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Sobald nach einem Terroranschlag Details zu dem oder den Täter(n) bekannt werden, ist deren Hintergrund und Biografie ein fester Bestandteil vieler Medienbeiträge – und oft wird es für besonders berichtenswert gehalten, wenn es eigentlich nichts Berichtenswertes gibt: "Er war ein ganz normaler Junge"
Für diesen Weg von der Unauffälligkeit hin zu politisch motivierter Gewaltbereitschaft hat sich der Ausdruck 'Radikalisierung' etabliert. Als der Begriff Mitte der 2000er Jahre an Popularität gewann, wurden darunter alle Hypothesen zu Grundursachen, Einflussfaktoren und Auslösern von Terrorismus subsumiert – "all das was passiert, bevor die Bombe hochgeht", wie der renommierte Radikalisierungsforscher Peter Neumann bewusst rekursiv formulierte.
Wenn man sich dem Thema dennoch widmet, wird schnell klar, dass bei Radikalisierung verschiedene Ebenen ineinandergreifen:
die Umstände, wie z.B. globale und regionale Konflikte, Ungleichheit und Streben nach politischer Veränderung – die sogenannte Makro-Ebene;
das Umfeld, also bestimmte Milieus, soziale Bewegungen oder Gruppen – genannt Meso-Ebene; und
das Individuum mit seinen Eigenschaften, Motivationen und Veränderungen – die Mikro-Ebene.
Intuitiv scheint Psychologie vor allem für die Mikro-Ebene wichtig zu sein. Das ist nicht falsch, aber auch die Meso- und Makro-Ebene üben psychologische Wirkungen auf das Individuum aus, deren Bedeutung für den Radikalisierungsprozess kurz umrissen werden soll.
Mikro-Ebene
1. Psychopathologie
Eine veraltete Erklärung, die die Ursache für Radikalisierung alleine beim Individuum verortet, ist der psychopathologische Ansatz – also die Vermutung, Terroristen seien schwer geistes- oder persönlichkeitsgestört. Während dieser Ansatz als alleinige Erklärung gründlich widerlegt ist
2. Nicht-pathologische Persönlichkeitseigenschaften
Auch der Blick auf nicht-pathologische Persönlichkeitseigenschaften offenbart nur mittelbare Zusammenhänge. Bei einer Linguistik-basierten Analyse der 'Big Five'-Persönlichkeitsdimensionen (Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus) unterschieden sich Extremisten zwar von einer zufälligen Kontrollgruppe, aber nicht von moderaten Anhängern ihrer jeweiligen Ideologie.
Mehr Erklärungspotenzial wird in sozialer Dominanzorientierung (SDO) und Autoritarismus gesehen. Erstere bezeichnet die Einstellung zu der Frage, ob das Verhältnis von Gruppen zueinander egalitär oder hierarchisch sein soll; letzteres bezeichnet die Einstellung zu Autoritäten und die Bereitschaft, gegen sanktionierte Gegner vorzugehen. SDO und Autoritarismus stehen nicht direkt mit Radikalisierung in Verbindung, wohl aber mit Vorurteilsbildung
3. Identität und Identitätsbildung
Ein weiterer wichtiger Faktor sind Identität und Identitätsbildung. Identität kann als die Antwort auf vier Fragen verstanden werden:
"Wer und wie bin ich?" (Selbsterfahrung);
"Zu wem gehöre ich?" (Zugehörigkeit);
"(Wie) kann ich selbst über mein Leben bestimmen?" (Selbstbestimmung); und
"(Warum) bin ich ein guter Mensch?" (Selbstwert).
Wenn die Antworten fehlen, negativ ausfallen oder in Zweifel geraten, löst das auf Dauer eine Identitätskrise aus, in der radikale Ideologien verführerisch sein können (siehe unten). Wie zahlreich und wie verlässlich die Antworten auf die Fragen ausfallen, hängt auch davon ab, wie breit eine Identität aufgestellt ist. Je mehr verschiedene Rollen ('Identity Commitments', wie z.B. Elternteil, Arbeitnehmer, Beziehungspartner, Staatsbürger usw.) eine Identität aufweist, desto komplexer und damit moderater ist sie.
Einige Theorien stellen einen Zusammenhang zwischen Radikalisierung und einem bestimmten Aspekt der individuellen Psyche her:
Arie Kruglanski stellt das Streben nach Bedeutung und Anerkennung ins Zentrum seiner 'Significance Quest'-Theorie – Anerkennung seitens eines charismatischen Anführers, einer radikalen Gruppe oder der Gesamtgesellschaft (auch als negative Anerkennung, z.B. in Form von Angst, wenn man der Gesellschaft feindlich gegenübersteht). Ausgelöst werden kann dieses übersteigerte Bedürfnis nach Selbstwert z.B. durch ein Gefühl der Erniedrigung.
Auch die 'Humiliation-Revenge'-Theorie sieht (gefühlte) Erniedrigung als Auslöser von Radikalisierung. Die Folge ist ein Rachedurst, der sich in Gewalt niederschlagen kann, besonders wenn das sozio-kulturelle Umfeld diese Reaktion begünstigt.
Meso-Ebene
Spätestens hier verlassen wir aber die Ebene, auf der es nur um das Individuum geht. Stattdessen steht jetzt die Beziehung des Individuums zu seinem Umfeld im Fokus. Tatsächlich lassen sich diese Ebenen kaum trennen – schon grundlegendste Identitätsfaktoren wie Zugehörigkeit (siehe oben) stellen das Individuum in einen sozialen Kontext. Die bestimmende Einheit auf der Meso-Ebene ist die Gruppe; hier schauen wir aber primär darauf, wie Gruppenzugehörigkeit auf ein Individuum wirken kann.
Gruppenzugehörigkeit wirkt sich sehr auf das individuelle Selbstwertgefühl aus – je besser die eigene Gruppe, desto selbstwertdienlicher ist sie. Deswegen haben Menschen die Tendenz, andere Gruppen (die 'Out-Group') ab- und die eigene Gruppe (die 'In-Group') aufzuwerten.
Ins Extrem gesteigert kann dieser Effekt dazu führen, dass Out-Groups ihre Menschlichkeit abgesprochen wird ('Entmenschlichung') – Menschengruppen mit Tierarten zu vergleichen ist ein deutliches rhetorisches Warnzeichen dafür.
Wonach entscheidet sich, ob dieser Effekt zu einer gefährlichen Entmenschlichung führt oder eine Verzerrung bleibt? Weiter oben war bereits von den Vorteilen einer breit aufgestellten Identität die Rede, die mehrere Rollen umfasst. Diese Rollen beinhalten oft auch eine Gruppenzugehörigkeit, z.B. Kollegenkreis, Familie, Ortspartei oder Sportmannschaft. Wenn man es gewohnt ist, erfolgreich zwischen verschiedenen Gruppen mit verschiedenen Normen und Erwartungshaltungen zu manövrieren, ist es weniger wahrscheinlich, dass eine dieser Gruppenzugehörigkeiten ins Extrem übersteigert wird. Die Forschung hat außerdem wieder und wieder gezeigt, dass der tatsächliche Kontakt mit der Out-Group dazu führt, Vorurteile abzubauen.
Da Gruppenzugehörigkeit derartig wichtig ist, ist man tendenziell sehr geneigt, sich der Gruppe anzupassen, um den eigenen Platz darin zu sichern. Widersprüche zu der vermeintlichen Mehrheitsmeinung werden oft zurückgehalten, sodass sich in isolierten Gruppen mit der Zeit eine Meinung durchsetzt, an der keine Kritik mehr geäußert wird. Extreme Meinungen setzen sich dabei einfacher durch als differenzierte Positionen, da sie vermeintlich klarer und entschlossener vorgetragen werden ('Gruppenpolarisierung').
Es ist nicht selten, dass der Einstieg in solche Gruppen weniger aus politischem Interesse und mehr auf Basis von bereits existierenden Beziehungen erfolgt. Oft stellen z.B. Freunde oder Verwandte den ersten Kontakt zu Szene her.
Makro-Ebene
Wenn nicht schon Freundschafts- oder Verwandtschaftsbeziehungen bestehen, kann Ideologie eine wichtige Rolle bei der Gruppenbildung zufallen, indem sie als verbindendes Element zwischen den Gruppenangehörigen wirkt – "[Ideologie ist] ein soziales Band und kein Stapel Bücher", wie Alessandro Orsini treffend schreibt.
Darüber hinaus können Ideologien aber noch andere psychologische Wirkungen entfalten. Weiter oben haben wir Identität als die Antworten auf vier Fragen verstanden. Ideologien bieten aus einer Hand vermeintlich konsistente Antworten auf alle diese Fragen: Sie erklären die Welt und unseren Platz darin, sie definieren, wie eben gesagt, eine In- und Out-Group, sie geben uns Handlungsanweisungen mit auf den Weg und vermitteln ein Wertesystem (in dem die Anhänger in aller Regel gut dastehen). Ideologien sorgen so für ein hohes Maß an Gewissheit, was sich positiv auf das Wohlergehen auswirkt.
Schlussendlich kann es eine große Rolle spielen, wie eine Gesellschaft oder ein bestimmtes Milieu politische Gewalt diskutiert und erinnert (für diesen Diskussionsrahmen hat sich in der Sozialwissenschaft das Wort 'Framing' ['einrahmen'] etabliert). Wenn, wie z.B. in Nordirland während der 'Trouble', Terroristen in Liedern, Wandmalereien und Videos als Kämpfer für die gute Sache gefeiert werden, werden sie zu Vorbildern für Andere – der Gewaltkonflikt wird quasi durch die sozialen Umstände erlernt ('Social Learning').
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