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Antisemitismus bei Muslimen | Rechtsextremismus | bpb.de

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Antisemitismus bei Muslimen

Mirjam Fischer

/ 10 Minuten zu lesen

Mit der Verbreitung von antisemitischen Vorurteilen und Judenhass unter muslimischen Migranten befasste sich bereits die Expertenkommission der Bundesregierung. In der Wahrnehmung vieler Juden in Deutschland nimmt neben dem rechtspopulistischen auch ein religiös motivierter muslimischer Antisemitismus zu. Die empirische Datenlage ist aber dünn.

Teilnehmer einer pro-palästinensischen Kundgebung halten am 21.07.2014 vor der Israelischen Botschaft in Berlin ein antisemitisches Plakat mit der Aufschrift "Can't get enough – Save Palestinian Kids" und dem Abbild des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu. (© picture-alliance/dpa)

Die Israelin Alexandra Margalith besuchte im Dezember 2014 ihre Familie in Berlin. Sie ging zu Fuß durch Mitte und hatte ihren Mann am Telefon. Sie sprachen Hebräisch. An einer Ecke, so erzählt Margalith, hätten drei Männer gesessen – sie vermutet arabischstämmige. Als sie an ihnen vorbeikam, wurde sie bespuckt und beschimpft wegen ihrer "Judensprache". Einer der Männer habe eine Angriffsgeste mit dem Finger gemacht, das symbolische Messer am Hals. Da sei ihr mulmig geworden, erzählt Margalith, sie sei zügig weitergegangen.

"Dich kriegen wir auch noch, Judensau", habe ihr ein anderer, ihrem Eindruck nach arabisch aussehender Mann im März 2016 im Zug zwischen Duisburg und Köln zugeraunt, als er an ihr vorbeiging, berichtet die Journalistin Maxine Bacanji. Man habe ihr nicht ansehen können, ob sie Jüdin sei oder nicht, sagt die 24-Jährige. Sie habe eine Stofftasche mit der gut lesbaren Aufschrift "Judebeutel gegen Antisemitismus" auf dem Schoss gehabt, die aus einer Kampagne der Antonio-Amadeu-Antonio-Stiftung stammte. Als sie in Köln-Mülheim aussteigen wollte, habe der Mann im Weg zur Tür gestanden. Sie habe sich bedroht gefühlt. Erst im letzten Moment, als der Zug schon wieder anfuhr, sprang sie hinaus und rannte davon.

Geschichten wie diese gibt es viele, doch nur wenige Betroffene sprechen offen darüber. Zum einen, weil die angegriffenen Juden oder vermeintlichen Juden sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollen, Muslime oder solche, die sie dafür halten, pauschal zu verurteilen. Weder Margalith noch Bacanji wussten sicher, ob die Männer, die sie antisemitisch bedroht und beleidigt hatten, tatsächlich Muslime waren, welcher Nationalität sie angehörten, ob der verbal geäußerte Hass auf Juden religiös, nationalistisch oder islamistisch motiviert war. Zum anderen, weil die Fälle nur selten strafrechtlich verfolgt werden oder überhaupt strafrechtlich relevant sind. Das führt oft zur Resignation.

Judenfeindliche Handlungen, von Pöbeleien bis hin zu schweren Angriffen, werden – wenn sie bekannt werden – bei der Berliner Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) seit Juli 2015 gesammelt und meist veröffentlicht. Man will hier durch eine breite Erfassung ein Bild davon erhalten, wie Antisemitismus den Alltag der Betroffenen prägt. Von 277 Vorkommnissen zwischen Januar und September 2017 wurden 125 anonym gelistet und öffentlich zugänglich gemacht. Der Rest ist registriert, aber unter Verschluss, zum persönlichen Schutz des Informanten, wenn weitere Drangsalierungen zu erwarten sind. Die Dunkelziffer der antisemitischen Taten, die nicht angezeigt werden, ist vermutlich weit höher.

Nach dem schwerwiegenden Fall des Rabbiners Daniel Alter, der im Jahr 2012 im als gutbürgerlich geltenden Berliner Viertel Friedenau von vermutlich arabischstämmigen Jugendlichen brutal zusammengeschlagen worden war, haben zuletzt 2017 die Schilderungen eines 14-jährigen jüdischen Jungen hohe Wellen geschlagen. Er hat im April 2017 nach antisemitischen Beleidigungen und körperlichen Angriffen durch nachweislich arabisch- und türkischstämmige Mitschüler eine Gemeinschaftsschule in Friedenau verlassen, weil er keinen anderen Ausweg mehr gesehen habe. Kaum ein Medium in Deutschland, das nicht darüber berichtete, nachdem die Familie des Jungen sich zunächst einer britischen jüdischen Zeitung anvertraut hatte.

Einheitliche Kriterien zur Einordnung antisemitischer Straftaten fehlen

Die Polizei hat im ersten Halbjahr 2017 bundesweit 681 judenfeindliche oder antiisraelische Vorfälle registriert, wie aus der Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Bundestagsanfrage des Grünen-Abgeordneten Volker Beck von August hervorgeht. Das wären 27 mehr als in den ersten sechs Monaten des Vorjahres.

Im Gesamtjahr 2016 waren die antisemitischen Straftaten gegenüber 2015 um 7,5 Prozent auf 1.468 angestiegen. Verglichen mit dem Jahr 2014 erscheinen die Zahlen leicht rückläufig. Doch die Situationen variieren. Als während des Gazakrieges antiisraelische Demonstranten in deutschen Städten Judenhass erschreckend offen auslebten, war die Zahl der antisemitischen Straftaten besonders hoch: Von der Polizei erfasst wurden insgesamt 1.596 Fälle, ein Plus von 25,2 Prozent gegenüber 2013. Einheitliche Kriterien zur Einordnung von antisemitischen Tätlichkeiten gibt es bislang jedoch nicht.

632 der im ersten Halbjahr 2017 polizeilich registrierten antisemitischen Straftaten – mehr als 90 Prozent – wurden als rechts motiviert eingestuft. Dabei weist RIAS-Leiter Benjamin Steinitz darauf hin, dass Parolen wie "Juden raus", die üblicherweise unter rechtsextrem subsumiert werden, auch in islamistischen Kreisen populär seien, ebenfalls unter rechtsextreme Taten subsumiert werden. Von den 339 Personen, gegen die tatsächlich ermittelt wurde, hatten 312 die deutsche Staatsangehörigkeit. Ob darunter auch deutsche Muslime mit einem so genannten familiären Migrationshintergrund fallen, die seit mehreren Generationen im Land sind, wurde in der Statistik nicht erfasst.

Religiös oder arabisch-nationalistisch? Die Antisemitismen überlagern sich

Für Juden in Deutschland ist es einerlei: Sie fühlen sich zunehmend bedroht, unabhängig davon, ob eine antisemitische Tat durch eine religiöse oder eine politische Ideologie motiviert ist. In einer Studie des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung gaben 81 Prozent der befragten Juden an, schon einmal von einer muslimischen Person oder Gruppe angegriffen worden zu sein, 61 Prozent hatten verbale Beleidigungen oder Belästigungen erlebt. Deutlich seltener wurden andere Personen oder Gruppen genannt, Mehrfachnennungen waren möglich. Aufgrund fehlender fundierter Daten kann nicht generell von einem muslimischen, religiös motivierten Antisemitismus ausgegangen werden. Der Islamwissenschaftler Michael Kiefer von der Universität Osnabrück nennt das Phänomen "islamisierten Antisemitismus".

Beim Antisemitismus von muslimischen Menschen mit Migrationshintergrund überschneiden sich viele Faktoren: Religionszugehörigkeit, allgemeine und politische Sozialisation, schulische Bildung, die familiäre Migrationsgeschichte aus verschiedenen muslimisch geprägten Ländern, und im Falle der eigenen Migration auch die Erfahrung unterschiedlicher Bedingungen im Herkunftsland und in Deutschland. Die Religion sei jedenfalls nur ein Einflussfaktor unter vielen, betonte 2017 der 312 Seiten starke Antisemitismus-Bericht einer Expertenkommission der Bundesregierung. So werden beispielsweise Ergebnisse aus Umfragen der Anti-Defamation League (ADL) von 2014/2015 herangezogen, die zeigen, dass antisemitische Einstellungen in eher israelfeindlich eingestellten Ländern, etwa im Irak (92 Prozent), dem Westjordanland und Gaza (jeweils 93 Prozent) sowie im Iran (60 Prozent) vergleichsweise weit verbreitet sind. Demgegenüber stimmten Muslime in Nigeria antisemitischen Aussagen nur zu acht Prozent zu, während sich jedoch 22 Prozent der Christen, die in diesem Land einen Bevölkerungsanteil von zirka 40 Prozent ausmachen, antisemitisch äußerten. Länderübergreifend sei auch unter Christen im Nahen Osten Antisemitismus mit 64 Prozent weiter verbreitet als unter europäischen Christen (35 Prozent in Osteuropa; 25 Prozent in Westeuropa), heißt es weiter.

Ein hohes Maß an antisemitischen Einstellungen stellten die Autoren des Antisemitismus-Berichts unter muslimischen Flüchtlingen aus etwa arabischen und nordafrikanischen Ländern fest. "Ich habe gelesen, dass die Juden den Propheten ins Gefängnis getan haben und ihn gefoltert und Schlechtes über seine Mutter gesagt haben", wird ein Flüchtling zitiert, den das Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung für den Expertenkreis befragt hat. Auch in anderen Gesprächen seien antisemitische und antiisraelische Einstellungen mit religiöser Identität begründet worden, heißt es in dem Befund. Das Ausmaß antisemitischer Einstellungen steige mit dem selbstberichteten Grad der Religiosität an. Der Psychologe Ahmad Mansour fordert deshalb seit Jahren die Auseinandersetzung mit dem Thema auf religiöser Ebene und vor allem an Schulen, um antisemitische Tendenzen unter muslimischen Jugendlichen zu bekämpfen.

Identifikation mit dem Nahostkonflikt bei vielen jungen Muslimen besonders präsent

Dass Antisemitismus unter Schülern Alltag ist, zeigen aktuelle Erfahrungsberichte von 27 Lehrern an 21 Berliner Schulen, die im Auftrag des American Jewish Committee Berlin dokumentiert wurden. "Du Jude" und "Scheiß-Jude" seien längst geläufige Schimpfwörter, heißt es da. Mal werde Terror gegen Israelis gerechtfertigt, mal im Erdkundebuch das Land Israel dick mit einem Stift durchgestrichen, wie ein Lehrer sagte. Es gebe auch Schüler, die geäußert haben, "ja, der Hitler, der hat halt leider nicht alle umgebracht", sagte ein weiterer Lehrer. Wieder ein anderer berichtete, dass man im Unterricht eigentlich das Thema Jude [oder] Judentum nicht ansprechen brauche, weil es dann gleich eine kleine Intifada im Klassenraum gebe. "Die flippen total aus, die bleiben null sachlich ... auch nordafrikanische Kinder, die mit dem Konflikt überhaupt nichts zu tun haben.“ Eine Interpretation des Materials ist, dass auch die undifferenzierte Identifikation der Schüler mit den Palästinensern als muslimische Opfer von Unterdrückung im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt besonders häufig zu artikuliertem Israel- und auch Judenhass führen. Auch außerhalb der muslimischen Schülerschaft.

Jüdische Institutionen beobachten seit Jahren einen immer stärker werdenden, auf Israel bezogenen Antisemitismus, wie er in der Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance beschrieben wird, der sich das Bundeskabinett am 20. September angeschlossen hat. "Wenn wir Schulklassen besuchen, ist eine der ersten Fragen immer, wie wir zu der Besatzung im Westjordanland stehen", sagte Armin Langer, Mitbegründer der interreligiösen Salaam-Shalom-Initiative in Berlin-Neukölln. Er verweigere es, sich zu positionieren. "Ich sage den Schülern, dass ich kein Vertreter der israelischen Regierung bin, sondern einfach ein Berliner Jidd", so Langer. Besonders die Schüler mit einem Migrationshintergrund könnten das verstehen, da auch sie häufig auf die politischen Entwicklungen ihrer Herkunftsländer angesprochen würden. "Dabei sind sie Berliner und meist Deutsche", sagt Langer. Am Ende der Sitzungen debattierten sie dann schon eher mal darüber, wo man das beste Falafel in Neukölln kaufen kann.

Diese undifferenzierte Anti-Israel-Haltung, verbunden mit antisemitischen Stereotypen, kann religiösen Fanatikern zuspielen. 'Wir fragen uns, wie geschickt die Gehirnwäsche ablaufen muss, damit die Schüler so schnell so antiwestlich, so antiamerikanisch sowieso, aber auch antisemitisch werden', gab ein Lehrer in der Berliner Umfrage zu Protokoll. Knapp zwei Drittel der befragten Lehrer stellten fest, dass die Bedeutung der Religion unter ihren Schülern zugenommen hat. Die neue Identifikation mit dem Islam äußere sich in einem ausgeprägten Wir-Ihr-Denken und in einer Abgrenzung gegenüber Christen, Juden, Nichtgläubigen, aber auch anderspraktizierenden Muslimen. Viele Muslime wollten die Religion als "letzten Anker in der Fremde" nicht verlieren, sagte vor kurzem der Freiburger Islamwissenschaftler und gebürtige Algerier, Abdel-Hakim Ourghi, bei der Vorstellung seines Buches "Reform des Islam. 40 Thesen" im Haus der Bundespressekonferenz in Berlin.

"Hier ist viel Emotionalität im Spiel"

Aycan Demirel, Direktor der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA), war Mitglied der Expertenkommission des Bundestages. Er entwickelt mit seinem Verein seit fast 15 Jahren Konzepte für Modellprojekte zur Präventionsarbeit. Für seine Arbeit wurde der türkischstämmige Deutsche 2012 mit dem Paul-Spiegel-Preis für Zivilcourage des Zentralrats der Juden in Deutschland ausgezeichnet. Wenn Demirel mit jungen Muslimen zu tun hat, begegnet auch er meist Ressentiments gegen Juden im Zusammenhang mit Israel. "Hier ist viel Emotionalität im Spiel", sagt er. Den Judenhass eines Teils der Muslime pauschal damit zu begründen, dass sie Muslime sind, greife zu kurz. So sehen sich manche der frommen muslimischen Jugendlichen häufig sogar eher in einer Schicksalsgemeinschaft mit religiösen Juden in Deutschland, etwa wenn es um Rituale wie Schächten oder Beschneidung gehe. Auch habe er offenes Interesse und Empathie erlebt, sobald Einzelschicksale von jüdischen Verfolgten im Nationalsozialismus besprochen wurden.

"Das sind nicht alle Antisemiten", sagt Demirel. Auch während des Gazakrieges vor drei Jahren habe KIgA alle Workshops mit Schülern ohne aggressive Zwischenfälle abhalten können. Es gebe immer wieder konkrete Anfragen von Schulen, mehr vor Ort zu arbeiten, was er gern übernehmen würde. Doch dafür fehlen die Fördergelder. "Es kann nur eine Antwort geben: Wir kümmern uns um euch", sagt Demirel. Nur dann seien die jungen Muslime weniger instrumentalisierbar durch radikale Imame, Salafisten oder Politiker wie Erdogan, die ihnen das Gefühl geben, sie seien wertgeschätzt. Man müsse ihnen Raum bieten, Druck nehmen, Chancen geben und sie anerkennen.

Eine einfache Aufgabe ist das nicht, findet Demirel. Jeder der vielen muslimischen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland sei durch eine andere Sozialisation geprägt, und in den meisten Fällen spiele diese eine größere Rolle als die Religion, ist auch seine Erfahrung. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Umfragen der Anti-Defamation League unter der Bevölkerung im mit Israel verfeindeten Libanon, wo neben Muslimen auch Christen auffällig stark zum Antisemitismus neigen (82 Prozent vers 75 Prozent).

No-Go-Areas und andere Problemviertel

Bacanji erzählt, sie habe den Vorfall im Zug nach Köln bereits vergessen gehabt, als sie ein paar Wochen später in Berlin-Neukölln ein T-Shirt mit der Aufschrift "I stand with Israel" trug und von einer Gruppe Männer verfolgt worden sei. Es sei arabisch, türkisch und deutsch gesprochen worden. Auch der Satz "Juden ins Gas" sei gefallen. Seitdem überlege sie sich gut, durch welches Viertel sie gehe, wenn sie gewisse Kleidung trage. "Diese so genannten Berliner No-Go-Areas sind nur ein Teil der Realität", findet Demirel. Er könne nicht ausschließen, dass jüdische Menschen in Kreuzberg oder Neukölln angegriffen oder angepöbelt werden, auch hier gebe es Antisemiten. Doch die Lage sei komplexer, sagt er, denn gerade Neukölln sei sehr multikulturell, gerade hier lebten auch viele Israelis, es zeige nicht das ganze Bild, wenn dieser Stadtbezirk immer wieder als No-Go-Area herhalten müsse. Sein Problemviertel ist ein anderes. "Ich gehe nur ungern in den Osten der Stadt, aus Sicherheitsgründen", so Demirel. Man müsse dort Angst haben, weil in vielen Gegenden mittlerweile eine rechtsextreme Jugendkultur das Sagen habe, die für jeden gefährlich sei – übrigens auch für Juden.

Das Ausmaß antisemitischer Einstellungen unter muslimisch sozialisierten Jugendlichen sei jedoch höher als unter nichtmuslimischen, heißt es im Bericht der Expertenkommission, während sich ältere Muslime und Nichtmuslime kaum unterschieden. Die Deutsch-Israelische Schulbuchkommission fordert daher, Unterrichtsmaterialien so zu überarbeiten, dass sie Schülern in Deutschland und Israel ein differenziertes und vertieftes Bild der Geschichte und Gesellschaft des jeweils anderen Landes vermitteln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Berichte antisemitischer Vorkommnisse in Berlin. Meldeportal www.report-antisemitism.de, Berliner Recherche- und Informationsstelle (RIAS)

  2. Classmates turn from friends to attackers after boy reveals he is Jewish, The Jewish Chronicle, London, March 24, 2017

  3. Antwort des Innenministeriums auf eine schriftliche Anfrage des Bundestagsabgeordneten Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, vom 24.8.2017, Arbeitsnummer 8/202

  4. Politisch motivierte Straftaten im Jahr 2016, Bundesministerium des Innern (Herausgeber)

  5. Polizeiliche Kriminalstatistik 2014, Bundesministerium des Innern (Herausgeber)

  6. Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland. Ein Studienbericht für den Expertenrat Antisemitismus. Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, Andreas Zick, Andreas Hövermann, Silke Jensen, Julia Bernstein, Bielefeld, April 2017, S. 21

  7. Michael Kiefer, Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen – Randphänomen oder Problem? Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier Antisemitismus, 24.10.2012

  8. Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus. Deutscher Bundestag. 18. Wahlperiode. Unterrichtung durch die Bundesregierung, Drucksache 18/11970, 7.4.2017, S. 78 ff.

  9. ebenda, S. 92

  10. ebenda, S.219

  11. Flucht und Antisemitismus. Expertise für den Expertenkreis Antisemitismus, Dr. Sina Arnold und Jana König, Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung, Dezember 2016

  12. Ahmad Mansour, Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen. Wir brauchen mehr Aufklärung! Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier Antisemitismus, 13.11.2012

  13. Salafismus und Antisemitismus an Berliner Schulen. Erfahrungsberichte aus dem Schulleben. Eine Dokumentation im Auftrag des American Jewish Committee (AJC) Berlin (Herausgeber), Stefan Theil, Juli 2017

  14. International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), Arbeitsdefinition "Antisemitismus", Berlin, Mai 2016

  15. Salafismus und Antisemitismus an Berliner Schulen (s.o.)

  16. ADL Global 100: A Survey of Attitudes Toward Jews in over 100 Countries around the World. http://global100.adl.org/#country/lebanon/2014 (Einblick November 2017)

  17. Deutsch-israelische Schulbuchkommission: Deutsch-israelische Schulbuchempfehlungen. Eckert. Expertise 5, Göttingen: V&R unipress, 2015

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Mirjam Fischer hat Jura und Geschichte studiert und einige Jahre über Sport aus aller Welt berichtet. Sie lebt als freie Journalistin in Süddeutschland und arbeitet unter anderem als Online-Redakteurin für einen Fachverlag mit Schwerpunkt Wirtschaft und Recht.