"Ein bedeutender Teil der Zigeuner ist nicht geeignet, unter Menschen zu leben", schrieb der Autor. Dann machte er einen Vorschlag zur Lösung der – wie er es bezeichnete – "ungarischen Zigeunerfrage": "Sie sind Tiere. Diese Tiere sollen nicht sein dürfen. In keiner Weise. Das muss gelöst werden - sofort und egal wie."
In den rechtsextremen Medien Ungarns ist viel Entsetzliches zu lesen. Es gibt im Land eine vor allem im Internet publizistisch sehr aktive rechtsextreme Szene, hat Ungarn doch eine der erfolgreichsten rechtsextremen Parteien Europas – Jobbik (Die Besseren), die bei den Wahlen Anfang April dieses Jahres 21 Prozent der Stimmen gewann. Doch der zitierte, kaum verhüllte Endlösungsvorschlag erschien nicht in einem Forum ungarischer Rechtsextremer, und der Autor war auch nicht irgendein unbedeutender Fanatiker.
Der Leitartikel wurde unter der Überschrift "Wer nicht existieren darf" am 5. Januar 2013 in der regierungsnahen Budapester Zeitung Magyar Hírlap publiziert, einem Blatt, das sich von einschlägigen Rechtsextremisten durchaus abgrenzt. Verfasst hatte den Text kein Geringerer als Zsolt Bayer – einer der ältesten politischen Freunde des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und Gründungsmitglied von dessen Partei Fidesz (Bund Junger Demokraten).
Bayer, der Fidesz einst als Pressechef diente, ist seit langem ohne Parteifunktion und im Wesentlichen publizistisch tätig. Und doch leistet er Viktor Orbán und seiner Zwei-Drittel-Regierungsmehrheit große Dienste als Mobilisierer der Parteibasis und von Wählern: Er organisiert in Budapest die so genannten "Friedensmärsche", bei denen seit 2012 jeweils zehn- oder sogar hunderttausende Ungarn ihre Solidarität mit der Orbán-Regierung bekunden und gegen "Brüsseler Putsch- und Kolonialisierungsversuche" demonstrieren.
Antieuropäischer Kurs ist Konsens – der Regierungspartei
Der Artikel löste bei dem liberal gesinnten Teil der ungarischen Öffentlichkeit und auch im Ausland große Empörung aus – in der Fidesz-Parteiführung jedoch nahm kaum jemand öffentlich Anstoß. Lediglich der als vergleichsweise liberal geltende, jedoch einflusslose Justizminister Tibor Navracsics rang sich zu einer vorsichtigen Kritik an Bayer durch – solche Positionen hätten in der Partei keinen Platz. Ausgeschlossen aus der Partei wurde Bayer jedoch nicht.
Seine "Endlösungspublizistik" (sein Artikel vom Januar 2013 war nicht der erste dieser Art) ist keine Ausnahme, sondern nur eines der krassesten Beispiele dafür, dass antihumanistisches, rechtsextremes Gedankengut in Ungarn im politischen Establishment rechts von der Mitte inzwischen als salonfähig gilt. "In vielen Bereichen verschwimmen die ideologischen Grenzen zwischen der Regierungspartei Fidesz und den ungarischen Rechtsextremen", sagt der ungarische Schriftsteller György Dalos.
Die rechtsextreme Jobbik
Gegründet 2003, war Jobbik, die "Bewegung für ein besseres Ungarn", ursprünglich ein Sammelbecken enttäuschter junger Fidesz-Anhänger, denen Orbáns Partei nicht radikal genug war. Obwohl Jobbik erst seit April 2010 im ungarischen Parlament vertreten ist – bei den damaligen Wahlen schaffte sie aus dem Stand 17 Prozent -, bestimmte die Partei schon vorher einen wesentlichen Teil des politischen Diskurses. Sie etablierte den Begriff "Zigeunerkriminalität" in weiten Teilen der gesellschaftlichen Mitte Ungarns. Mit der Gründung paramilitärischer Bürgerwehren wie der Ungarischen Garde, die jahrelang in angeblich unsicheren ungarischen Städten und Gemeinden aufmarschierten, empfahl sie sich in der Öffentlichkeit als Ordnungsfaktor. Nach der Finanzkrise 2008 trug sie mit ihren Kampagnen gegen ausländische Investoren, das "internationale Finanzkapital", die EU und die USA wesentlich dazu bei, xenophobe Stimmungen bei einem Teil der Bevölkerung anzuheizen.
Mit Rücksicht auf die Parlaments- und Europawahlen verzichten Jobbik-Politiker seit einiger Zeit bewusst auf aggressive antisemitische, antiziganistische und übertrieben europafeindliche Rhetorik. Reizworte wie "Zigeunerkriminalität" benutzen sie nicht mehr, sie fordern keine "Judenlisten" mehr, zünden keine Europafahnen mehr an – im Stil gibt man sich breitenkompatibel. Doch inhaltlich macht die Partei keine Abstriche: Noch immer fordert sie in ihrem Programm beispielsweise die Zwangsinternierung sogenannter "integrationsunwilliger" Roma-Kinder in staatlichen Heimen, die Wiedereinführung der Todesstrafe, die Untersuchung ungarischer Politiker und Beamter auf eine doppelte, sprich ungarisch-israelische Staatsbürgerschaft, die Einschränkung der Rechte von kinderreichen Sozialhilfeempfängern (gemeint sind Roma) oder auch den EU-Austritt.
Demgegenüber unterscheiden sich viele Inhalte, die von regierungsnahen ungarischen Medien verbreitet werden – neben Magyar Hírlap sind das vor allem Zeitungen wie Magyar Nemzet und Magyar Demokrata, das Lánchíd Rádió und die Fernsehsender HírTV und Echo TV
Rechte Medienagenda spiegelt nationalen Konsens wider
Dabei drücken regierungsnahe Publizisten und Intellektuelle oft nur in zugespitzter Form aus, was unter der nationalistisch-ultrakonservativen Regierungsmehrheit aus Fidesz und der ihr angeschlossenen kleinen christdemokratischen Partei KDNP zum großen Teil Konsens ist.
Besonders weit gehen mit ihren Aussagen oft auch Fidesz-nahe Kulturpolitiker. Der Kulturbeauftragte des Ministerpräsidenten, Imre Kerényi, ist ein bekennender Schwulenhasser. Kurz bevor im Sommer 2013 der Vertrag des Intendanten des Nationaltheaters, Róbert Alföldi (der homosexuell ist), auslief, sagte Kerényi bei einer Pressekonferenz, künftig werde es im Theater "nicht mehr um Schwuchteln gehen, sondern um Liebe, Ehre und Treue". György Fekete, der Vorsitzende der Ungarische Kunstakademie (MMA), ein inoffizielles Kulturministerium mit weitreichenden Befugnissen, fordert, dass bei "keinem Akademiemitglied das genetische Gefühl des Nationalismus fehlen" dürfe und bedauert, dass ungarische Schriftsteller mit jüdischen Wurzeln im Ausland überhaupt noch als Ungarn angesehen würden.
Oft genug greift auch der ungarische Regierungschef Viktor Orbán selbst in der Öffentlichkeit Gedankengut von Rechtsaußen in abgemilderter Form auf:
Im Juli 2012 sagte Orbán auf einer ungarnweit vielbeachteten Pressekonferenz zur neuen Roma-Politik seiner Regierung: "Auch die Roma müssen arbeiten. Von Kriminalität kann man nicht leben. Auch von Sozialhilfe kann man nicht leben oder jedenfalls nur sehr viel schlechter als von Arbeit."
Als im September 2012 im südungarischen Ort Ópusztaszer ein großes Turul-Denkmal eingeweiht wurde, jenes mythischen Vogels, der die ungarischen Stämme vor mehr als tausend Jahren ins Karpatenbecken geführt haben soll, sagte Viktor Orbán in seiner Festrede: "Der Turul-Vogel ist das Urbild der Ungarn. Es gehört zum Blut und zum Heimatboden. Es ist das Symbol für die nationale Identität aller jetzt lebenden, aller toten und aller künftig geborenen Ungarn. Damit wir eine starke politische Gemeinschaft bilden können, müssen wir unseren Zusammenhalt stärken. Wir, die Ungarn des nationalen Zusammenhaltes, müssen mit unserer Liebe, unserer Dienstwilligkeit und unserem Frohsinn alles Schlechte und alle Uneinigkeit aus dem ungarischen Leben herausdrängen."
Am 23. Oktober 2013, dem ungarischen Nationalfeiertag, hielt Viktor Orbán eine der schärfsten antieuropäischen Reden seiner politischen Karriere. Verräter und innere Feinde der Nation, sagte er, hätten mit feindlich gesinnten Fremdländischen paktiert, um Ungarn und seine Menschen den Bürokraten der Europäischen Union, den Spekulanten und der internationalen Finanzindustrie auszuliefern. Doch die Nation habe entschieden, nicht mehr in der Gefangenschaft des Auslands zu leben: "Wir haben den Kolonisierungsversuch abgewehrt."
Am 10. Mai dieses Jahres legte Viktor Orbán im Parlament erneut den Amtseid als Regierungschef ab. In seiner anschließenden programmatischen Rede zählte er auf, welche Werte in dem von ihm regierten Ungarn maßgeblich seien: "Arbeit statt Spekulation, gegenseitige Verantwortung statt Liberalismus, Kampf für den Erhalt der nationalen Unabhängigkeit statt Unterwerfung unter die globalen Kräfte, Erziehung der Kinder zur Heimatliebe statt Internationalismus, konsequente, würdevolle Ordnung statt alles duldende Unordnung."
Fischt Fidesz nur aus Taktik am rechten Rand?
Die meisten ungarischen Beobachter bescheinigen Viktor Orbán, dass er selbst weder ein expliziter Antisemit oder Antiziganist sei. Es gehe Orbán mit seiner Rhetorik vielmehr darum, rechte Wähler zu binden, sagt der Schriftsteller György Dalos. "Er und seine Partei brauchen die rechten Wähler, weil ihnen die linken wegen ihrer schlechten Sozialpolitik davonlaufen."
Doch es bleibt nicht nur bei Rhetorik. Teils abgemildert, teils auch unverändert haben Orbán und seine Regierungsmehrheit in den letzten Jahren einen Teil der rechtsextremen Jobbik-Programmatik umgesetzt:
Im Gedenken an den Friedensvertrag von Trianon, durch den Ungarn 1920 zwei Drittel seines Territoriums verloren hatte, erklärte die Orbán-Regierung bei ihrem Amtsantritt im Mai 2010 den 4. Juni gesetzlich zum „Tag des nationalen Zusammenhalts“ aller Ungarn in aller Welt.
Statuen angeblicher kommunistischer Landesverräter wurden geschleift und – unter Beteiligung von Fidesz-Politikern – solche für den Reichsverweser Miklós Horthy aufgestellt, der als ungarisches Staatsoberhaupt der Zwischenkriegszeit mitverantwortlich für den Holocaust an den ungarischen Juden war. Viele intellektuell einflussreiche Persönlichkeiten aus dem Lager der Orbán-Partei wie etwa die Historikerin Mária Schmidt, die in Budapest das "Haus des Terrors" leitet, verlangen, dass Horthy nicht nur aufgrund seiner Verantwortung für den Holocaust bewertet, nicht nur "einseitig mit negativen Adjektiven abgestempelt" werden soll (so Schmidt in einem Interview mit dem Autor), sondern man seine Herrschaft nuanciert betrachten müsse. In Teilen von Orbáns Regierungspartei wird die Horthy-Ära verklärt, auf lokaler Ebene initiierten oder unterstützen Fidesz-Politiker die Aufstellung von Horthy-Statuen. Die seit 2012 gültige Verfassung beschwört in ihrer Präambel in verklausulierter Weise den Geist des Horthy-Regimes. Verwiesen wird dort auf den "tausendjährigen Ungarnstaat", verkörpert durch die "historische Verfassung und die Heilige Stephanskrone", die "geistige und seelische Einheit" einer "in Stücke gerissenen Nation", die Pflicht zur Bewahrung der einzigartigen ungarischen Sprache, des Ungarntums und der ungarischen Nationalkultur. Die Präambel stellt außerdem fest, dass Ungarns Souveränität mit der deutschen Besatzung am 19. März 1944 endete, die Mitverantwortung für den Holocaust an den ungarischen Juden wird damit indirekt geleugnet.
Der Nationale Grundlehrplan (NAT) empfiehlt mehrere antisemitische Schriftsteller der Zwischenkriegszeit als Lektüre, unter ihnen Albert Wass, ein in Rumänien in Abwesenheit zum Tode verurteilter Kriegsverbrecher, sowie József Nyírö, ein Blut-und-Boden-Schriftsteller und einflussreicher Ideologe der nationalsozialistischen ungarischen Pfeilkreuzler. Wass ist heute in Ungarn ein inoffizieller Nationaldichter, dutzende Wass-Statuen stehen im Land, errichtet durch Lokalverwaltungen aus Steuergeldern. Im April 2008 weihten der heutige Außenstaatssekretär Zsolt Németh und der heutige Budapester Bürgermeister István Tarlos im Budapester Stadtteil Csepel eine Wass-Statue ein. Pfingsten 2012 nahmen der Parlamentspräsident László Kövér und der damalige Kulturstaatssekretär Géza Szöcs in Rumänien an einer Wiederbegräbniszeremonie für József Nyírö teil – obwohl rumänische Behörden dies verboten hatten. Ungarische Staatsbeamte hatten die Urne mit der Asche Nyírös zuvor nach Rumänien geschmuggelt, wie Szöcs später stolz verkündete.
Die Sozialhilfegesetzgebung wurde drastisch verschärft. Der Zwang zu gemeinnütziger Arbeit für Sozialhilfeempfänger wurde stark ausgeweitet, Lokalbehörden haben das Recht, den Anspruch auf Sozialhilfe für Berechtigte zu streichen, wenn bei Ordnungskontrollen in Wohnungen unordentliche und unhygienische Verhältnisse oder Vernachlässigung der Kinder festgestellt werden. Die entsprechenden Bestimmungen sind weit gefasst. Insgesamt richten sich die Maßnahmen vor allem gegen Roma, da der Anteil unter ihnen, der Sozialhilfe erhält, im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt überproportional hoch liegt und sie zudem meistens in extremer Armut und in völlig verelendeten Verhältnissen leben.
Die Rechte paramilitärischer Bürgerwehren wurden gestärkt, das Recht auf bewaffneten Selbstschutz auf eigenem Grund und Boden eingeführt, ein Zugeständnis an Roma-Hasser. Außerdem führte die Orbán-Regierung eines der strengsten Strafgesetzbücher Europas ein, u.a. wurden Strafen für viele Delikte verschärft und die Strafmündigkeit für schwere Straftaten auf das Alter von 12 Jahren gesenkt.
Orbáns Partei hat sich auch ideologisch nach rechts geöffnet
Vertreter der Orbán-Regierung beschweren sich immer wieder darüber, dass man sie mit den Rechtsextremen von Jobbik gleichsetze. Gergely Pröhle, Staatssekretär für Europaangelegenheiten im Außenministerium und oft Gesprächspartner ausländischer Journalisten, weist darauf hin, dass sich die Orbán-Regierung schon oft von Rechtsextremismus abgegrenzt habe, dass sie viel tue, um an den Holocaust zu erinnern oder Antisemitismus zu bekämpfen. "Die Projektion von Rechtsextremen auf eine bürgerlich-konservative Regierung ist eine bekannte linke Taktik aus der Weltgeschichte", sagt Pröhle.
Tatsächlich grenzt sich die Orbán-Regierungsmehrheit deklarativ immer wieder recht deutlich von Rechtsextremismus ab. Beobachter wie der Historiker Krisztán Ungváry, der sich selbst eher als Konservativer verortet, bezeichnen das jedoch als "Augenwischerei". "Wenn die Regierung Antisemiten wie die Schriftsteller Wass und Nyírö in die Lehrpläne einführt oder sie ehrt, kann sie nicht zugleich behaupten, dass sie sich glaubwürdig von Antisemitismus abgrenzt", sagt Ungváry. "Fidesz ist eine doppelzüngige Partei, sie will im Inland die Wähler der Rechten erobern, aber sich zugleich auch vor dem Ausland gut präsentieren."
Dass Viktor Orbáns Partei sich innenpolitisch weit nach rechts öffnet, ist eine Entwicklung, die rund zwei Jahrzehnte zurückreicht. Mit eher mäßigem Erfolg hatte Orbán nach der ungarischen Wende 1989/90 versucht, seiner Partei ein Zentrumsprofil zu geben. Nach einem Wahldebakel 1994 verordnete er Fidesz eine abrupte, scharfe Wende nach rechts. Die Rhetorik Orbáns und seiner Partei ist seither von zunehmendem Nationalismus und Ungarozentrismus geprägt.
Bereits im Wahlkampf 1998 erzeugte Orbán eine Atmosphäre verbalen Bürgerkriegs. Nach seiner ersten Regierungszeit von 1998 bis 2002 kommentierte Orbán seine Wahlniederlage im Frühjahr 2002 mit den Worten: "Die Heimat kann nicht in der Opposition sein." Es war das erste Mal, dass er sich und seine Partei als deckungsgleich mit der ungarischen Nation und ihren Interessen deklarierte.
Ein weiterer Wendepunkt waren die Ereignisse im Herbst 2006, als eine an die Öffentlichkeit gelangte Geheimrede des damaligen sozialistischen Regierungschefs Ferenc Gyurcsány, in der dieser betrügerische Wahlversprechen zugab, zu einer wochenlangen Belagerung des Parlamentes durch Demonstranten und schließlich zu schweren Straßenunruhen in Budapest führte. Anführer der Unruhen waren rechtsextreme Gruppen. In der Hoffnung, die sozialistisch-liberale Koalition von der Macht zu vertreiben, verbündete sich Fidesz damals mit den Rechtsextremen – eine Legitimierung, die einer der Ausgangspunkte für den Aufstieg von Jobbik zu einer 17- und schließlich einer 21-Prozent-Partei war.
Drei Jahre später, im September 2009, verkündete Viktor Orbán in einer später an die Öffentlichkeit gelangten Rede seine Vision des künftigen Ungarn: Er hoffe, dass Ungarn künftig für mindestens zwei Jahrzehnte von einer einzigen Regierungspartei, natürlich seiner eigenen, regiert werde, einem "zentralen Kraftfeld", dem es um eine ungarozentristische Perspektive gehe – Ungarn müsse ein "ungarisches Land" werden.
Acht Monate später war Orbán am Ziel – sein Zwei-Drittel-Wahlsieg schuf die Voraussetzung für die radikale Umgestaltung Ungarns. Und einiges spricht dafür, dass Orbáns Traum von einer zwanzigjährigen Herrschaft Wirklichkeit wird.
Die Bevölkerung zieht sich ins Private zurück
Wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass das frühere Musterreformland Ungarn sich so radikal wandelt, dafür bietet der linke Philosoph G. M. Tamás ein komplexes Erklärungsmuster an. Es seien ausgerechnet die sozialistischen und linksliberalen Parteien gewesen, die in Ungarn jahrelang eine klassisch neoliberale Politik gemacht hätten, so Tamás. Als Folge seien breite gesellschaftliche Schichten völlig verarmt, für sie sei die postkommunistische Transformation komplett gescheitert, vor allem in der unteren Mittelklasse sei die Panik vor dem Absturz sehr ausgeprägt. "Rechtsextremes Denken ist in osteuropäischen Gesellschaften auch ein Ausdruck der Rebellion des Mittelstandes", so Tamás. "Überall in der Region gibt es einen staatsabhängigen Mittelstand, dessen Lage sehr unsicher ist, der seine Position und sein Prestige zu verlieren droht und der immer härter um die immer winzigeren Ressourcen des Staates kämpft."
Tamás warnt jedoch davor, Orbán, seine Regierungsmehrheit und seine Anhängerschaft mit der Haltung der gesamten ungarischen Gesellschaft gleichzusetzen. Tatsächlich zeigen Umfragen der letzten Jahre ein widersprüchliches Bild: Antisemitische Empfindungen unter der Bevölkerung sind leicht rückläufig, aber im Vergleich zu der Zeit vor Orbáns Machtantritt noch immer sehr verbreitet. Roma, Rumänen und Schwarze zählen zu denjenigen, die auf die größte Ablehnung stoßen. Anderseits: Die meisten Ungarn sind eher europafreundlich eingestellt – ihr Vertrauen in die EU liegt sogar leicht über dem europaweiten Durchschnitt. Insgesamt reagieren viele Ungarn auf die politischen Verhältnisse mit einem Rückzug ins Private, zugleich ist die Zahl der jungen, gut Gebildeten, die das Land verlassen, in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen: Nach offiziellen Angaben sind in den vergangenen vier Jahren rund 500.000 Ungarn ausgewandert – das wären immerhin 5 Prozent der Bevölkerung.