulzens Besprechung der ZDF-Sendung "Dunja Hayali" mit dem russlanddeutschen AfD-Bundestagskandidaten Waldemar Birkle. Neben dem überschwänglichen Lob an den Kandidaten finden sich im Text auch solche Passagen: "Wir haben das Gefühl, wir leben schon in Afrika. Die Moderatorin Dunja Hayali, Iranerin und Lesbe, scheinbar klug, aber mit linkem Gewinde, ist nicht von unserem Garten, aber in ihren eigenen Garten lässt man sie auch nicht mehr rein" oder "Aussiedler sind sehr zahlreich, bekommen aber keine interessante Arbeit. Im Deutschen Fernsehen gibt es Moderatoren und Nachrichtensprecher von allen möglichen Sorten, Deutsche sind unter ihnen mittlerweile eine Minderheit".

Rechte Narrative gehören in russischsprachigen Medien zum Mainstream

Es liegen keine Daten vor, wie verbreitet nationalistische und fremdenfeindliche Vorstellungen unter deutschstämmigen Einwanderern aus der UdSSR sind. Obwohl sie mit 2,4 Millionen die größte Gruppe unter den 6,5 Millionen deutschen Wählern mit Migrationshintergrund darstellen, wurden sie von der soziologischen Forschung lange Zeit vernachlässigt. "Meine Professur ist die einzige, die explizit den Russlanddeutschen gewidmet ist", – sagte Prof. Janis Panagiotidis von der Universität Osnabrück gegenüber dem Autor. "Alles in allem gibt es ein krasses Missverhältnis zwischen der Größe der Zuwanderergruppe und dem akademischen Interesse. Es liegt an einer Kombination von Faktoren: nachdem die erste Panik über gewalttätige russlanddeutsche Jugendliche abebbte, flossen auch die Forschungsgelder nicht mehr. Nachhaltige Forschungsförderung ist eh der deutschen Hochschulpolitik Sache nicht, von daher sind da auch gute Ansätze einfach im Sande verlaufen, weil das Geld ausging. Und ForscherInnen, die sich gerade in den 90er Jahren sehr verdient gemacht haben mussten irgendwann auch mal was anderes machen".

Die im Juli 2017 vorgestellte Studie von Achim Goerres, Sabrina Jasmin Mayer und Dennis Spies basiert auf Fokusgruppen und kann daher keine quantitativen Daten über politische Einstellungen von Russlanddeutschen liefern, weist aber auf einige wichtigen Eigenschaften dieser Gruppe hin. Ihre Vorstellung vom Deutschsein, die vor allem auf Ethnizität beruht, werde von der Mehrheitsgesellschaft in der Bundesrepublik nicht geteilt, besonders deutlich sei dieser Unterschied bei der älteren Generation ausgeprägt. Im Gegensatz zu anderen Einwanderergruppen zeichnen sich die UdSSR-stämmigen Aussiedler durch ihre Sympathien für rechtskonservative Parteien aus. Sie wurden seit den 1990er Jahren gezielt von rechtsextremen Parteien angesprochen, meistens ohne Erfolg. Jetzt aber neigen zumindest einige Russlanddeutsche zur AfD, die um ihre Gunst vor allem mit Antiflüchtlingsthemen wirbt. Die These, dass die AfD gar die Lieblingspartei der Russlanddeutschen sei, ist indes empirisch nicht haltbar.

Sehr ausgeprägt, gar dominierend sind fremdenfeindliche Motive in den Medien, die sich an die russischsprachige Minderheit in Deutschland richten. Das Leitmotiv der Medien, die überhaupt gesellschaftliche und politische Themen anfassen, ist in der Regel Migration; sie wird generell als das dringendste Problem Deutschlands dargestellt. Selbst relativ moderate Zeitungen verbreiten ein Bild, das weitgehend mit rechten Diskursen (Überfremdung und Islamisierung, Flüchtlingskatastrophe, "illegale Einwanderung" statt Flucht, pauschalisierende Darstellung nichteuropäischer Einwanderer als Sexualtäter, Islamisten und Terrorsympathisanten etc.) übereinstimmt, auch wenn sich die Sprache im verhältnismäßig neutralen Rahmen hält.

Die Wochenzeitung "Russikij Berlin" z.B., die in den meisten Zeitungskiosks der Hauptstadt verkauft wird und als "Russkaja Germanija" überall in Deutschland, präsentiert sich als Partner der Stadt und schmückt ihre Titelseite mit Berlins offiziellem Logo. Von den zehn Titelgeschichten einer beliebig ausgewählten Ausgabe waren fünf dem islamistischen Terror gewidmet, unter Anderem einem kleinen Zwischenfall in Paris, der kaum Beachtung in deutschen Medien fand. Die ersten neun Seiten der Zeitung sind Ressort Deutschland und EU, Beiträge zu den Themen islamistischer Terror und Kriminalität muslimischer Einwanderer stehen auf fünf davon. Das ist kein Zufall und keine Ausnahme, diese Struktur wiederholt sich in der Zeitung von Ausgabe zu Ausgabe. Die Titelgeschichte im Wahlmonat September: "Bundesrepublik Deutschland bleibt das Hauptziel für illegale Migranten, die nach Westeuropa eindringen". Diese Wortwahl (beispielsweise illegale Migranten statt Flüchtlinge, "eindringen" etc.) verbindet man in Deutschland vor allem mit der Rhetorik der AfD und der rechten Szene, im Kontext der russischen Medien fällt sie dagegen gar nicht als besonders rechts auf.

Die Deutschland-Ausgabe des russischen Massenblatts "MK" ist um einiges drastischer: Nach der Titelgeschichte „Migrationskrise: die Zahl der Flüchtlinge steigt wieder“ kommen nebeneinander nahezu identisch bebilderte Berichte über einen Nazi-Mob auf Seite zwei und über steigende Flüchtlingszahlen auf Seite drei. Auf Seite vier wird behauptet, Deutschland denke über eigene Atomwaffen nach, der Text heißt "Atomares Reich". Ob dies gut oder schlecht ist, lässt der Text offen, andere Aussagen sind dagegen eindeutig: "Wladimir Putin hat tausendmal recht, wenn er sagt, dass alle Versuche, eine monopolare Welt zu erschaffen, gescheitert sind". Diese Kombination aus Fremdenfeindlichkeit, abenteuerlichen Beschuldigungen der Bundesregierung, Antiamerikanismus, Souveränitätsfantasien und Putin-Verehrung (auch werden Vertreter von Miniparteien als „deutsche Politiker“ zitiert) findet man in Deutschland typischerweise in sogenannten alternativen Medien. In der russischen Berichterstattung gehört sie dagegen zum Standard, diese Normalisierung der ultrarechten Narrative zeigt sich am Beispiel von "MK" besonders deutlich: Das namengebende russische Medium ist eine auflagenstarke Zeitung, die früher eher für ihre liberaldemokratische und humanistische Haltung bekannt war und selbst heute, obwohl es längst als Boulevardblatt gilt, teilweise noch in dieser Tradition steht.

Der Fall Lisa: Kooperation zwischen russlanddeutschen Nationalisten und russischen Medien

Wie wirksam russische Medien die Agenda rechtsradikaler Gruppen in Deutschland unterstützen können, zeigte der sogenannte Fall Lisa. Im Januar 2016 fanden in mehreren Städten der Bundesrepublik Demonstrationen von Russlanddeutschen statt, die gegen Flüchtlinge, Muslime und vermeintliche Untätigkeit der deutschen Justiz protestierten. Der Anlass war eine angebliche Entführung und Vergewaltigung durch "Südländer" des damals 13-jährigen russlanddeutschen Mädchens Lisa aus dem Berliner Bezirk Marzahn. So erklärte Lisa ihren Eltern, warum sie eines nachts nicht nach Hause gekommen war. Die Polizei befragte das Mädchen und stellte fest, dass sie die Geschichte erfunden hatte. Die Familie, die gute Kontakte in der rechten Szene haben soll, war dagegen überzeugt, dass die Polizei Verbrechen von Muslimen vertusche. Lisas Verwandte verbreiteten die Geschichte in sozialen Netzwerken, am 16. Januar sprachen sie bei einer NPD-Demonstration. Am selben Abend strahlte das russische Staatsfernsehen in der Abendnachrichtensendung einen Bericht aus, in welchem es den Fall als eine erwiesene Tatsache und die NPD-Demo als Massenproteste von Russlanddeutschen darstellte und einige russisch sprechende Demonstranten zeigte, die zum Widerstand und zur Gewalt gegen Flüchtlinge aufriefen.

Einer der Sprecher im Bericht war der Onkel des Mädchens, der AfD-Aktivist Tim Weigel (eigentlich Timofej Sagrebalow), der den Tränen nahe über „diese Biester“ schimpfte und behauptete, die Polizei habe das Mädchen zur Aussage gezwungen, sie habe es selbst gewollt und habe selbst „diese armen Männer“ verführt. Nach diesen Berichten schaltete sich als Organisator von Demonstrationen der sogenannte "Konvent der Russlanddeutschen" ein. Diese weitgehend virtuelle Vereinigung von geschätzt 20-30 meist älteren ultrarechten Männern wurde 2002 von Heinrich Groth gegründet, der zweitweise zum Vorstand der rechtsradikalen "Deutschen Partei" gehörte. Groth war noch in der UdSSR in der russlanddeutschen Autonomiebewegung "Wiedergeburt" aktiv und soll schon damals Kontakte zu Geheimdiensten gehabt haben. Mit medialer Unterstützung aus Russland (später meldete sich sogar der russische Außenminister Sergej Lawrow zu Wort) gelang es den Aktivisten, einige Hundert Menschen in verschiedenen Städten Deutschlands zu mobilisieren und auf die Straße zu bringen. Die Proteste führten vor allem dazu, dass sie ein Interesse der deutschen Öffentlichkeit für die russlanddeutsche Minderheit weckten und sie für das Thema einer möglichen Einmischung Russlands in die innerdeutschen Prozesse sensibilisierten.

Bei den Ermittlungen fand die Polizei Hinweise darauf, dass Lisa schon vor dieser Episode sexuelle Kontakte zu einem volljährigen jungen Erwachsenen türkischer Abstammung hatte. Diese Kontakte waren laut Gericht zwar einvernehmlich, da Lisa aber unter 14 war und er 24, war das dennoch eine Straftat, und zwar schwerer sexuellen Missbrauch eines Kindes und das Erstellen kinderpornografischer Schriften, da der Täter Ismet S. auch Videos machte. Der Mann wurde zu einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung verurteilt, für Heinrich Groth ein klarer Beweis dafür, dass der Fall "kein Fake und kein russisches Propagandamärchen" sei, wie er auf der Website des Konvents Genosse.su formuliert. Normalerweise beschränkt sich die Tätigkeit des Konvents weitgehend auf das betreiben dieser Website. Sie berichtet über Groths gelegentliche Auftritte und veröffentlicht Texte einer recht überschaubaren Gruppe von Autoren, zu denen auch der bereits erwähnte Papa Schulz gehört.

Hüter des wahren Deutschtums

Inhaltlich steht Genosse.ru in einer Reihe mit anderen deutsch- und russischsprachigen rechtsnationalen russlanddeutschen Medien, die auf Papier oder im Internet erscheinen: "Heimat-Rodina", "Ost-West-Plattform", "Die Russlanddeutschen Konservativen" (volksdeutsche-stimme.eu). Dort stößt man auf immer dieselben Gesichter (u.A. Groth, Schulz und russlanddeutsche Aktivisten der AfD) und immer dieselben Themen: Direkte und indirekte Werbung für die AfD, kriminelle Muslime, Umvolkung und Überfremdung, Verrat der deutschen Eliten am deutschen Volk, Souveränität Deutschlands. Es gibt aber auch spezifische Motive: Das Leiden der Russlanddeutschen in der UdSSR (keiner Volksgruppe sei dort schlechter gegangen), unfaire Behandlung der Aussiedler in der Bundesrepublik und Russlanddeutsche als Bewahrer des echten Deutschtums.

"Viele Russlanddeutsche stellten sich hier in der BRD die Frage: bin (sic!) ich Russe oder Deutscher? Denn man passte nicht in die Gesellschaft, wo Kindern in der Grundschule erzählt wird, man könne sich das Geschlecht frei wählen! Man verachtete ein System, das dich für einen Barbaren hielt, weil du die Meinung vertrittst, Homosexualität gehöre nicht in die Öffentlichkeit! Man staunte, dass echter deutschen Kultur und Kultur überhaupt in den Medien kaum Beachtung geschenkt wurde! Man wunderte sich, dass traditionelle Werte beim kosmopolitischen Drang weichen, jedoch gleichzeitig fundamentaler Islamismus aus politischer Korrektheit toleriert wird! Die BRD war für Russlanddeutsche in dieser Hinsicht eine Enttäuschung. Es war nicht das Deutschland, von dem Opa und Vater in Kasachstan, am Ural, oder in Sibirien erzählt haben", – Texte wie diesen liest man in vielen Foren, Communitys und Zeitungen.

Dass das wirkliche Deutschland nicht dem idealisierten, fantastischen Bild aus Opas Erzählungen entspricht, ist freilich nicht der einzige Grund, warum es diese Autoren enttäuschte. Die meisten Russlanddeutschen waren in der UdSSR und deren Nachfolgestaaten alltäglichen Schikanen und Anfeindungen ausgesetzt, die mit der Aufhebung der staatlichen Diskriminierung keineswegs verschwunden waren. Viele von ihnen haben gehofft, in Deutschland diesem Druck endlich zu entkommen und nie wieder Nachteile als Deutsche erleben zu müssen. Umso traumatischer war die Erfahrung der Aussiedler, dass sie in der "historischen Heimat" gar nicht als Heimkehrer begrüßt, sondern als "Russen" abgestempelt und, obwohl sofort nach der Einreise eingebürgert, trotzdem als Ausländer behandelt wurden.

In rechten Kreisen erstreckt sich der Unmut darüber nicht nur auf die „unfreundliche“ Gesellschaft, sondern auch auf den "ungerechten" und "ausgrenzenden" Staat: "[Die Bezeichnung "Mensch mit Migrationshintergrund"] zielt darauf ab, die Deutschen aus Russland, Menschen, die gesetzlich als deutsche Volkszugehörige anerkannt sind, dennoch in eine Kategorie mit Ausländern bzw. mit Menschen ausländischer Herkunft zu verschieben. Mit dem Aufkommen dieses pauschalisierenden Schmähwortes wird einem klar, wie sehr man sich bestrebt sieht, die Russlanddeutschen trotz des Bundesvertriebenengesetzes, das ihre Stellung als Deutsche und dazu noch als Deutsche nach Abstammung in diesem Land sichern soll, zu Fremden zu degradieren. Damit werden jegliche Bestrebungen der Russlanddeutschen, in diesem Land anzukommen (sic!) von vornherein zu Nichte gemacht".

Das Wort "Migrant" hat im modernen russischen Sprachgebrauch den Charakter einer Beschimpfung, kaum jemand verwendet es in Russland (zumindest außerhalb des akademischen Diskurses) als einen neutralen Terminus. Das hat mit der weitgehend fremdenfeindlichen Einstellung der Gesellschaft zu tun, die sich nicht nur gegen nichteuropäische Ausländer richtet, sondern auch gegen eigene Bürger aus nichtmitteleuropäisch geprägten Regionen, vor allem aus dem Nordkaukasus. Die Medien verwenden es fast ausschließlich im negativen Kontext, oft als Synonym für "nichteuropäische Ausländer", selbst für Menschen, die gar keine Migranten oder Ausländer sind. Diese Einstellung wurzelt nicht zuletzt in der sowjetischen Nationalitätenpolitik, die zwar Völkerfreundschaft propagierte, de facto aber Blut-und-Boden-Theorien in die Praxis umsetzte. Alle Bürger wurden einer Ethnie zugeordnet, die im Pass vermerkt war, dabei wurden diese Ethnien willkürlich zu einer Hierarchie rangiert: Manche bekamen als eine Art staatstragende Völker eigene Unionsrepubliken, anderen wurden nationale Autonomien zugewiesen, und manche bekamen kein Territorium, sondern nur Nachteile. Nach der Deportation der Russlanddeutschen im Jahre 1941 wurde auch die Wolgadeutsche Autonomie aufgelöst, was viele Russlanddeutsche als eine Degradierung in der Hierarchie empfunden haben, die rückgängig gemacht werden soll. Diese Forderung an die russische Regierung stellen selbst von Deutschland aus nicht nur Heinrich Groth und sein Konvent, sondern auch andere Gruppen, wie etwa die Minipartei "Die Einheit" von Dimitri Rempel.

Russlanddeutsche: Vielleicht doch ein eigenständiges Volk?

Am 3. September 2017 moderierte Rempel im hessischen Bad Homburg den sogenannten "Gesamtdeutschen Kongress von Russlanddeutschen"; die Forderung an die russische Regierung wurde in die Resolution aufgenommen, ebenso wie das Vorhaben, die „nationale Traditionen und Kultur“ der Aussiedler in Deutschland zu wahren und einen Weltkongress der Russlanddeutschen zu gründen. Die voneinander kaum zu unterscheidenden "Heimat e.V." (Verein) und „Die Einheit“ (Partei) präsentieren sich nach außen als unabhängig und gemäßigt, beim Kongress gaben ihre Führungspersönlichkeiten aber klare Wahlempfehlungen für die AfD. Die Veranstaltung wurde im Namen aller Russlanddeutschen abgehalten, dennoch haben die Landsmannschaften eine Teilnahme abgelehnt, was die Veranstalter gleich zu Beginn des Kongresses verkündeten: Dies sei ein Beweis dafür, dass sie das Establishment und nicht das Volk repräsentieren. Dafür konnte zum Beispiel ein Vertreter der Reichsbürger-Szene seine Thesen in einer längeren Rede verbreiten.

Eine der Thesen, die in verschiedenen Reden beim Kongress vertreten wurde, lautet, Russlanddeutsche seien ein eigenständiges Volk, es habe sich im Russischen Reich aus Einwanderern aus verschiedenen west- und nordeuropäischen Ländern – von Irland bis Schweden, aber hauptsächlich aus deutschsprachigen Regionen – herausgebildet. Diese These korrespondiert sowohl mit der Idee einer weltweiten Vereinigung von Russlanddeutschen, als auch mit der Forderung, ihre Rückkehr in die historischen Siedlungsgebiete zu ermöglichen und sie dort mit Privilegien und Autonomierechten auszustatten. Diese These ist im Umfeld "Der Einheit" sehr verbreitet, Dimitri Rempel selbst machte Furore als „deutscher Politiker“ in den russischen Staatsmedien mit seiner Behauptung, eine halbe Million Russlanddeutsche wolle auf die „wieder heimgekehrte" Krim umsiedeln. Bei den traditionellen Nationalisten stößt sie dagegen auf heftigen Widerstand, sie neigen eher zur Verharmlosung der NS-Diktatur: "Deutschland verlor diesen Krieg, den es nicht gewollt hatte, den es auch nicht hätte verhindern können, den es aber, wie auch andere Völker, mit vaterländischer Begeisterung vier (SIC!) Jahre lang mit unglaublicher Tapferkeit, Hingabe und Opferbereitschaft geführt hatte. Trotz vieler Siege bis zuletzt musste Deutschland, das praktisch allein gegen eine Welt von Feinden kämpfte, dieser Übermacht schließlich auch militärisch erlegen. […] Hitler hat die ganze Welt verändert. Ob ohne ihn der zweite Weltkrieg überhaupt stattgefunden hätte, ist zwar nicht sicher, aber durchaus nicht ausgeschlossen, eher sogar wahrscheinlich". Wie in diesem Abschnitt oder im am Anfang dieses Textes zitiertem Artikel von Reinhold „Papa“ Schulz, hat der Diskurs der russlanddeutschen NS-Sympathisanten eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit mit den aktuellen russischen geschichtsrevisionistischen Narrativen und staatlich gefördertem Neostalinismus: Deutsches Reich anstelle der UdSSR, Nationalsozialisten anstelle von Stalin. Damit in den deutsch-russischen Beziehungen auch in der Vergangenheit vollkommene Harmonie herrscht, wird in einigen Texten versucht, den Deutsch-Sowjetischen Krieg zu relativieren ("Der deutsche Soldat hat im Westen der Ukraine einen gar nicht so schlechten Eindruck gemacht") und seinen Ausbruch "fremden Mächten" zuzuschreiben: "Der ,Überfall‘ Deutschlands 1941 auf die Sowjetunion, der eigentlich gar kein Überfall war, wird immer noch, wie man so sagt (sic!) ‘ausgeschlachtet‘".

Nationalsozialistisches Gedankengut bei den Russlanddeutschen in der AfD

Eine offene Glorifizierung der Nationalsozialisten betreibt die russlanddeutsche Minipartei "Arminius-Bund", die vor allem in der AfD-Hochburg Pforzheim aktiv ist und die AfD aktiv unterstützt. In der Parteizeitschrift "Die russlanddeutschen Konservativen" stehen Profile von russlanddeutschen AfD-Politikern und eine Rede vom Thüringischen AfD-Landesvorsitzenden Björn Höcke neben Schriften vom Holocaustleugner Ernst Zündel, den Glückwünschen an die Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck, einem Interview mit Horst Wessel "Über den Sinn des nationalen Widerstands" und dem "Die Wohlfühl-Diktatur" betitelten Artikel über die herausragenden Urlaubsmöglichkeiten für die Werktätigen im "dritten Reich". Diese Zeitschrift wurde von Aktivisten der Partei auch beim sogenannten Russlandkongress verteilt, den die Fraktion der AfD im Landtag von Sachsen-Anhalt am 12. August 2017 in Magdeburg veranstaltete.

Unter den Kongressteilnehmern befanden sich zahlreiche aus der UdSSR stammende Parteimitglieder. Am 1. August gründeten sie in Pforzheim die "Interessengemeinschaft von Russlanddeutschen in der AfD", einen Körper, der keine Analogien in der deutschen Parteilandschaft hat: In allen größeren Parteien sind Russlanddeutsche mit dieser Gruppe und fünf Bundestagskandidaten nur in der AfD erkennbar vertreten. Noch ein aus Russland stammender Kandidat ist jüdischer Abstammung; seine Mitgliedschaft in der Gruppe, wie aus den Gesprächen am Rande der Veranstaltung hervorging, wird von anderen Mitgliedern als problematisch angesehen, da er sich nicht restlos "zum Deutschtum" bekenne. Eine weitere Kandidatin, Elena Roon, musste nach dem öffentlichen Skandal mit Hitlerbildern, die sie in einer AfD-internen WhatsApp-Gruppe postete, zurücktreten. Das hinderte die russlanddeutschen Parteiaktivisten nicht daran, sie in den Arbeitskreis der Gruppe zu wählen. Es gibt nicht genügend Gründe dafür, die AfD oder die "Interessengemeinschaft der Russlanddeutschen" in der Partei als Träger vom nationalsozialistischen Gedankengut zu bezeichnen. Manche zeigen aber nicht zu übersehende Toleranz gegenüber solchen Ideen. Dagegen ist festzuhalten: Die bekanntesten rechten Gruppen von Russlanddeutschen (z.B. Einheit, Heimat e.V., Konvent der Russlanddeutschen, Arminius-Bund, Biker-Gruppe "Russlanddeutsche Wölfe") unterstützen trotz aller Meinungsunterschiede die AfD.

Bundestagswahl 2017

Wie viele Russlanddeutsche tatsächlich die AfD unterstützen, bleibt weiterhin ungeklärt. Vor der Bundestagswahl ging Achim Goerres, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen, von 15-20% aus. Genauere Zahlen darüber, wie sie abgestimmt haben, werden, so Goerres, erst im Februar 2018 erwartet. Eine indirekte Datenquelle bieten die Wahlergebnisse in den von Aussiedlern geprägten Wahlbezirken. Jannis Panagiotidis verweist auf die Korrelation zwischen einem hohen Spätaussiedleranteil in bestimmten Wohngebieten und überdurchschnittlichen AfD-Anteilen. "In Pforzheim-Buckenberg (dazu gehört Haidach) sind es 37% gegenüber 19,3% in der gesamten Stadt, in Detmold-Herberhausen sind es 32% gegenüber 9,9% in der Stadt, in Osnabrück werden es nicht mehr als 17% in einem Wahllokal sein (bei 6,2% in der Stadt). In Waldbröl sind es im Stadtteil Maibuche sensationelle 50,4% der Zweitstimmen, bei 14,7% in der Stadt. Es lässt sich an dieser Stelle nicht konkret nachweisen, dass es Russlanddeutsche waren, die diese Stimmen abgegeben haben, aber die Korrelation ist einfach sehr auffällig", sagt Panagiotidis. Auffällig sei ebenfalls, dass in diesen Vierteln mit überdurchschnittlichen AfD-Anteilen eine unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung vorherrsche. Daraus könne man etwa ableiten, dass die traditionelle niedrige Wahlbeteiligung der Russlanddeutschen gering geblieben ist, und diejenigen, die wählen gehen, zumindest in den Vierteln überdurchschnittlich oft AfD wählen. "Das relativiert dann aber auch das Gewicht dieser Stimmen im Gesamtergebnis", so der Forscher.

Die Ergebnisse in "typischen" Stadtvierteln sind auch nur bedingt repräsentativ für die gesamte russlanddeutsche Community, weil die meisten Einwanderer aus der ex-UdSSR nicht in solchen Gegenden wohnen. Im Forschungsbericht des BAMF zu Spätaussiedlern von 2013 heißt es unter Bezug auf eine Studie von Schönwälder und Söhn: "Insgesamt nur ein Zehntel der Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion lebt in Vierteln mit einem Bevölkerungsanteil dieser Gruppe von 10 % und mehr". Die Studie wurde allerdings in Großstädten durchgeführt, die Mehrheit der Russlanddeutschen wohnt laut Jannis Panagiotidis in Klein- und Mittelstädten und auf dem Land: Zuverlässige Daten könne man aus einer Repräsentativbefragung der deutschen Gesamtbevölkerung gewinnen, aus der man ein Sample von Menschen mit postsowjetischem Migrationshintergrund herauszieht.

Fazit

Die rechtspopulistischen und nationalistischen Narrative, die weitgehend mit der Agenda der AfD übereinstimmen, sind in vielen, auch nicht explizit als rechtsgerichtet erkennbaren Medien vertreten, die sich an die aus der UdSSR stammende Minderheit in Deutschland wenden. Das gilt sowohl für russischsprachige, als auch für deutsch-und zweisprachige Medien und hängt nicht davon ab, ob diese ausschließlich in der Bundesrepublik gemacht werden oder Teile von russischen Medienunternehmen sind. Ein ähnliches Bild von Deutschland und Europa gehört zum Mainstream in allen staatlichen und vielen formell unabhängigen Medien aus Russland, die von den russischsprachigen Einwohnern der Bundesrepublik rezipiert werden, auch ohne dass sie diese Gruppe speziell ansprechen. Das trägt dazu bei, dass viele Vorstellungen, die in Deutschland eindeutig "in die rechte Ecke" gehören, von einem Teil der Russlanddeutschen und anderer Einwanderern aus der ex-UdSSR als gesellschaftliche Norm wahrgenommen werden und deswegen in dieser Minderheit vermutlich weiter verbreitet sind, als insgesamt in der deutschen Gesellschaft.

Nikolai Klimeniouk, geboren auf der Krim, arbeitet heute als Autor in Berlin, u.a. für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.