Am Samstag, dem 17. Oktober 2015, nährte sich ein 44-jähriger Mann namens Frank S. in Köln-Braunsfeld einem Infostand der parteilosen Kandidatin für die Bürgermeister-Wahlen Henriette Reker. Nachdem Frank S. um eine Rose gebeten hatte, zückte er ein Messer und stach auf die Politikerin ein. Im anschließenden Handgemenge verletzte Frank S. noch zwei weitere Lokalpolitikerinnen sowie zwei Bürger. Erst durch das Einschreiten eines zufällig privat anwesenden Bundespolizisten konnte der Täter überwältigt werden. Die schwer verletzte Politikerin kam in ein Krankenhaus und überlebte den Anschlag. Es handelte sich dabei um eine rechtsterroristische Tat. Diese Einschätzung wird nicht allein aus Empörung über das Verbrechen, sondern im Lichte der Terrorismusforschung formuliert. Dagegen lassen sich möglicherweise unterschiedliche Argumente anführen: Frank S. behauptete, den "Messias" retten zu wollen. Er ist ein Langzeitarbeitsloser und lebt in prekären Verhältnissen. Und Frank S. handelte allein ohne den Auftrag einer Gruppe.
Definition von Rechtsterrorismus und "Lone Wolf"-Terrorismus
Alle drei Einwände nennen jeweils Besonderheiten, sprechen aber nicht gegen die Einschätzung als rechtsterroristische Tat. Die Begründung dieser Auffassung setzt die Definition der Fachbegriffe voraus: Als Sammelbezeichnung steht "Terrorismus" für alle Formen von politisch motivierter Gewaltanwendung, die von nicht-staatlichen Akteuren in systematisch geplanter Form durchgeführt werden. Die Besonderheit des Rechtsterrorismus ergibt sich aus den einschlägigen ideologischen Prägungen wie etwa Nationalismus oder Rassismus. Meist geht es dabei um ein Agieren von Gruppen. Ein "Lone Wolf"-Terrorismus meint demgegenüber Aktivitäten von Einzelnen, die ohne Anleitung von Organisationen oder Personen handeln. Die Bezeichnung "Einzeltäter" steht demnach lediglich für die konkrete Tatplanung. Sie bestreitet weder, dass die Akteure sich angesichts von Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft motiviert fühlen, noch, dass ihre einschlägige Gewalt- und Ideologiefixierung eine Folge der Sozialisation in der rechtsextremistischen Szene ist.
Planung und Systematik beim Anschlag auf Henriette Reker
Beim Anschlag auf Henriette Reker lassen sich Planung und Systematik des Täters gut belegen: Zwar deutet die Berufung auf einen "Messias" psychische Besonderheiten an. Bereits nach der Festnahme stellte indessen ein psychiatrischer Gutachter keine Anhaltspunkte für psychische Störungen fest und erklärte Frank S. für voll schuldfähig. Die Rekonstruktion der Ereignisse macht auch deutlich, dass der Täter durchaus kalkuliert und nicht unbeherrscht vorging. Er bat zunächst sein Opfer um eine Rose, das heißt eben auch, dass er sich nicht sofort um eines Messerstichs willen auf sie stürzte. Offenkundig wollte Frank S. die Bürgermeisterkandidatin Reker in Sicherheit wiegen. Er wartete demnach auf den günstigen Moment für seine Tat und stieß erst dann mit einem mitgebrachten Bowie-Jagdmesser zu. Bei der Durchsuchung der Wohnung von Frank S. stellte die Polizei fest, dass in seinem Computer die Festplatte fehlte und auch keine Dokumente oder Notizen auffindbar waren. Deren offenkundige Beseitigung belegt ebenfalls eine systematische Tatplanung.
Bekundungen von Fremdenfeindlichkeit als Motiv für den Anschlag
Für einen politischen Hintergrund der Tat sprechen sowohl die Bekundungen nach der Festnahme wie frühere politische Aktivitäten: Frank S. rief, die Gesellschaft solle von Leuten wie Reker beschützt werden. Er habe gesagt: "Ich musste es tun. Ich schütze euch alle." Außerdem rief Frank S.: "Ich tue es für eure Kinder." Denn Frank S. sagte, so ein weiterer Augenzeuge, dass Merkel und Reker Deutschland mit Flüchtlingen fluteten. Berücksichtigt man noch, dass Henriette Reker als Sozialdezernentin in Köln für Flüchtlinge zuständig ist und engagiert für deren Unterbringung eintrat, wird auch von daher die politisch motivierte Auswahl des Opfers deutlich. Nach dem Anschlag erklärte Frank S. bei der Polizei in der Vernehmung "Ich habe das wegen Rekers Flüchtlingspolitik getan" und kommentierte "Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg". Demnach agierte er aus fremdenfeindlichen Motiven im behaupteten Interesse des Volkes. Als Besonderheit gegenüber ähnlichen Gewaltakten kann hier nur gelten, dass nicht ein Flüchtling, sondern eine Politikerin das Opfer wurde.
Frühere Aktivitäten des Täters in der neonazistischen Szene
Hinzu kommt, dass Frank S. über eine politische Vergangenheit verfügt: Anfang der 1990er Jahre betätigte er sich im Bonner Raum im Umfeld der "Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei" (FAP), der fanatische und gewaltbereite Neonazis angehörten. 1993 nahm Frank S. auch am Gedenkmarsch für den Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß in Fulda teil. Und 1994 wollte er dieses Engagement beim verhinderten Gedenkmarsch in Luxemburg wiederholen. Bei derartigen Anlässen kamen seinerzeit regelmäßig die Aktivisten der deutschen, aber auch europaweiten Neonazi-Szene zusammen. Ab 1995 beging Frank S. mehrere politisch und unpolitisch motivierte Gewalttaten: So schlug er etwa auf einen Mann mit roten Schnürsenkeln ein, galt er ihm doch als "Antifa"-Aktivist. Bis 1998 kam es zu mehreren weiteren Gewalthandlungen und zu einer räuberischen Erpressung, was zu einem mehrjährigen Gefängnisaufenthalt führte. Demnach kann man Frank S. angesichts dieser Entwicklung dem gewaltorientierten Rechtsextremismus zurechnen.
Der Anschlag auf Henriette Reker als Form des "Lone Wolf"-Terrorismus
Zwar scheint er nach bisherigem Kenntnisstand nicht mehr in diesem Sinne aktiv geworden zu sein. Die ideologischen Prägungen behielt Frank S. aber erkennbar bei. Indessen dürfte er allein und ohne Auftrag einer Gruppe gehandelt haben. Dies spricht nicht gegen die Einschätzung einer solchen Tat als terroristisch. In den letzten Jahrzehnten konnte man in vielen Ländern das "Lone Wolf"-Phänomen konstatieren. Gemeint ist damit eine Form von politisch motivierter Gewalthandlung, wobei eine Einzelperson ohne Anbindung an eine Organisation eine Tat begeht. Als bekannteste rechtsterroristische Fälle gelten der "Lasermann" in Schweden 1990, der "Nagelbomber" von London 1999 und der Massenmörder Breivik in Norwegen 2011. Auch in Deutschland gab es ähnliche Fälle, wobei der bekannteste der von Kay Diesner sein dürfte, der 1997 einen Polizisten tötete. Nur wenige Tage nach dem Anschlag auf Henriette Reker erstach etwa aus rassistischen Motiven ein Einzeltäter in Schweden zwei Menschen in einer Schule.
Besonderheiten des Anschlags auf Henriette Reker im Vergleich
Fragt man nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden dieser Fällte mit dem Anschlag auf Henriette Reker, dann ergeben sich einige Besonderheiten dieser Tat: Breivik und der "Lasermann" gehörten zuvor keiner rechtsextremistischen Gruppe an. Demnach ideologisierten und radikalisierten sie sich eigenständig, wobei im ersten Fall einschlägige Internet-Nutzung und im zweiten Fall eine gesellschaftliche Stimmung von besonderer Bedeutung waren. Diesner und der "Nagelbomber" gehörten demgegenüber einer neonazistischen Organisation an und hatten dort eine einschlägige Politisierung bezogen auf Gewaltorientierung wie Ideologie erfahren. Dies war offenkundig auch bei Frank S. der Fall. Durch die aggressive und fremdenfeindliche Einstellung in Teilbereichen der Gesellschaft sah er sich offenkundig ermutigt, den Anschlag gegen Henriette Reker und andere Anwesende durchzuführen. Dabei scheint Frank S. allein und eigenständig gehandelt zu haben, was für einen rechtsextremistischen Fall von "Lone Wolf"-Terrorismus steht.
Das besondere Gefahrenpotential des "Lone Wolf"-Terrorismus
Neben der fremdenfeindlichen Einstellung mag noch seine persönliche Lebenssituation eine Rolle gespielt haben: Der 44jährige gelernte Lackierer und Maler lebte nach jetzigem Stand der Erkenntnisse als Langzeitarbeitsloser beruflich perspektivlos und sozial isoliert. Eine damit einhergehende Missstimmung deutete Frank S. für sich in Aversionen und Hass gegen Flüchtlinge und Politiker um, was aufgrund seiner politischen Sozialisation im Neonazismus zur Entscheidung für eine solchen Tat geführt haben dürfte. Das Fallbeispiel macht deutlich, dass nicht nur Frank S., sondern auch andere Personen mit gleichem Hintergrund als "tickende Zeitbomben" betrachtet werden müssen. Bei ihm lagen die Erfahrungen und Prägungen in der neonazistischen Szene zwanzig Jahre zurück. Gleichwohl agierte Frank S. in der beschriebenen Art und Weise. Dies belegt exemplarisch das besondere Gefahrenpotential des "Lone Wolf"-Terrorismus. Das Beispiel in Schweden nur wenige Tage später macht deutlich: Es ist wohl kaum davon auszugehen, dass der Anschlag von Köln ein Einzelfall bleiben wird.
Literatur
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Ohne Autor: Frank S. – der Mann, der Henriette Reker niederstach (19. Oktober 2015), in: www.stern.de.
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Überall, Frank: Der Kölner Messerstecher mit braunen Wurzeln, in: taz vom 19. Oktober 2015, S. 2.