Antisemitismus von links bzw. im Spektrum der politischen Linken erscheint vielen wie ein Widerspruch in sich: Wie kann in einer politischen Richtung, die bei aller Heterogenität dem Selbstanspruch nach Emanzipation und Freiheit zum Ziel hat, das Ressentiment gegen Jüdinnen und Juden gedeihen? Zudem sind es insbesondere linke Denker:innen gewesen, die das geeignete begriffliche Instrumentarium entwickelt haben, Antisemitismus in seiner gesellschafts- wie subjekttheoretischen Dimension zu verstehen und dadurch bekämpfbar zu machen. Antisemitismus ist wesentlich mehr als ein Vorurteil, ein falsches Bild, dass man sich im Laufe des Lebens über Jüdinnen und Juden angeeignet hat. Es handelt sich um eine Denkform, eine emotional motivierte Weise, auf die Welt und auch auf sich selbst zu blicken. Der Politikwissenschaftler
Kritiker:innen linken Antisemitismus‘ wird häufig vorgeworfen, damit die radikale Linke schwächen zu wollen, womöglich selbst Teil einer geheimen Agenda zu sein – jedenfalls die eigenen Motive nicht offenzulegen. Dabei ist die Thematisierung von Antisemitismus unerlässlich, um überhaupt linke, dem Selbstverständnis nach emanzipative Politik betreiben zu können. Denn Antisemitismus verstellt den Blick auf Gesellschaft und verunmöglicht damit ihre Kritik: Kapitalismus wird nicht bekämpft, indem man einigen "Bänkern, Bonzen und Banditen" die Schuld in die Schuhe schiebt, und der Kampf für Menschenrechte wird unglaubwürdig, wenn man diese Jüdinnen und Juden vorenthalten will. Es ist keine Schwäche der politischen Linken, sondern kann eine genuine Stärke sein, sich selbst zu hinterfragen und immer wieder darüber nachzudenken, wo man hinter die eigenen Ansprüche zurückfällt. Der Streit um die richtige Politik, das Aushandeln von Widersprüchen ist ein wesentlicher Teil linker Geschichte und so baut auch die nachfolgende Diskussion maßgeblich auf linken Selbstkritiken auf. Antisemitismus – auch wenn sie kein integraler Bestandteil linker Weltbilder ist – begleitet linkspolitische Bewegungen ständig, mal in Form lauter Einzelstimmen, mal als Rauschen im Hintergrund und manchmal im Zentrum der Agitation. Im Weiteren sollen drei Felder besprochen werden, in denen sich Antisemitismus im linken Spektrum immer wieder durchschlägt: Kapitalismuskritik, Antiimperialismus und Vergangenheitspolitik.
Kapitalismuskritik
Der Begriff Externer Link: Kapitalismus beschreibt einen abstrakten Funktionszusammenhang, welcher verschiedene Phänomene miteinander in Beziehung setzt. Kapitalismus lässt sich nicht anfassen, nirgendwo sitzt ein zentrales Bewusstsein, das den Kapitalismus steuern würde, immer ist es eine Vielzahl von Akteuren und Märkten, die sich gegenseitig beeinflussen und damit ein Marktgeschehen erzeugen. Dabei sind alle Menschen mit den konkreten Erscheinungsformen des Kapitalismus ohne Unterlass, oft auf schmerzhafte Weise konfrontiert. Die Wirkungszusammenhänge und ihre Auswirkungen sind mitunter schwer durchschaubar: Die kapitalistische Gesellschaft ist zwar menschengemacht, aber im Bewusstsein vieler Menschen erscheint sie kaum veränderbar, wie eine Naturgewalt, der man mehr oder minder schutzlos ausgeliefert ist. Wahlweise wird dem Sozialphilosophen Slavoj Žižek und/oder dem Literaturwissenschaftler Fredric Jameson der Satz zugeschrieben: "Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus." Die kapitalistische Gesellschaft ist zu einer Art zweiten Natur geworden, und eben wegen dieser Allgegenwart kaum zu durchschauen. Das Leid, das der Kapitalismus hervorbringt, drängt zur und entzieht sich oftmals einer schlüssigen Erklärung: Warum steigen die Produktivkräfte ständig an, während gleichzeitig die Zahl der Hungernden weltweit in den letzten Jahren angestiegen ist und 2018 rund 820 Millionen Menschen nicht genug zu essen hatten? Warum scheint es nicht möglich die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen? Versierte Kapitalismusanalysen und -kritiken sind aufgrund ihrer hohen Komplexität schwierig allgemeinverständlich zu vermitteln, weshalb häufig auf so einfache wie falsche Erklärungsmuster zurückgegriffen wird. Ein solches Muster ist die personalisierende Kapitalismuskritik, welche ein Bewusstsein des Kapitalismus unterstellt und dieses mit Jüdinnen und Juden identifiziert. Ein beliebtes Bild ihrer Darstellung ist die Krake, die mit ihren vielen Armen die Geschicke der Welt lenkt und auch immer wieder bei linken Demonstrationen zu sehen ist, wie etwa bei den
Historisch vorbereitet durch ihren teilweisen Einschluss in die Zirkulationssphäre wird ihnen nachgesagt, das Finanzwesen zu beherrschen und dadurch die Welt zum Schaden der "einfachen Arbeiter" zu orchestrieren.
Dieses Ressentiment tritt nach 1945 – wie Antisemitismus überhaupt – zumindest in den sogenannten westlichen Ländern kaum noch offen zutage, sondern zumeist kodiert oder strukturell. Kodiert, weil anstatt von den "geldgierigen Juden" dann etwa vom Ostküstenkapital, der Zinsgeldknechtschaft, den Rothschilds, den blutsaugenden Bänkern oder ähnlichem die Rede ist. Strukturell, weil sich die Argumentationsformen kaum verändert haben, sondern lediglich Chiffren eingesetzt wurden für diejenigen, die eigentlich damit gemeint sind beziehungsweise gegen die sich in gesellschaftlichen und ökonomischen Krisen zielsicher der Zorn entlädt. Beispielsweise waren die Occupy-Proteste von 2011 immer wieder von antisemitischen Schuldzuweisungen begleitet, entweder in mehr oder minder explizit antisemitischen Transparenten und Sprechchören oder aber strukturell in der Rede von den 99 Prozent der Bevölkerung die dem
reichsten 1 Prozent gegenüberstünden. Der eigene Anteil, den die imaginierte Gemeinschaft der Nicht-Besitzenden an der Reproduktion des Kapitalismus hat, kann damit nicht reflektiert werden. Nicht der Kapitalismus wird hier kritisiert, sondern die Kapitalisten – was schließlich anschlussfähig an antisemitische Personalisierungen ist. Die Aufspaltung des Kapitalismus folgt meist dem Schema, auf der eigenen Seite der Dichotomie das Erdverbundene, Konkrete, Natürliche und Handfeste zu verorten. Auf der anderen Seite steht das Wurzellose, Abstrakte, Künstliche und Ungreifbare, das den Jüdinnen und Juden zugeschrieben wird. In ihren vermeintlichen Eigenschaften spiegeln sich die Eigenschaften des Kapitals.
Antiimperialismus
Eine ähnliches Muster der Komplexitätsreduktion findet sich in der Deutung internationaler Konflikte, die innerhalb des politischen linken Spektrums häufig innerhalb eines antiimperialistischen Interpretationsrasters stattfindet.
Insbesondere im Verhältnis zu Israel brechen sich in Teilen der politischen Linken immer wieder antisemitische Ressentiments Bahn. Gab es vor 1967 noch einige Sympathien mit dem Staat der Shoah-Überlebenden, der zudem in den Kibbuzim sozialistische Formen des Zusammenlebens erprobten, änderte sich das mit dem
Besonders beliebt ist BDS in akademischen Kreisen der Geistes- und Humanwissenschaften. Viele einflussreiche Theoretiker:innen insbesondere der postkolonialen und quer-feministischen Wissenschaften unterstützen BDS: So sensibel hier auch gegen die unterschiedlichen Formen von Diskriminierungen und deren Überschneidungen gearbeitet wird, Antisemitismus scheint
(© picture-alliance/AP)
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dabei selten berücksichtigt zu werden. Die Problemkonstellation von Antisemitismus in queerfeministischen und postkolonialen Szenen wird besonders augenfällig in den Bündnispolitiken: So war etwa die palästinensische Terroristin Rasmeah Odeh, die 1969 mit einem Sprengstoffanschlag zwei junge Israelis tötete und neun weitere verletzte, Mitorganisatorin des US-weiten Streiks zum Weltfrauenkampftag 2017. Auch beim women‘s march on Washington war mit Linda Sarsour eine Organisatorin beteiligt, die – wenn sie schon niemanden selbst umgebracht hat – zumindest Sympathien für Muhammad Allan, einem Mitglied des Islamic
Vergangenheitspolitik
Das dritte Feld – die Externer Link: Erinnerungspolitik – scheint vielleicht zunächst wenig naheliegend für die Diskussion über Antisemitismus innerhalb der politischen Linken: Ist es doch in vielerlei Hinsicht maßgeblich der Kritik der Linken zu verdanken, dass der Mantel des Schweigens über die Shoah in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit zumindest teilweise gelüftet und der breite Konsens, von alldem nichts gewusst zu haben, Risse bekam. Empirisch lässt sich eine gesamtgesellschaftliche Konfrontation der 68er mit der Elterngeneration allerdings kaum belegen: Auch hier herrschte oftmals Schweigen, die Dethematisierung, in den Familien vor. Der Historiker Götz Aly geht in seiner einflussreichen Schrift mit dem unglücklich gewählten polemischen Titel Unser Kampf sogar davon aus, dass eine größere Auseinandersetzung mit dem Externer Link: Nationalsozialismus eigentlich Anfang bis Mitte der 1960er Jahre einsetzte, etwa durch den
Hinzu kommt, was
Antisemitismus als Bindeglied ins rechtsextreme Milieu
Antisemitismus bringt unterschiedliche politische Lager zusammen: Als 2014 der Konflikt zwischen Israel und der islamistischen Hamas sich zuspitzte waren auf deutschen Straßen "propalästinensische" Demonstrationen zu sehen, bei denen Neonazis, Islamisten und gelegentlich auch linke Gruppen mitliefen – auf den Hass gegen Israel konnte man sich offenbar einigen. Auch in den "Montagsmahnwachen für den Frieden", die im selben Jahr in bis zu 80 Städten gleichzeitig stattfanden, fungierte das antisemitische Ressentiment als Brücke. Als offene Foren boten sie allerlei antisemitischen Verschwörungstheorien eine Bühne, wonach eine geheime Clique die Welt regiere, und versuchten damit, die Grenzen zwischen linker und rechter Politik zu verwischen. Die Kritik von Antisemitismus im linken politischen Spektrum ist notwendig, um sich derlei Vereinnahmungstendenzen erwehren zu können. Wo man dieser Ideologie nachgibt, etwa indem man personalisierende Kapitalismuskritik mit einem Wohlfahrtschauvinismus vermengt und Solidarität wie bei Externer Link: Sarah Wagenknechts #aufstehen-Bewegung 2018 im nationalen Rahmen verbleiben soll, wird die Abgrenzung zur völkischen Rechten unglaubwürdig. Es scheint jedoch wenig zielführend, die Kritik an linkem Antisemitismus entlang des