Heidenheim, ein Freitagabend im Dezember 2003. Viktor Filimonow (15), Waldemar Ickert (16) und Aleksander Schleicher (17) stehen in einer Traube Jugendlicher vor dem Eingang der Diskothek K2, irgendwann kommt Leonhard Sch. (17) hinzu. Der ist ein bekannter Rechtsextremist mit kahlgeschorenem Kopf und Bomberjacke, sie selbst sind Spätaussiedler, ein paar Jahre zuvor mit ihren Eltern aus Russland in die baden-württembergische Kleinstadt gezogen. An selber Stelle hatte Leonhard Sch. Wochen zuvor einen Punk zusammengeschlagen und hat deshalb Hausverbot in der Disko, der Türsteher weist ihn ab. An diesem Abend, wenige Tage vor Weihnachten, werden die Spätaussiedler seine Opfer. Wegen einer Lappalie beginnt ein Streit, plötzlich zieht Sch. ein Messer, blitzschnell sticht er mit dessen 20 Zentimeter langen Klinge allen dreien direkt ins Herz – so wie er es in seiner Clique oft geübt hatte. Filimonow und Ickert sind sofort tot, Schleicher stirbt wenig später im Krankenhaus. Das Landgericht Ellwangen verurteilt Sch. im Juli 2004 zu neun Jahren Jugendstrafe wegen Totschlags. Zwar sei der Verlauf der Auseinandersetzung ohne das fremdenfeindliche Weltbild des Angeklagten nicht erklärbar, räumen die Richter ein, die direkte Tat jedoch halten sie für nicht rassistisch motiviert. Die Staatsanwaltschaft hingegen spricht bis heute explizit von einem "Kapitalverbrechen mit rechtsextremem Hintergrund", Opferinitiativen sehen es genauso.
63 Menschen kamen nach Angaben des Bundesinnenministeriums seit 1990 in Deutschland durch rechte Gewalt zu Tode – Viktor Filimonow, Waldemar Ickert und Aleksander Schleicher zählen nicht dazu. Unabhängige Recherchen, etwa von Opferberatungsstellen oder Journalisten, kommen auf viel höhere Zahlen – auf bis zu 183 Tote. Nicht nur bei der Zahl der Getöteten sind die Diskrepanzen beträchtlich, immer wieder steht die Öffentlichkeit vor widersprüchlichen Angaben: In Brandenburg beispielsweise meldete das Innenministerium für 2012 58 rechte Gewalttaten
Seit vielen Jahren wird deutschen Behörden vorgeworfen, sie hätten Probleme, Gewalt von rechts als solche zu erkennen. Spätestens im November 2011 bestätigte sich dies auf erschreckende Weise, als bekannt wurde, dass die rechtsterroristische Gruppe "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) mehr als ein Jahrzehnt lang mordend und raubend durchs Land gezogen war. Doch die Grundfrage bleibt: Steckt dahinter ein grundsätzliches Problem? Hat der Staat auf dem rechten Auge womöglich eine Sehschwäche?
Wer nach Gründen sucht für die großen Diskrepanzen in den Statistiken, muss ziemlich tief eintauchen in die Arbeit von Polizei und Justiz und mehr als ein Jahrzehnt zurückblicken. Bis Anfang der 2000er Jahre definierten die Behörden rechte Gewalt sehr eng: Sie zählten nur rechtsextremistische Taten, also solche, die – dem sicherheitspolitischen Extremismusbegriff folgend – direkt auf die Abschaffung des Staates oder seiner freiheitlich-demokratischen Grundwerte zielten. Viele Angriffe etwa von Skinheads auf Migranten oder Punks fielen schon rein methodisch durch dieses Raster; außerdem war in den neuen Bundesländern direkt nach der Wende die Polizei oft nicht arbeitsfähig, vielerorts wurde Rechtsextremismus auch bewusst verharmlost. Im Ergebnis sprachen die Behörden im Laufe der neunziger Jahre von lediglich 22 Toten. Die Journalistin Heike Kleffner arbeitete damals für die Frankfurter Rundschau. Ständig habe sie über schwere Gewalttaten von Neonazis vor allem in Ostdeutschland geschrieben, erinnert sie sich, und es sei "quasi Normalzustand" gewesen, dass die Sicherheitsbehörden keinen rechten Hintergrund sahen. Nach langen Recherchen veröffentlichte sie im September 2000 gemeinsam mit Frank Jansen vom Berliner Tagesspiegel eine eigene Opferliste – mit 93 Namen. Rasch räumte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) "Erfassungsdefizite" ein und gab nach einer Überprüfung im November eine korrigierte Zahl bekannt: Nun enthielt die offizielle Statistik immerhin 36 Opfer.
Nach ausführlichen Beratungen reformierten die Innenminister aus Bund und Ländern dann die komplette Zählmethodik. Seit 1. Januar 2001 wird nicht mehr von "rechtsextremistischen" Taten gesprochen, sondern von "politisch rechts-motivierter Kriminalität", kurz: "PMK rechts". Die neue Definition soll alle Taten erfassen, die aufgrund typischer extrem rechter Ressentiments begangen werden – auch wenn sie sich nicht gegen den Staat richten und keiner geschlossenen Ideologie folgen. In die Statistik müssen nun Delikte einfließen, wenn – so die etwas sperrige Formulierung – "die Umstände der Tat oder die Einstellung des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres äußeren Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status" gerichtet hat. Im Klartext: Ein rassistisch motivierter Angriff soll in die Statistik einfließen, auch wenn der Täter kein Mitglied der rechtsextremistischen NPD ist. Und wird ein Obdachloser von jemandem zusammengeschlagen, der ihn für minderwertig hält, zählt das ebenfalls.
Neue Zählkriterien, aber immer noch viele Schwierigkeiten
Die Realität der Gewalt von rechts kann diese neue Zählweise zweifellos besser erfassen. "Insgesamt als erfolgreich" wurden die neuen Kriterien denn auch von einer Expertenkommission der Bundesregierung im Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht 2006 gelobt. Doch eine gründliche Neubewertung von Altfällen anhand der weitergefassten Definition gab es nur in einigen Ländern. In manchen Fällen scheiterte eine Nachprüfung schon daran, dass in der Zwischenzeit Ermittlungsakten vernichtet worden waren. Gelegentlich ist auch das Argument zu hören, nach einem abgeschlossenen Gerichtsverfahren dürften staatliche Stellen die bereits abgeurteilten Taten gar nicht mehr neu bewerten, weil das als Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit verstanden werden könne. Jedenfalls tauchen besonders viele Altfälle nicht in den Statistiken auf. Die Diskrepanz zwischen den verschiedenen Zählungen ist für die Zeit vor der Reform am größten, bis 2001 zählen unabhängige Stellen 84 Tote mehr als der Staat.
Für die Jahre 2001 bis 2012 beträgt die Differenz aber immer noch beträchtliche 40 – etliche Schwierigkeiten bestehen also offenbar weiter: So werden die Statistiken von der Polizei geführt und sind sogenannte Eingangsstatistiken – das heißt, Meldungen erfolgen, sobald ein Fall in einer Dienststelle eingeht. Der Sinn dahinter ist, möglichst aktuelle Zahlenwerke zu erhalten. Doch gerade politische Hintergründe einer Tat zeigen sich oft erst später, im Laufe der Ermittlungen oder gar erst in der irgendwann folgenden Gerichtsverhandlung. Theoretisch sollten solche Fälle dann nachgemeldet werden, in der Praxis scheint das nicht immer zu klappen.
Eine weitere Fehlerquelle liegt wohl auch bei der Justiz. Eigentlich sollten Gerichtsprozesse die Tatmotive detailliert aufklären, im Urteil festhalten und natürlich bei der Strafzumessung berücksichtigen. Doch spricht man mit Juristen, so ist immer wieder zu hören, dass sich überlastete Richter oft davor scheuen, rechte Motivationen aufzuarbeiten. Dies bedeutet zum einen viel Arbeit, obendrein erhöhe es das Revisionsrisiko. Der zuständige Senat am Bundesgerichtshof (BGH), erklärt Klaus Przybilla, ehemaliger Jugendrichter am Landgericht Potsdam, beanstande häufig Begründungen für das Mordmerkmal "sonst aus niedrigen Beweggründen", worunter rechtsmotivierter Hass fällt – es liege nahe, dass diese Spruchpraxis des BGH zu einer "Zurückhaltung der Richter" führe.
Zudem scheint es regionale Unterschiede zu geben, in verschiedenen Ländern wird verschieden gezählt. Das lässt sich kaum ändern, weil im föderalen System grundsätzlich die einzelnen Bundesländer und ihre Landeskriminalämter für die Statistik zuständig sind, das Bundeskriminalamt (BKA) und das Innenministerium in Berlin fassen lediglich die gemeldeten Fälle zusammen. Zwar gibt es beim BKA eine "Arbeitsgruppe Qualitätssicherung" für die PMK-Statistik, die gemeinsam mit Vertretern der Länder eine bundesweit einheitliche Anwendung der Kriterien sicherstellen soll – aber mehr als appellieren kann sie nicht. Und manche Schwierigkeit liegt auch in der Natur der Sache: Die Polizei kann nur Delikte zählen, die angezeigt werden – erfahrungsgemäß wenden sich manche Opfer rechter Angriffe aber nur an unabhängige Beratungsstellen. Außerdem sei die Einschätzung eines Motivs ja die individuelle Entscheidung eines Polizisten, erklärt Hans-Gerd Jaschke, Professor am Bereich Polizei der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin, und dieser subjektive Faktor werde durch die Formulierung der amtlichen Erfassungskriterien noch betont: Es gehe darum, von "Umständen" oder "Einstellungen" auf etwas "zu schließen". Experten wie er berichten auch, dass Tatmotive für Ermittler häufig zweitrangig sind – haben sie den Täter, ist für sie der Fall abgeschlossen.
Immer wieder zeigt sich aber auch, dass viele Polizisten selbst zwölf Jahre nach Einführung der neuen PMK-Definition noch die alten Extremismus-Zählkriterien im Kopf haben. Besonders häufig übersehen die Behörden Angriffe auf Obdachlose oder andere sozial Benachteiligte – dies legt jedenfalls ein Vergleich der staatlicherseits erfassten und nicht erfassten Todesopfer nahe: Von den ausländerfeindlichen Taten, die Journalisten von Tagesspiegel und anderen Zeitungen ermittelten, fehlen "nur" etwa 50 Prozent in den offiziellen Statistiken; Tote aus sozialen Randgruppen, etwa Obdachlose oder Behinderte, wurden hingegen zu mehr als 70 Prozent nicht erfasst. Dabei sind gerade sie es, die in den vergangenen zehn Jahren zunehmend von rechten Tätern angegriffen worden sind. Was sich Polizisten unter rechts motivierter Gewalt vorstellen, wird (wie auch bei der breiten Öffentlichkeit) nach wie vor von rassistischen oder auch antisemitischen Angriffen bestimmt – dass eine sozialdarwinistische Verachtung von angeblich minderwertigem Leben ein wichtiges Element extrem rechten Denkens darstellt und deshalb in die reformierten Zählkriterien aufgenommen wurde, ist ihnen offenbar wenig bewusst. Nach mehr als einem Jahrzehnt Praxiserfahrung müsste man die Reform eigentlich gründlich evaluieren, meint beispielsweise der Berliner Polizeiprofessor Hans-Gerd Jaschke. Doch Pläne dafür gibt es nach Auskunft der Innenministerkonferenz derzeit nicht.
Als Resultat all solcher Probleme tauchen die drei in Heidenheim getöteten Spätaussiedler in der offiziellen Statistik nicht auf. Ebenso wenig der geistig Behinderte Hans-Joachim Sbrzesny, den 2008 zwei betrunkene Rechtsextreme in einem Park in Dessau (Sachsen-Anhalt) erschlugen, oder der alkoholkranke Obdachlose André K., der 2011 in Oschatz (Sachsen) zu Tode geprügelt wurde. Auch Peter Siebert fehlt, der im April 2008 im bayerischen Memmingen von einem polizeibekannten Rechtsextremisten erstochen wurde, nachdem er sich mehrfach über das Abspielen rechtsextremer Musik beschwert hatte. In Polizeivernehmungen gab der Täter ein politisches Motiv zu. Doch in der eintägigen Verhandlung vor dem Landgericht Memmingen spielte es keine Rolle, was das Gericht im Rückblick bedauert. Weil aber die Hintergründe nicht im Urteil erwähnt wurden, fand die Tat keinen Eingang in die bayerische PMK-Statistik.
Auf unabhängigen Listen von Opfern rechter Gewalt hingegen tauchen alle genannten Toten auf, etwa in den Fallsammlungen, die der Tagesspiegel in Fortsetzung seiner 2000er Recherchen gemeinsam mit der Wochenzeitung DIE ZEIT
Eine weitere Statistik führt die Amadeu Antonio Stiftung, benannt nach einem 1990 im brandenburgischen Eberswalde zu Tode geprügelten Angolaner; sie verzeichnet sogar 183 Opfer
Die Amadeu-Antonio-Stiftung zählt übrigens auch die zehn Menschen mit, die 1996 beim Brandanschlag auf ein Lübecker Flüchtlingsheim ums Leben kamen.
Kritik an ihren Statistiken wiesen die Behörden lange zurück
Seit dem Jahr 2000, also seit Beginn der öffentlichen Debatten um die Statistiken, hatten Bund und Länder nach und nach bereits 15 weitere Tote nachträglich in ihre Opferlisten aufgenommen. Doch grundsätzliche Kritik an der Zählweise wiesen die Innenministerien mehrfach zurück. Beispielsweise hieß es im September 2011 in einer Antwort der Regierung auf eine Bundestagsanfrage der Linkspartei, das Bild von Straftaten "im Phänomenbereich 'Politisch motivierte Kriminalität – rechts'" sei "realistisch und umfassend". Es gebe keinen Grund, die Arbeit der Sicherheitsbehörden "in Zweifel zu ziehen" – knapp zwei Monate später flog der NSU auf und das Erschrecken über das Versagen des Staates war groß. Untersuchungsausschüsse und Expertenkommissionen nahmen ihre Arbeit auf. Und die Innenminister versprachen, noch einmal flächendeckend nach alten Gewalttaten zu suchen, bei denen ebenfalls eine nicht erkannte rechte Motivation vorliegen könnte.
Ergebnisse gibt es bisher lediglich aus drei ostdeutschen Bundesländern. Der sächsische Innenminister Markus Ulbig (CDU) erkannte Anfang 2012 zwei Tote nachträglich an, die zuvor nur auf inoffiziellen Listen genannt waren. Das schwarz-rot regierte Sachsen-Anhalt meldete im Mai 2012 als Resultat einer internen Prüfung von Innen- und Justizministerium drei Fälle für die offizielle Statistik nach. Die Landesregierung hat ihre jüngste Untersuchung in der 44-seitigen Broschüre "Rechts motiviert? Bericht zur Untersuchung ausgewählter Tötungsdelikte der Jahre 1993 bis 2008 in Sachsen Anhalt" dokumentiert. Trotz aller Fortschritte belegt diese einmal mehr, dass die Behörden ihre eigene Definition rechtsmotivierter Gewalt kaum verstehen: Dort werden Taten gegen Sozialschwache oder auch Homosexuelle mehrfach als nicht rechts klassifiziert, weil es Abneigungen gegen diese Gruppen auch in der Allgemeinbevölkerung gebe. Hass auf Obdachlose sei "zwar zweifellos Beleg für eine menschenverachtende Gesinnung", heißt es da beispielsweise, "aber nicht zwangsläufig nur auf ein rechtes Weltbild zurückzuführen". Und weiter: "Ressentiments gegenüber obdachlosen, alkoholkranken oder sonst abweichend von der üblicherweise akzeptierten Norm lebenden Menschen sind in allen Gesellschaftsschichten bis ins bürgerliche Milieu hinein und in allen politischen Weltanschauungen anzutreffen."
Dies stimmt sicherlich – doch wurden die neuen PMK-Kriterien im Jahr 2001 ja gerade deshalb eingeführt, um nicht mehr nur Täter mit geschlossenem rechtsextremistischem Weltbild erfassen zu können, sondern auch Delikte, die auf einzelne Elemente der Ideologie zurückgehen. Dass auch Normalbürger Ressentiments gegen Randgruppen pflegen, zeigt nur, wie erschreckend weit diese verbreitet sind – aber nicht, dass der Ursprung solcher Ungleichwertigkeitsvorstellung rechtsaußen liegt.
Am weitesten geht Brandenburg, wo im März 2013 eine detaillierte Untersuchung von mehr als 30 Altfällen startete. Innenminister Dietmar Woidke (SPD) hat unabhängigen Wissenschaftlern des Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrums dafür unter anderem zugesichert, sämtliche Archive von Polizei und Justiz zu öffnen. "Ich gehe davon aus", sagte Woidke bereits bei Projektstart, "dass wir deutlich mehr als die [bislang offiziell anerkannten] neun Todesopfer rechter Gewalt hatten". Gezielt sollen die Experten nach Gründen suchen, warum in den vergangenen 20 Jahren bestimmte Fälle durchs Raster fielen – einiges davon ist mit Sicherheit auch auf andere Länder übertragbar, die für 2015 erwarteten Ergebnisse der Studie dürften deshalb auch bundesweit von Interesse sein.