Antisemitische Propaganda in den frühen Tagen des Internets
Schon in den Anfangstagen der weltweiten Vernetzung über das Internet eignete sich die extreme Rechte die neuen technologischen Möglichkeiten für ihre Zwecke an und tauschte Propagandastrategien ab den 1990er Jahren bereits international aus. Viele dieser Strategien werden heute noch angewendet. Dabei gehörten antisemitische Inhalte stets zu den wichtigsten Bestandteilen der digitalen Agitation.
Im Jahr 1995 veröffentlichte der
Mehrere Rechtsextremisten, wie beispielsweise
Internetplattformen als Orte der Agitation
Nahezu jede neue Plattform wurde in den vergangenen 30 Jahren auch von rechten Antisemiten genutzt. Nicht selten kam es dabei auch immer wieder zu Abwanderungsbewegungen, etwa weil die Plattformanbieter strengere Moderationsregeln einführten, um menschenfeindliche Inhalte einzuschränken oder zu entfernen. Dennoch werden Plattformen des gesellschaftlichen Mainstreams immer wieder genutzt, um in der Mitte der Gesellschaft Anknüpfungspunkte für die Verbreitung antisemitischer Inhalte zu finden. Das gilt heute für Plattformen wie Facebook oder YouTube und galt ebenso für die früher populären Plattformen StudiVZ
Hinzu kamen und kommen auch online zur Verfügung gestellte Spiele mit antisemitischen Inhalten. So wurde um die Jahrtausendwende ein antisemitisches Remake des bekannten Spiels Moorhuhnjagd verbreitet, bei dem Nutzer Jagd auf Juden machten. Und in heute beliebten Online-Games wie Minecraft
Ganz offen wiederum werden antisemitische Inhalte auf den inzwischen zahlreich vorhandenen sogenannten Alt-Tech-Plattformen verbreitet. Dazu gehören zum einen Plattformen und Apps, die Rechtsradikale sich angeeignet haben, wie das russische Netzwerk vk.com (VKontaktje) und der Messenger Telegram. Zum anderen gibt es eine Reihe von Plattformen, die von Rechtsextremen beziehungsweise Vertretern einer absoluten Meinungsfreiheit aufgebaut wurden. Alt-Tech-Plattformen genießen in der Regel den Ruf, wenig moderiert zu werden. Aber auch diese jüngsten Abwanderungsbewegungen auf alternative Plattformen aufgrund von Repressionen sind nichts Neues. Bereits Milton Kleim begann seine strategischen Überlegungen zum Usenet damit, dass dieses ein Forum biete, das noch relativ “unzensiert” sei. Das Netz bezeichnete er als Waffe.
Festzustellen ist, dass sowohl Behörden als auch Internetdienstleister immer wieder neue Wege finden müssen und mussten, um sich auf neue technische Mittel und Strategien zur Verbreitung antisemitischer Inhalte einzustellen. Oftmals muss überhaupt erst ein Problembewusstsein entwickelt werden, weil mögliche missbräuchliche Verwendungen von Online-Dienstleistungen und Plattformen weder von den Erfindern und Betreibern noch von Sicherheitsbehörden antizipiert wurden.
Und schließlich machen sich rechte Antisemiten immer wieder technische Besonderheiten zunutze, die bei der Entwicklung digitaler Tools nicht mitgedacht wurden. Während Händler die Techniken der Suchmaschinenoptimierung (SEO) nutzen, um ihre Produkte an potenzielle Kunden zu bringen, haben sich einige Vertreter des rechtsradikalen Spektrums die Möglichkeiten des Onlinemarketings ebenso angeeignet. Beispielsweise verwenden einschlägige Publikationen im Netz Formulierungen, die in der Regel selten oder nie von Medien oder anderen Websites genutzt werden. Sucht man dann nach diesen Begriffen oder Phrasen auf Google und Co., findet man wegen mangelnder alternativer Angebote fast ausschließlich judenfeindliche oder andere menschenfeindliche Propaganda. Michael Golebiewski und danah boyd nennen dieses Phänomen “Data Voids”
Mechanismen der Radikalisierung
Akteure der extremen Rechten haben unterschiedliche Methoden entwickelt, um antisemitische Inhalte nicht nur in der eigenen Gruppe zu verbreiten, sondern auch an potentielle neuen Anhängern zu bringen. Zu den wichtigsten Mitteln der Verbreitung antisemitischer Propaganda gehören noch immer
Vor allem jüngere Sympathisanten sollen nach dem Willen einiger extrem rechter Akteure über eine ständige Ironisierung indoktriniert werden. In einem vor wenigen Jahren veröffentlichten Strategiepapier Andrew Anglins, Betreiber der neonazistischen Website Daily Stormer, wird beispielsweise empfohlen, menschenfeindliche Artikel so zu formulieren, dass Leser auf den ersten Blick nicht unterscheiden können, ob es sich um grenzüberschreitenden Humor oder tatsächlichen Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Rassismus oder Misogynie handelt. Diese Strategie kann man letztlich auch als Ironievergiftung bezeichnen. Sie findet sich nicht nur beim Daily Stormer, sondern beispielsweise auch auf Imageboards wie 4chan oder dem deutschen Pendant Kohlchan, wo Inhalte gesperrter Benutzer durch den rot geschriebenen Satz “PFOSTIERER WURDE INS GAS HINEINGETAN.” gekennzeichnet werden. Auch auf Telegram sind inzwischen unzählige Kanäle und Gruppen ins Leben gerufen worden, in denen antisemitische, rassistische und islamfeindliche Memes mehr Regel als Ausnahme sind. Die Ironisierung dient keinesfalls als humoristisches Element, sondern bietet unter anderem die Möglichkeit, sich im Falle einer Konfrontation mit politischen Feinden oder Strafverfolgungsbehörden auf die Behauptung zurückzuziehen, man habe das alles gar nicht ernst gemeint.
Antisemitismus in rechtsterroristischen Anschlägen der späten 2010er Jahre
In den 2010er Jahren wurde eine Reihe von
Bei den in den vergangenen Jahren mittlerweile zahlreichen Anschläge auf Jüdinnen und Juden wurden meist Synagogen angegriffen – und die Taten im Vorfeld oftmals im Internet angekündigt. Einen Anschlag auf eine Synagoge in Pittsburgh, Pennsylvania im Oktober 2018 kündigte der Täter zuvor auf Gab.ai an. Dieses soziale Netzwerk ähnelt in seinen Funktionen Twitter, aber auch anderen vergleichbaren Plattformen. Dort hatte er unter anderem antisemitische Inhalte veröffentlicht
Am 9. Oktober 2019 Externer Link: versuchte Stephan B. einen Anschlag auf die jüdische Gemeinde in Halle zu verüben und attackierte einen Dönerimbiss. An der Tür der Synagoge scheiterte er zwar, in der Folge aber erschoss er zwei Menschen. Als Zeitpunkt für seinen Anschlag wählte er den höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, wohl auch, weil er erwartete, an diesem Tag möglichst viele Menschen ermorden zu können. In zuvor veröffentlichten Schriften, die er auf dem Imageboard Meguca postete, schrieb er unter anderem, er wolle so viele Juden wie möglich töten. Seine Tat übertrug er live auf der Streaming-Plattform Twitch. Schon gleich zu Beginn der Aufnahme leugnete er den Holocaust.
Offenbar hatte B. sich vor allem über das Internet radikalisiert, sich auf einschlägigen Plattformen auch mit Gleichgesinnten ausgetauscht. Er glaubte beispielsweise, dass der US-Milliardär und Philantrop George Soros
Terroraffine Milieus in den Nischen des Internets
Viele Rechtsterroristen beschäftigen sich im Vorfeld ihrer Taten mit schon verübten oder gescheiterten Anschlägen ihrer Gesinnungsgenossen. In den 2010er Jahren haben sich allerdings über das Internet, beispielsweise auf Imageboards und später auch auf Telegram, einige größere Gemeinschaften zusammengefunden, die die Terroristen anfeuern, unterstützen und zelebrieren – oder aber verlachen, wenn sie vermeintlich gescheitert sind. In diesem Milieu fordern sich Gleichgesinnte mitunter gegenseitig auf, es ihren Vorbildern gleichzutun. Es verwundert daher nicht, dass im Jahr 2019 gleich mehrere Terroristen ihre Tatankündigungen und Schriften in Unterforen der Imageboards 8chan, Endchan und Meguca veröffentlichten.
Terroraffine Milieus erfüllen verschiedene Funktionen nach innen und außen. Als Gemeinschaft stärken sie ihren Hass untereinander und befördern Drohungen und Gewalt. Sie fungieren aber auch als Verbreiter von terroristischer Propaganda, indem sie etwa die Schriften, Bilder und Videos der Täter verbreiten. Sie werden auch selbst tätig, basteln Videos, Playlists oder Bildmontagen, in denen die Täter verehrt oder zu “Heiligen” erklärt werden. Außerdem haben sie es in der Vergangenheit immer wieder geschafft, Uploadbeschränkungen der Plattformen zu umgehen, die verhindern sollen, dass ein Video eines Terroranschlags erneut hochgeladen wird. Vom Video des Terroristen von Christchurch gab es deshalb über 800 verschiedene Versionen. Das Video des Anschlags von Halle wurde in 200 verschiedenen Versionen auf Facebook, YouTube und Co. hochgeladen.
Immer wieder folgen auch Jahre nach Anschlägen noch Aktionen aus diesem Umfeld, die mit den Taten verknüpft sind. Ende des Jahres 2019 verbreiteten Nutzer verschiedener Social-Media-Plattformen Fotos, auf denen einige Personen blau eingefärbt waren. Die Aktion ging zurück auf 4chan und sollte dazu dienen, vermeintlich übermäßigen jüdischen Einfluss auf Politik und Medien zu kennzeichnen. Als Ideengeber diente ihnen der Terrorist, der im Jahr 2015 neun schwarze Kirchenbesucher im US-Bundesstaat South Carolina ermordete. In dem Pamphlet, das er vor seiner Tat veröffentlichte, schrieb er, es gäbe ein “Massenerwachen”, wenn man alle Juden für 24 Stunden blau einfärben würde. 4chan-Nutzer legten eigens für die Aktion einen Telegram-Kanal an, über den sie entsprechend vorbereitete Fotos zur Verfügung stellten. So verbreiten sich rechtsextremistische und antisemitische Ideologien schon vergangener Terrorakte gerade im Internet immer wieder aufs Neue.
Da es sich bei dieser digitalen Subkultur des antisemitischen Hasses mehr um eine Community denn einen konkreten Ort handelt – ganz zu schweigen von organisierten Strukturen oder eindeutig erkennbaren ideologisch geschlossenen Weltbildern –, waren Repressionsmaßnahmen und Sperrungen bislang nur begrenzt erfolgreich. Auch sind die Grenzen zwischen Zuschauern, geistigen Anstiftern und solchen, die sich innerhalb eines solchen Umfeldes radikalisieren oder zu ihren Taten erst angespornt fühlen, immer schwerer zu bestimmen.