Zwar fehlen gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse über nationalistische, autoritäre und andere rechte Einstellungen unter Menschen mit türkischem Migrationshintergrund
Auch bei einer begrenzten, aktuellen Erhebung unter deutsch-türkischen Jugendlichen im nordrhein-westfälischen Siegen zeigte sich eine hohe Zustimmung unter anderem in den Bereichen Nationalismus und Autoritarismus.
Jedenfalls kann die Existenz von Nationalismus, autoritären Politikvorstellungen und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit unter türkischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland nicht bestritten werden. Spätestens seit der scharf geführten Kampagne von Präsident Tayyip Erdoğan und seinen Anhängern für Änderungen der türkischen Verfassung im April 2017, die auch in Deutschland zu teils gewalttätigen Konfrontationen führte, wird das Problem in der deutschen Öffentlichkeit verstärkt wahrgenommen.
Die türkische Gesellschaft erlebt unter Erdoğan eine drastische Verstärkung nationalistischer und autoritärer Tendenzen: Oppositionelle Parteien und Bewegungen, Justiz, Akademiker und Medien
Nationalismus und Autoritarismus in der türkischen Staatspolitik seit Atatürk
Nationalismus und Autoritarismus haben in der modernen Türkei eine lange Tradition. Beide sind seit der Gründungzeit der Republik in den 1920er Jahren wichtige Säulen der Staatspolitik. Nationalismus ("milliyetçilik") war eines von sechs Grundprinzipien, die damals vom autoritären kemalistischen Regime propagiert wurden – nicht zuletzt deshalb ist der Begriff in der türkischen Öffentlichkeit bis heute eher positiv besetzt. Der
Im Unterschied zur imperialen Kriegspolitik der Osmanen pflegte ab den 1920er Jahren die republikanische Türkei zunächst eine zurückhaltende Außenpolitik. Ermüdet durch die langjährigen Kriege zwischen 1912 und 1923 (erst der Balkan-Krieg, dann der Erste Weltkrieg, schließlich der Befreiungskrieg in Anatolien) fokussierte sich das kemalistische Regime unter der CHP auf den Aufbau einer eigenen Wirtschaft und einer laizistischen Gesellschaft nach westeuropäischem Vorbild. Um radikale gesellschaftliche Reformen wie die Abschaffung des Kalifat-Systems, die Errichtung einer Republik statt einer Monarchie, den Aufbau eines laizistischen Bildungs- und Rechtssystems und das Wahlrecht für Frauen durchzusetzen, verfolgte Kemal Atatürk einen autoritären Politikstil basierend auf einem Einparteiensystem. Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich in der Türkei ein Mehrparteiensystem, das von politischer Instabilität und mehrfachen Militärputschen gekennzeichnet war und in dem wechselnd republikanische und konservative Parteien die Regierungen bildeten. Diese Parteien und das kemalistisch geprägte Militär als wichtiger Akteur der Innenpolitik benutzten nationalistische Ideologien auch gegen sozialistische Bewegungen und Minderheiten. Ende der 1960er Jahre entstand die faschistische
Das nach einem dritten Militärputsch von 1980 bis 1983 herrschende Militärregime verstärkte die Repressionen gegen Sozialisten weiter – und versuchte zugleich mit der Pflege einer
Autoritarismus und neo-osmanischer Nationalismus unter Tayyip Erdoğan
Seit 2001 wird die Türkei von der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) regiert, von 2003 bis 2014 mit dem Parteivorsitzenden Recep Tayyip Erdoğan als Ministerpräsident. Sie ist aus verschiedenen islamistischen Vorgänger-Parteien hervorgegangen und profilierte sich zunächst als Bewegung konservativer, aber gemäßigter und demokratischer Muslime. Auch viele liberale Intellektuelle in der Türkei und Europa sahen die AKP lange Zeit hoffnungsvoll als Widerstandskraft gegen den autoritären und nationalistischen türkischen Staat. Doch je länger Erdoğan regierte, desto deutlicher wurden sein eigener Autoritarismus und Nationalismus. Seit dem (für ihn) enttäuschenden Abschneiden bei der Parlamentswahl im Juni 2015 und endgültig seit dem gescheiterten Putsch vom Juli 2016 nimmt das politische System des Landes unter Erdoğan, der es seit 2014 als Präsident führt, zunehmend autoritäre Züge an.
Während der kemalistische Nationalismus und Autoritarismus eine Modernisierung und West-Orientierung durchzusetzen versuchte, wird unter Erdoğan die osmanische Vergangenheit der Türkei idealisiert und eine imperiale und islamistische Außenpolitik verfolgt. Und anders als von Kemalisten erwartet, agiert die
Vor direkter Kritik an Atatürk und dessen Prinzipien wie Laizismus und Republikanismus sowie einer offenen Abkehr vom Kemalismus schreckt Erdoğan wegen Atatürks anhaltend hohen Ansehens in der türkischen Gesellschaft zurück – aber in vielen Schritten vollzieht er eine Abwendung von den Idealen der kemalistischen Politik: So wird die osmanischen Vergangenheit stärker betont und unkritisch betrachtet, etwa im Bildungssystem. Militärische Erfolge des Osmanischen Reiches werden staatlich gefeiert, etwa die Eroberung Istanbuls/Konstantinopels. Straßen, Plätze und Brücken werden nach osmanischen Sultanen benannt, pompöse Bauten sollen an die osmanische Zeit erinnern. Religiosität wird im öffentlichen Raum wieder sichtbarer, so wurde 2010 das Kopftuch-Verbot an türkischen Universitäten aufgehoben, es folgte 2013 die Aufhebung für einen Großteil der Staatsbediensteten, 2014 die Aufhebung an Schulen ab Klasse 5, seit 2016 dürfen Polizistinnen und seit 2017 auch Frauen in der Armee Kopftuch tragen
Der Unterschied zwischen kemalistischem und neo-osmanischen Autoritarismus wird beim Blick auf die Haltung zur Rechtsstaatlichkeit deutlich. Die Kemalisten waren mit dem Erbe der Osmanischen Monarchie konfrontiert und wandten autoritäre Methoden an: Sie setzten von oben nach unten Reformen durch, um eine laizistische Gesellschaft nach weitgehend westeuropäischem Vorbild aufzubauen – mit Ausnahme des starken Militärs, das auch politisch eingreifen konnte. Zum Beispiel gab die kemalistische Partei CHP 1950 nach einer Wahlniederlage die Macht an die rechtsliberale DP (Demokratische Partei) ab. Die Entwicklung unter der aktuellen AKP-Regierung verläuft genau entgegengesetzt. Bevor Erdoğan 2001 an die Macht kam, verfügte die Türkei – trotz aller demokratischen Mängel – über eine pluralistischere Medienlandschaft und eine deutlich autonomere Justiz als heute.
Ultranationalistische und islamistische Organisationen von und für Deutsch-Türken
Seit Beginn der türkischen Einwanderung nach Deutschland versuchen zahlreiche nationalistische, rechtsextreme und islamistische Gruppierungen, ihre Ideologie unter Migrantinnen und Migranten zu verbreiten. Seit den 1970er Jahren gründeten sie hierzulande zahlreiche Moscheen oder Kulturvereine, die für die Einwanderer ein soziales Gefüge in ihrer Muttersprache boten, das sie in Deutschland schmerzlich vermissten. Dies gilt etwa für den islamistischen Prediger Cemalettin Kaplan (den Gründer der Organisation Kalifatstaat/ICCB), aber auch für rechtsextreme Gruppen wie die
Erst in den 1980er Jahren unternahm der türkische Staat durch die Gründung der DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.) einen Versuch, die Einflussräume solcher Gruppen in Deutschland zurückzudrängen oder zumindest zu kontrollieren.
Nach ihrer Machtübernahme in der Türkei gründete die Erdoğan-Partei AKP im Jahr 2004 eine eigene Lobbyorganisation in Deutschland: die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD). Diese Organisation ist eine überaus loyale Botschafterin der Ideologie und Politik der AKP und versucht, auf oft polemische und zugespitzte Weise die nationalistischen und autoritären Ziele Erdoğans unter Deutsch-Türken zu verbreiten und in der deutschen Öffentlichkeit zu legitimieren.
Auch wenn DITIB-Moscheen heute in Deutschland dominieren, verfügen weiterhin fast alle rechtsextremen Gruppen der Türkei über eigene Moscheen in Deutschland – und diese konnten teils enorme finanzielle und personale Ressourcen zurück in die Türkei exportierten.
Die besondere Lage der türkei-stämmigen Migrantinnen und Migranten in Deutschland
Auf den stärkeren Nationalismus und Autoritarismus in der türkischen Politik reagieren die türkei-stämmigen Menschen in Deutschland nicht einheitlich: Ein deutlicher Teil kritisiert die AKP-Regierung und sieht den Abbau demokratischer und rechtstaatlicher Standards mit großer Sorge. Zugleich aber wird Erdoğan auch von vielen Deutsch-Türken unterstützt, ja teilweise geradezu verehrt. Für erhebliche Irritation in der deutschen Öffentlichkeit sorgte zum Beispiel das Ergebnis des Verfassungsreferendums im April 2017: Mit 63 Prozent der abgegebenen Stimmen zeigte sich unter den hier lebenden türkischen Staatsbürgern erheblich größere Zustimmung als in der Türkei selbst (51 Prozent).
Bei diesem Ergebnis wie allgemein der Verbreitung autoritärer und nationalistischer Einstellung unter Deutsch-Türken sind jedoch mehrere Faktoren zu berücksichtigen, zum Beispiel deren spezifische Herkunft. Die Arbeitsmigranten, die in den 1960er und 1970er Jahren nach Deutschland kamen, stammten überwiegend aus Ost-Anatolien und aus häufig konservativen Wählermilieus. Im Unterschied dazu stellten linke oder kurdische politische Flüchtlinge einen Großteil der türkei-stämmigen Migrantinnen und Migranten in England oder Schweden. Dies könnte auch ein Grund sein für die deutlichen Unterschiede im Abstimmungsverhalten in den verschiedenen Ländern: Der Zustimmung zu den Verfassungsänderungen in Deutschland steht eine Ablehnung in Großbritannien und in Schweden gegenüber (80 Prozent bzw. 53 Prozent Nein-Stimmen).
Als zweiter wichtiger Einflussfaktor für nationalistische und autoritäre Einstellungen wird in der Forschungsliteratur die Migrationserfahrung genannt:
Ein dritter relevanter Faktor ist die Haltung der staatlichen Institutionen. Die beschriebenen Bedürfnisse der Migrantinnen und Migranten wurden lange Zeit weder von deutscher noch von türkischer Seite beachtet, es gab nur wenige soziale und kulturelle Angebote. Der türkische Staat interessierte sich mehr für die Geldüberweisungen der Deutsch-Türken in die alte Heimat als für ihre aktuellen Probleme in der Fremde. Der deutsche Staat wiederum hielt bis Ende der 1990er Jahre die Fiktion aufrecht, die Einwanderer würden schon wieder zurückgehen, weshalb man sich wenig um ihre politischen Einstellungen kümmerte. Inzwischen bekennt sich Deutschland zwar dazu, Einwanderungsland zu sein – aber es herrscht weiterhin vielerorts ein Integrationsverständnis vor, das in der Praxis die demokratischen Einstellungen unter Migrantinnen und Migranten zu wenig fördert.
Möglichkeitsräume für Demokratie auf Türkisch in Deutschland
Aus dem Geschilderten folgt, dass Staat und Gesellschaft in Deutschland dazu beitragen können, nationalistische, autoritäre und anderweitig menschenfeindliche und antidemokratische Ideologien unter türkei-stämmigen Migrantinnen und Migranten zurückzudrängen. Zuallererst sollten sie diese Einstellungen stärker als bisher in den Blick nehmen und sensibler für das Problem werden. Außerdem sollten demokratische türkische Kräfte in Deutschland unterstützt und gesellschaftliche und öffentliche Räume für sie geschaffen werden.
Bisher dominiert in der deutschen Öffentlichkeit vor allem eine einzige Reaktion, wenn nationalistische oder undemokratische Einstellungen unter Migrantinnen und Migranten zum Thema werden: Es wird von ihnen verlangt, dass sie sich stärker an die deutsche Kultur und Politik anpassen sollen – dies (und nur dies) gilt als gelungene Integration. Auf den Mangel an demokratischer, türkischer Identität wird also durch die Forderung reagiert, die türkische Identität komplett abzulegen.
Selbst demokratisch gesinnte Deutsch-Türken gelten häufig als schlecht integriert oder gar "nicht integrierbar", wenn sie eine türkische Identität behalten und leben wollen. Stattdessen bräuchte es ein Integrationsverständnis, das auf Teilhabe setzt, die kulturellen und sprachlichen Werte der Migrantinnen und Migranten (wenn sie mit den in Europa gültigen Werten konform gehen) stärker wertschätzt – und zugleich offensiv gegen nationalistische und autoritäre Einstellungen auftritt, etwa mit deutlich mehr sozialen und politischen Projekten gegen
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