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Der Begriff "Extremismus" – Worin besteht der Erkenntnisgewinn?

/ 7 Minuten zu lesen

Für die Extremismusforschung ist der Gegensatz zwischen extremistisch und demokratisch entscheidend, sagt Eckhard Jesse. Da sie Extremismen beschreibe, analysiere und auch bewerte am Maßstab des demokratischen Verfassungsstaates, sei sie zugleich Demokratieforschung.

Prof. Dr. em. Eckhard Jesse

In den siebziger Jahren lautete ein beliebtes Argument gegen Totalitarismuskonzepte – jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland –, diese seien ohne (sonderlichen) Erkenntnisgewinn. Nach dem so abrupten wie überraschenden, nahezu weltweiten Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus" erlebten sie eine ungeahnte Renaissance. Selbst Michael Gorbatschow und Boris Jelzin waren sich ungeachtet aller Streitigkeiten darin einig, die Sowjetunion sei ein totalitäres System gewesen. Die Totalitarismusforschung hat zutreffend Analogien zwischen rechten und linken Diktaturen mit Blick auf chiliastische Heilsideologien, die Massenmobilisierung, die Beseitigung des Pluralismus sowie gewalttätige Maßnahmen herausgearbeitet. Nicht zuletzt erfassen Totalitarismuskonzepte die Opferperspektive – die Rolle des entrechteten Individuums – besser als alle anderen Ansätze.

Es erscheint inkonsequent, dass Extremismuskonzepte nicht in ähnlichem Maße reüssieren konnten. Denn sie stellen eine Anwendung der Totalitarismuskonzepte auf diejenigen Kräfte innerhalb des demokratischen Verfassungsstaates dar, die diesem offen oder verdeckt den Kampf angesagt haben. Es spricht vieles dafür, dass extremistische Gruppierungen die demokratische Ordnung einschränken oder beseitigen würden, wenn sie an die Macht kämen. Wer Politikwissenschaft (auch) als Demokratiewissenschaft versteht, kommt nicht um die Extremismusforschung herum, ohne deswegen die Plausibilität anderer Ansätze in Zweifel zu ziehen.

Zugegeben, der Vergleich (politisch) gegensätzlicher – und doch auf vielerlei Art verwandter – Phänomene ist ein anspruchsvolles Unterfangen. Extremismusforschung darf nicht machtpolitischen Auseinandersetzungen und dem Kampf um Deutungshoheiten Vorschub leisten. Sie kann und soll die Autonomie der Wissenschaft in einer demokratischen Gesellschaft nicht dazu missbrauchen, Politik mit anderen Mitteln zu sein. Eine anspruchsvolle Extremismusforschung idealisiert weder die Demokratie noch dämonisiert sie die unterschiedlichen Formen des Extremismus. Dies halten ihr Gegner allerdings vor.

Für die Extremismusforschung ist der Gegensatz zwischen extremistisch und demokratisch entscheidend, nicht der zwischen "rechts" und "links". Extremismus stellt für sie die Antithese des demokratischen Verfassungsstaates dar, der auf Pluralismus, der Gewaltenteilung und der Akzeptanz der Menschenrechte basiert. Der Extremismusbegriff, der eine lange, bis auf Platon und Aristoteles zurückreichende Tradition hat, ist damit nicht dem Selbstverständnis der höchst heterogenen – mehr oder weniger – antidemokratischen Kräften entnommen. Kein Extremist bezeichnet sich als Extremist. Die Extremismusforschung hebt einerseits die massiven Unterschiede zwischen den antidemokratischen Richtungen hervor und zielt andererseits auf strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen den vielfältigen Formen etwa des Rechts- und des Linksextremismus. Das Hufeisenbild veranschaulicht dies. Kennzeichnend für Extremismen ist u.a. die Einschränkung oder Ablehnung tragender Elemente des demokratischen Verfassungsstaates wie Pluralismus, die Bejahung eines Freund-Feind-Denkens, die Akzeptanz eines hohen Maßes an ideologischem Dogmatismus und an gesellschaftlicher Homogenität, die Ausrichtung an Verschwörungstheorien und der Glaube an geschichtliche Gesetze. Auch der Fundamentalismus, dem eine Einheit von Religion und Staat eigen ist (wie etwa beim Islamismus), stellt eine Form des Extremismus dar, entzieht sich aber der Einordnung in Rechts-Links-Kategorien und damit dem Hufeisenschema.

Extremismus zeigt sich in vielerlei Varianten (mit fließenden Übergängen), etwa einer aktions-, parlaments- und einer diskursorientierten Variante. Zur ersten Kategorie gehören etwa "Autonome" und "Freie Kameradschaften", auch alle terroristischen Bestrebungen. In die zweite fallen die Parteien, in die dritte intellektuelle Bestrebungen, die mit Begriffen wie "Neue Linke" oder "Neue Rechte" unscharf umschrieben sind. Neben harten Formen des Extremismus gibt es zunehmend weiche, also solche, die nur einzelne Elemente des demokratischen Verfassungsstaates in Frage stellen. Die Forschung mag dabei in Grenzfällen zu abweichenden Ergebnissen gelangen. Das trifft ebenso für die Einordnung mancher Staaten in Bezug auf Totalitarismus zu. Während jeder Ort der Erde im geographischen Koordinatensystem exakt einzuordnen ist (z.B. Mainz: 50 Grad nördlicher Breite, 6 Grad östlicher Länge), gilt dies für Extremismen so nicht. Insofern liegt die Unschärfe in der Natur der Sache und ist kein Beleg für die Schwäche oder Unbrauchbarkeit des Extremismuskonzepts, wie manche Kritiker meinen.

Die Kritik am Terminus des Extremismus ist weit verbreitet und schillernd. Er sei ein unwissenschaftlicher, ideologieträchtiger Kampfbegriff, setze unkritisch "Rechte" und "Linke" gleich, idealisiere die "Mitte". Tatsächlich ist Extremismus der Gegenbegriff zum demokratischen Verfassungsstaat. Und die Behauptung, beide Flügel des politischen Spektrums würden gleichgesetzt, trifft so nicht zu. Vergleiche laufen keineswegs auf pauschale Gleichsetzungen hinaus. Darüber hinaus mutet es irritierend an, wenn gerade (linke oder rechte) Kritiker des Extremismusbegriffs das Schlagwort vom "Extremismus der Mitte" gebrauchen und damit einem ausufernden Gebrauch des Begriffs Vorschub leisten. Auf diese Weise wird der Extremismus nicht be-, sondern entgrenzt.

Der Extremismusbegriff steht in einem engen Zusammenhang zur Konzeption der streitbaren Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik als Reaktion auf die leidvolle Vergangenheit gilt. Extremismus beginnt eben nicht erst bei der Bejahung oder gar Anwendung von Gewalt. Und: Der demokratische Verfassungsstaat ist vielfältig gefährdet. Jeder Rechtsextremist ist ein Antidemokrat, aber nicht jeder Antidemokrat ein Rechtsextremist. Eben darauf fußt die streitbare Demokratie.

Für den Schutz des demokratischen Verfassungsstaates ist die Frage von entscheidender Bedeutung, ob Personen, Periodika und Parteien ihn bejahen oder ob sie es nicht tun – aus welcher Richtung immer. Die Forschung darf sich dieser Frage nicht entziehen. Sie kann aufschlussreiche Erkenntnisse zu den Gefährdungen des demokratischen Verfassungsstaates, zu den Erfolgsbedingungen, zu den Ursachen, zu dem jeweiligen extremistischen Intensitätsgrad, zu den möglichen Wechselwirkungen liefern. Damit nimmt die Extremismusforschung eine präventive Funktion für die Demokratie wahr. Selbstverständlich können die Ursachen für die Zunahme extremistischer Phänomene unterschiedlich sein.

Der verbreitete Eindruck, ein normativer Ansatz stünde einem empirisch-analytischen Ansatz gegenüber, ist nicht triftig. Tatsächlich liegt der Kern der Kontroverse in folgendem Punkt: Ein antiextremistischer Ansatz, der Äquidistanz zu jeder Form des Extremismus wahrt, steht einem antifaschistischen gegenüber. Die Vielzahl der vergleichenden Studien zu rechtsextremistischen Parteien, Bestrebungen und Einstellungspotentialen (auch und gerade mit Blick auf das Gefährdungspotential von Demokratien) erklärt sich u.a. mit einem schwächer gewordenen Äquidistanzgebot. Derartige Vergleiche sind ebenso legitim wie Vergleiche zwischen linksextremistischen Positionen und – eher rare – Vergleiche zwischen extremistischen Positionen in toto, ebenso zwischen extremistischen und demokratischen.

Selbstverständlich darf ein extremismustheoretischer Ansatz nicht das Ergebnis vorwegnehmen. Forschung ist nur dann Forschung, wenn sie ergebnisoffen betrieben wird. Eine extremismustheoretische Vergleichsuntersuchung vermag also zum Resultat fehlender Schnittmengen zu führen. Gleichwohl: Wir erfahren durch Vergleiche mehr über Gruppierungen, die den ideologischen Antipoden zwar bekämpfen, ihm jedoch strukturell in mancher Hinsicht ähneln, z.B. durch spezifische Feindbilder. Die Stärke extremistischer Kräfte welcher Couleur auch immer signalisiert Integrationsdefizite der demokratischen Ordnung. Insofern sind Extremismen eine Herausforderung für den demokratischen Verfassungsstaat. Sie können damit wider Willen zu seiner Revitalisierung beitragen.

Bei der Ermittlung des extremistischen Einstellungspotentials sollte ungeachtet aller unvermeidbaren Abgrenzungsproblematik intersubjektive Nachvollziehbarkeit bestehen. Die Items müssen so ausgewählt sein, dass nicht bereits die Methode ein bestimmtes Ergebnis präjudiziert. Wer etwa die Items extrem weich formuliert, stuft einen überproportional hohen Teil der Bevölkerung als extremistisch ein.

Die normative Extremismusforschung wendet sich gegen die unterschiedliche Wahrnehmung von Rechts- und Linksextremismus. Das Äquidistanzgebot ist für sie kennzeichnend. Die Gründe für die selektive Wahrnehmung der Extremismen sind vielfältiger Natur. Beispielsweise wird befürchtet, eine entschiedene Auseinandersetzung mit linksextremistischen Positionen könne indirekt auf eine Relativierung rechtsextremistischer Bestrebungen hinauslaufen. Das ist jedoch unbegründet, denn eine antidemokratische Position wird nicht durch den Hinweis auf eine andere aufgewertet. Die Extremismusforschung macht es sich gerade zur Aufgabe, den demokratischen Verfassungsstaat zu stärken und nicht die eine extremistische Variante auf Kosten der anderen hoffähig zu machen. Zwei Punkte sind von besonderem Belang.

Erstens: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung sollten den antiextremistischen Konsens verfechten, auf dem das Grundgesetz basiert. Dabei ist es wichtig, nicht pauschal gegen "Extremismus" Stellung zu beziehen, sondern Ross und Reiter zu nennen: Es gibt Rechtsextremismus, Linksextremismus und religiösen Extremismus (z.B. islamistischen Fundamentalismus). Schnittmengen dieser Formen zeigen sich u.a. im Antiamerikanismus. Die Beurteilung der Varianten des Phänomens hat nach denselben Maßstäben zu erfolgen. Innerhalb des Rechtsextremismus, des Linksextremismus und des Fundamentalismus gibt es höchst unterschiedliche Varianten. Rechtsextremismus ist nicht gleich Rechtsextremismus, Linksextremismus nicht gleich Linksextremismus. Jeder Neonationalsozialist ist ein Rechtsextremist, aber nicht jeder Rechtsextremist ein Neonationalsozialist, jeder Stalinist ein Linksextremist, aber nicht jeder Linksextremist ein Stalinist!

Zweitens: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung müssen Wandlungen im Bereich des Extremismus verstärkt zur Kenntnis nehmen. So gibt es auf der einen Seite Linksextremisten, die mit Palästinensertüchern demonstrieren ("Antiimperialisten"), auf der anderen Seite Linksextremisten, die Israelfahnen schwenken und sogar für die USA Partei ergreifen ("Antideutsche"). Gleiches gilt für Rechtsextremisten. Dieser Sachverhalt läuft aber nicht auf eine Zusammenarbeit zwischen rechten und linken Extremisten hinaus. Gemeinsame Feindbilder (wie etwa der Kapitalismus der USA oder der Islamismus) führen noch nicht zu Kooperationen. Rechtsextremisten und Linksextremisten sind sich spinnefeind. Es gibt nur wenige "Wanderer zwischen den Welten" wie etwa Horst Mahler.

Eine wesentliche Erkenntnis der normativen Extremismusforschung besteht darin, die Notwendigkeit der politisch-argumentativen Auseinandersetzung mit allen Formen des politischen Extremismus zu betonen. Ein „Bodensatz“ an antidemokratischen Positionen ist unvermeidlich. Verbote legal operierender Organisationen sind in einem stabilen Gemeinwesen wie der Bundesrepublik Deutschland prinzipiell kein angemessenes Mittel des Demokratieschutzes. Sie können nur ultima ratio sein. Das widerstreitet nicht dem Gebot der streitbaren Demokratie (Vorverlagerung des Demokratieschutzes). Diese verdient es, stärker hervorgehoben zu werden: Wertgebundenheit und Abwehrbereitschaft bedingen einander. Die liberaldemokratische Konzeption ("Keine Freiheit zur Abschaffung der Freiheit") unterscheidet sich einerseits von wertrelativistischen ("Gleiche Freiheit den Feinden der Freiheit") und autoritären ("Keine Freiheit den Feinden der Freiheit") Schutzvorkehrungen sowie andererseits von einseitig politischen ("Keine Freiheit den Rechten"; "Keine Freiheit den Linken").

Fazit: Ein wichtiger Erkenntnisgewinn des Extremismusbegriffs liegt darin, dass er Extremismen beschreibt, sie analysiert und schließlich auch bewertet. Der Maßstab dafür sind die Elemente des demokratischen Verfassungsstaates, nicht die "herrschenden Verhältnisse", wie ein Vorwurf lautet. Insofern ist Extremismusforschung zugleich Demokratieforschung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. aus der Vielzahl der Publikationen: Alfons Söllner/Ralf Walkenhaus/Karin Wieland (Hrsg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997; Eckhard Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, 2. Aufl., Baden-Baden 1999; Hans Maier (Hrsg.), Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, 3 Bde., Paderborn u.a. 1996, 1997, 2003.

  2. Vgl. etwa das Grundlagenwerk von Uwe Backes, Politische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Göttingen 2006.

  3. Vgl. u.a. Eckhard Jesse, Biographisches Porträt: Horst Mahler, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 13, Baden-Baden 2001, S. 183-199; Martin Jander, Horst Mahler, in: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, S. 372-397.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Eckhard Jesse für bpb.de

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