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Die ursprüngliche Version dieses Textes wurde am 26.11.2020 veröffentlicht und am 20.08.2024 aktualisiert.
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Wenn von Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft die Rede ist, sind oft junge Menschen mit arabischem Migrationshintergrund gemeint. Dabei gerät durch eine solche Verengung die gesamtgesellschaftliche Dimension aus dem Blick. Entscheidend ist: Antisemitismus muss entgegengetreten werden, egal von wem er mit welcher Motivation ausgeht.
Die ursprüngliche Version dieses Textes wurde am 26.11.2020 veröffentlicht und am 20.08.2024 aktualisiert.
Parallel zu diesem veränderten Selbstverständnis lässt sich seit Anfang des Jahrtausends ein zweiter Themenstrang beobachten: In Debatten um einen sogenannten „Neuen Antisemitismus“ wurde die Frage aufgeworfen, ob sich Judenfeindschaft in Deutschland zunehmend oder sogar vor allem bei Menschen mit Migrationshintergrund zeigen würde.
Inmitten dieser Entwicklungen fand sich in medialen und öffentlichen Debatten wiederholt die Behauptung, dass es sich dabei primär um eine Form des „importierten Antisemitismus“ handeln würde, dieser also aus dem Ausland oder von Ausländer:innen nach Deutschland gebracht worden sei. Doch empirisch lässt sich diese Vorstellung in dieser Eindeutigkeit nicht halten, es zeichnet sich vielmehr ein differenzierteres Bild. Das zeigen sowohl die Einstellungsforschung als auch Statistiken von Polizei und Meldestellen, ebenso wie Befragungen jüdischer Betroffener – alles mögliche Indikatoren zur Messung des Ausmaßes von Antisemitismus in einer Gesellschaft.
In repräsentativen Meinungsumfragen der letzten Jahre stimmten etwa 6 bis 7 Prozent der gesamtdeutschen Bevölkerung klassisch antisemitischen Aussagen eindeutig zu, weitere 15 bis 20 Prozent befürworteten sie teils/teils.
2023 wurden 5.164 antisemitische Straftaten (davon 148 Gewalttaten) registriert, ein massiver Anstieg gegenüber dem Vorjahr (2.641 Straftaten), der vor allem auf die Zeit nach dem 7. Oktober zurückzuführen ist.
Diese Eindrücke verdeutlichen: Antisemitismus ist in unterschiedlichen Milieus weit verbreitet, auch unter Muslim:innen, und er hat alltägliche Auswirkungen auf Juden und Jüdinnen. Ein alleiniger Fokus auf „importierten Antisemitismus“ läuft Gefahr, Antisemitismus als milieuübergreifendes Problem zu externalisieren und dabei die mit der Geschichte Deutschlands zusammenhängende Judenfeindschaft als der Vergangenheit angehörig zu sehen: Würden „die“ nicht kommen, hätten „wir“ kein Problem. Letztlich kann es hier aber kein Entweder – Oder geben: Denn selbstverständlich sind antisemitische Einstellungen auch unter Menschen mit Migrationsgeschichte verbreitet. Wie sollte es auch anders sein bei einer Ideologie mit einer langen Geschichte, einer weltweiten Verbreitung und einer – aufgrund ihres welterklärenden Anspruches – hohen Attraktivität. Es ist also notwendig, dies auch zu thematisieren. Doch wer ist überhaupt gemeint, wenn es um den „migrantischen“ Antisemitismus geht?
Während etwa ein Drittel der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland
Überdies zeigen sich in den öffentlichen wie akademischen Debatten große Klassifikationsschwierigkeiten, häufig werden Termini wie „Migranten“, „Ausländer“, „Araber“, „Muslime“ durcheinandergeworfen. Doch über welche Menschen und welches Phänomen sprechen wir eigentlich? Wenn jemand aus einem mehrheitlich muslimischen Land geflohen ist, bedeutet das nicht automatisch, dass diese Person auch Muslim:in ist. Wenn über den Islamismus im Zusammenhang mit Antisemitismus gesprochen wird, geht es auch um Konvertit:innen, oder nur um Eingewanderte? Liegt der Blick auf neu Eingewanderte oder blicken wir auf die Nachkommen, und wenn ja: bis zu welcher Generation? Und wenn man bedenkt, dass Muslim:innen aus Indonesien, Indien oder Nigeria in den aktuellen Debatten selten problematisiert werden, es also um ein arabisches Phänomen geht, stellen sich klassifikatorische Folgefragen: Was ist mit den nicht-arabischen Minderheiten in arabischen Ländern? Derlei Fragen müssen bedacht werden beim Thematisieren von Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft.
Die Empirie weist inmitten dieser Fragen weiterhin Forschungslücken auf. Zum Verständnis der Einstellungen, die migrierende Menschen – etwa Geflüchtete – in ihrem „ideologischen Gepäck“ mitbringen, lohnt zunächst ein Blick in die Herkunftsländer. Für die Region Mittlerer Osten und Nord-Afrika (MENA) gibt es nur wenige Studien, doch hielten in einer 2014 weltweit durchgeführten Umfrage der Anti-Defamation League drei Viertel der Befragten mindestens sechs von elf abgefragten negativen Stereotypen über Juden:Jüdinnen für „wahrscheinlich wahr“ – im Vergleich zu einem weltweiten Durchschnitt von 26 Prozent. So gaben dort etwa 75 Prozent an, dass sie „Juden hassen, aufgrund der Art wie Juden sich eben benehmen“. Und während weltweit 35 Prozent der Befragten sagen, dass Israels Handlungen einen Einfluss auf ihre Meinung über Juden:Jüdinnen hätten, sind es in der MENA-Region fast zwei Drittel.
Welche dieser Einstellungen dann tatsächlich auch im „Gepäck“ der Neuankommenden verbleiben, ist eine andere Frage. Qualitative Studien zu den Einstellungen Geflüchteter hatten vor einigen Jahren etwa gezeigt, dass antisemitische Einstellungen unter Menschen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan verbreitet waren. Viele Befragte dachten, dass Juden:Jüdinnen reich und mächtig seien, vertraten eine unbedingte Ablehnung Israels oder relativierten das Ausmaß des Holocaust. Gleichzeitig wollten viele mehr über die Geschichte des Holocaust oder Israels wissen, einige berichteten von Veränderungen ihrer Sichtweisen durch die Flucht, und für manche waren diese Themen schlichtweg egal, Juden:Jüdinnen eben „ganz normale Leute“.
Kenntnisse über die Herkunftsländer können Hinweise zum Verständnis von Neueingewanderten geben. Tatsächlich sind bei Migrant:innen ohne deutsche Staatsbürgerschaft die Zustimmungswerte zum „klassischen“ Antisemitismus höher. Beim sekundären Antisemitismus hingegen sind sie bei jenen ohne deutsche Staatsangehörigkeit oft niedriger.
Mehrere Studien aus den letzten Jahren zeigen auch bei der muslimischen Bevölkerung – von der nicht alle einen Migrationshintergrund haben – höhere Zustimmungswerte zum klassischen
Der letzte Aspekt verweist auf ein weiteres zentrales Merkmal einer Migrationsgesellschaft: nicht nur Antisemitismus, auch Rassismus – etwa Ablehnung gegen (vermeintliche) Migrant:innen und Muslim:innen – gehört in ihr zum Alltag. 38 Prozent der Bevölkerung stimmte 2022 etwa der Aussage zu: „Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land“.
Wie auch immer die jeweiligen Hintergrundbedingungen aussehen mögen, klar ist: Antisemitismus muss entgegengetreten werden, egal von wem er mit welcher Motivation ausgeht. Dies nicht zu tun, weil jemand einer Minderheit angehört, wäre paternalistisch. Unterschiedliche Motivationslagen erfordern jedoch teilweise unterschiedliche Vorgehen in Bildungsarbeit und Politik. Dem Schuldabwehrantisemitismus eines deutschen Neonazis muss möglicherweise mit anderen Argumentationsformen begegnet werden als dem antizionistischen Antisemitismus eines gerade eingewanderten Syrers. Eine 80jährige herkunftsdeutsche Christin bezieht ihre Judenfeindschaft aus anderen Quellen als ein konvertierter Islamist. Aber eine vorschnelle Kategorisierung von Menschen ist dafür wenig hilfreich. Gemein ist allen Ausdrucksformen überdies, dass sie in der deutschen Gesellschaft stattfinden. Diejenigen, von denen medial oft die Rede ist – junge Menschen mit arabischem Migrationshintergrund – sind zumeist deutsche Staatsbürger:innen, die hier in der Regel geboren oder aufgewachsen sind. Zwar können sie auch geprägt sein von Einflüssen aus ihren Familien, sozialen Medien oder dem Satellitenfernsehen, doch fand ihre Schul- und Ausbildung in deutschen Institutionen statt. Gerade nach dem 7. Oktober zeigte sich, dass auch an deutschen Schulen oft nicht genug Kenntnisse über den Nahostkonflikt existieren, ebenso wie es mangelnde Sensibilität für aktuellen Antisemitismus und fehlendes Wissen über den vergangenen gibt: Mehr als die Hälfte der 14- bis 16-jährigen Schüler:innen in Deutschland wusste vor einigen Jahren nicht, was „Auschwitz-Birkenau“ ist, in der MEMO-Jugendstudie 2023 konnte die Hälfte der 16-25-jährigen den Zeitraum der NS-Herrschaft nicht korrekt benennen.
Ein „postmigrantisches“ Selbstverständnis hieße, alle Ausdrucksformen von Antisemitismus in Deutschland als „unsere“ zu begreifen. Die zielführendere Frage wäre dann nicht „Wer?“, sondern „Was?“: Es ginge weniger um Herkunft und mehr um Haltungen – also um die konkreten Positionen einer Person und die Frage, wie diesen begegnet werden kann. Die Heterogenität von Menschen und ihre (Migrations-)Erfahrungen mitzudenken bzw. anzuerkennen, kann dabei zur Diversifizierung der Strategien gegen Antisemitismus beitragen.
Dr. Sina Arnold ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin und Projektleiterin am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Sie forscht zu Antisemitismus in Deutschland und den USA, Rechtsextremismus und institutionellem Rassismus.
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