Die Frage "Wann ist Kritik an der israelischen Regierung antisemitisch?" wird immer wieder emotional und polarisiert diskutiert. Dabei lassen sich häufig Extrempositionen ausmachen: Während die Einen in jeglichen Einwänden gegen Israels Politik antisemitische Vorurteile sehen, unterstellen die Anderen damit die Delegitimation von berechtigter Kritik an den dortigen politischen Verhältnissen. Dabei ignoriert man, dass Kritik an Israel sehr wohl häufig mit Antisemitismus einhergeht, ebenso wie, dass pauschale Antisemitismusvorwürfe unangemessen sein können. Insgesamt scheint es in dieser Debatte an der nötigen Klarheit darüber zu mangeln, was allgemein mit Antisemitismus eigentlich gemeint ist und inwieweit es einen solchen bezogen auf Israel gibt. Hier sollen einschlägige Definitionen dargestellt, Differenzierungen entwickelt und Kontroversen kommentiert werden. Die Ausführungen könnten Leitlinien zu einer Versachlichung der Debatte sein.
Antisemitismus als Feindschaft gegen Juden als Juden
Antisemitismus soll hier als Feindschaft gegen Juden als Juden verstanden werden. Demnach geht es um eine Ablehnung, Herabwürdigung oder Verfolgung, welche in dem angeblichen oder tatsächlichen Jüdischen des gemeinten Objektes den zentralen Vorwand sieht. Derartige Auffassungen können auf Einzelne oder Gruppen, aber eben auch auf den Staat Israel bezogen sein. Ideengeschichtlich betrachtet entstanden
Antizionismus als Einstellung mit Konsequenzen
Die neueren Formen von Antisemitismus, die auf Israel gemünzt sind, werden antizionistischer und/oder israelfeindlicher Antisemitismus genannt. Bezogen auf die beiden Adjektive bedarf es hier einer gesonderten Definition: Antizionismus steht für die Negierung des
Besonderheiten von Israelfeindlichkeit als Position
Auch bezogen auf die Bezeichnung "Israelfeindlichkeit" bedarf es einer Unterscheidung. Damit ist eine pauschale Diffamierung gemeint, welche nicht differenziert Bestandteile der israelischen Regierungspolitik kritisiert, sondern mit einem allgemeinen Negativ-Bild zur pauschalen Verdammung übergeht. So ist oft zu beobachten, dass antisemitische Stereotype auf Israel projiziert werden bzw. Israel zum "kollektiven Juden" stilisiert wird, oder dem Staat "jüdische Eigenschaften" negativ zugeschrieben werden. Eine derartige Grundeinstellung findet man auch bei den heutigen Antisemiten. Gleichwohl kann diese Auffassung auch andere Motive haben, wozu etwa ein stereotyper
Konturen eines israelfeindlichen Antisemitismus
Heute ist es für Antisemiten fast unmöglich, sich in direkter und offener Form straffrei judenfeindlich zu äußern (vgl. § 130 StGB). Judenfeindschaft lässt sich aber über Umwege gegen Israel fortführen, indem dieser Staat in der antisemitischen Vorstellungswelt als "Kollektivjude" gesehen wird. Dies kann man an der Kontinuität einschlägiger Stereotype veranschaulichen, in denen bekannte antisemitische Aussagen auf den jüdischen Staat übertragen werden. Der gegen Israel gerichtete "Kindermörder"-Vorwurf beispielsweise greift die antisemitischen "Ritualmord"-Unterstellungen wieder auf. Und Behauptungen über eine dominante "Israel-Lobby" in den USA wirken wie Neuauflagen traditioneller Propagandabehauptungen von einer "jüdischen Weltherrschaft". Ganz allgemein besteht die Besonderheit darin, dass das angebliche oder tatsächliche Jüdische an der Politik des Staates Israel die Ursache für die Verdammung ist.
Israelfeindlicher Antisemitismus anhand von konkreten Beispielen
Wie sich ein israelfeindlicher Antisemitismus artikuliert, machen konkrete Beispiele deutlich. Sie fanden sich in den vergangen Jahren etwa in Briefen und Mails, die an die israelische Botschaft und den Zentralrat der Juden in Deutschland gerichtet waren (Original-Schreibweise): "Hass sät Hass, das heutige Israel ist im Blutschlamm des Alten Testaments stecken geblieben." "ein total schlimmes volk ist das. israel ist der teufel." "Mit Abscheu und tiefer Verachtung verfolgen wir in den Medien das Massaker Israels in Gaza und im Libanon. … In der ganzen Welt haben die Juden an Achtung und Vertrauen verloren."
"Ihr israelsichen schlächter, seit 2000 Jahren bringt ihr nur gewalt und krieg in die welt." "Aber was macht der 'Jude' denn jetzt mit den Palästinensern? … hat der 'Jude' damals nichts gelernt?" Hier werden angebliche oder tatsächliche Handlungen der israelischen Politik auf die jüdische Religion zurückgeführt, Juden überall auf der Welt für Krieg und Verbrechen pauschal (mit)verantwortlich gemacht und als Grundübel der Welt dargestellt, ebenso wird die israelische Regierungspolitik mit den nationalsozialistischen Verbrechen gleichgesetzt.
Definition und Differenzierung in der IHRA-Version
Eine Externer Link: Antisemitismus-Definition mit entsprechender Differenzierung nahm die "International Holocaust Remembrance Alliance" (IHRA) vor und konnte dafür von vielen Staaten eine offizielle Zustimmung erhalten: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann." Es heißt darüber hinaus, dass diese Aversionen "sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden." Darüber hinausgehend wurde allerdings keine weitere Differenzierung vorgenommen, welche legitime von nicht-legitimer Kritik an Israel unterscheidet. Man beschränkte sich auf entsprechende Doppelstandards, d.h. dass in der Bewertung der israelischen Politik andere Bewertungsmaßstäbe angelegt werden als für Politiken anderer Länder; ferner wurden in der Auflistung von Beispielen in der IHRA-Definition das "Verwenden von Symbolen und Bildern" aus dem traditionellen Antisemitismus" wie "Vergleiche … mit der Politik der Nationalsozialisten" genannt.
Der "Drei D-Test" zur Erkennung von israelfeindlichem Antisemitismus
Ein bekannter Kriterienkatalog, womit antisemitische und legitime Formen der Kritik an der israelischen Regierungspolitik unterschieden werden können, ist der von Natan Sharansky entworfene "Drei D-Test". Die Bezeichnung stellt auf "Dämonisierung", "Delegitimation" und "Doppelstandards" ab. Ersteres meint ein Bild von Israel, das von einer Inkarnation des Bösen ausgeht und demgemäß die Schuld für den Nahost-Konflikt hauptsächlich dem jüdischen Staat zuschreibt. "Delegitimation" steht für die Infragestellung der Legitimation von Israel, womit direkt oder indirekt dessen Existenzrecht in Frage gestellt wird. Und "Doppelstandards" meint, dass an die Bewertung Israels andere Maßstäbe als bei der Einschätzung seiner Gegner oder anderer Staaten angelegt werden. Auf den ersten Blick scheint damit eine Differenzierung möglich. Gleichwohl lassen sich so zwar israelfeindliche Auffassungen erkennen, sie müssen indessen nicht notwendigerweise auf einer antisemitischen Position gründen.
Exkurs: Deutung von "Israelkritik“ als antisemitischem Terminus
Mitunter wird in der erwähnten Auseinandersetzung bereits die Bezeichnung "Israelkritik" als Indiz für eine antisemitische Position verstanden. Die damit einhergehende Argumentation verläuft mit folgenden Inhalten: Es sei zwar von "Israelkritik", aber nicht von "Italienkritik" oder "Neuseelandkritik" die Rede. Eine solche Bezeichnung gebe es exklusiv nur für Israel. Diese auffällige Einseitigkeit erkläre sich durch antisemitische Neigungen. Eine solche Argumentation kann berechtigt darauf verweisen, dass ansonsten meist von einer Kritik an der italienischen oder neuseelischen Regierung gesprochen wird. Bezeichnungen wie "DDR-Kritik" oder "USA-Kritik" kursieren zwar, haben aber nicht wie "Israelkritik" einen derart hohen Verbreitungsgrad erreicht. Gleichwohl könnte die Bezeichnung auch nur bezogen auf einen breiten innerisraelischen Konsens wie etwa zugunsten der Siedlungspolitik gemeint sein. Hier bedarf es letztlich des differenzierten Blickes auf die eigentliche Motivlage der sich israelkritisch äußernden Sprecher/-innen.
Israelfeindlicher Antisemitismus in der empirischen Sozialforschung
Beachtenswert für die Erfassung des Potentials, das einem israelfeindlichen Antisemitismus zugeordnet werden kann, sind die dazu genutzten Einstellungsstatements der empirischen Sozialforschung. Das Bielefelder Institut für Konflikt- und Gewaltforschung nutzte 2018/2019 etwa folgende Items in einer Untersuchung in Deutschland: Das erste Einstellungsstatement lautete "Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat" (Gesamtzustimmung: 26,6 Prozent), das zweite Einstellungsstatement lautete: "Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben" (Gesamtzustimmung: 39,4 Prozent). Während die erste Aussage einer antisemitischen Konsequenz folgt, weil Juden und Israel gleichgesetzt werden, kann die zweite Aussage auch auf schiefen oder gar falschen Geschichtsbildern gründen, welche aber Antisemitismus nicht notwendigerweise einschließt.
Differenzierung von Formen der Israelkritik in einer empirischen Studie
Eine frühere Befragung des Psychologen Wilhelm Kempf von der Universität Konstanz stellte demgegenüber auf eine stärkere Unterscheidung ab. Nach den Daten von 2010, die aber nur in Baden-Württemberg und Thüringen erhoben wurden, gebe es im Meinungsspektrum eine pro-israelische und eine pro-palästinensische Richtung. Der letztgenannten Gruppe könnten fast 70 Prozent der Bevölkerung zugerechnet werden. Indessen würde es hier wiederum zwei Untergruppen geben, die antisemitischen Israelkritiker mit 26 Prozent und die nicht-antisemitischen Israelkritiker mit 44 Prozent. Die letztgenannten Befragten seien durch Menschenrechtsorientierung und Pazifismus motiviert. Sie teilten auch nicht die Auffassungen der Erstgenannten, wonach der Holocaust "den Juden" zur Legitimation der israelischen Politik diene oder die "weltweite Macht des Weltjudentums" diese mitbegünstige. Es handelt sich um eine der wenigen Studien, die eine solche Unterscheidung vornimmt.
Analytischer Blick auf die eigentlichen Motive
Während sich bei manchen Aussagen zu Israels Politik eine antisemitische Position eindeutig zeigt, sind andere Auffassungen in dieser Hinsicht ambivalent deutbar. So können Boykottforderungen aus menschen- und völkerrechtlichen Gründen vorgetragen werden, es kann sich aber auch um eine Fortsetzung der antisemitischen "Kauft nicht bei Juden"-Kampagne der Nationalsozialisten handeln. Andeutungen und Behauptungen einer Gemeinsamkeit mit dem Hitler-Regime sind ahistorisch und unmoralisch gegenüber der Opfernation – sie können aber sowohl durch eine antisemitisch motivierte Täter-Opfer-Umkehr motiviert, als auch in einer bloß provokativen und unsensiblen Übertreibung begründet sein. Hier bedarf es jeweils eines differenzierten Blickes auf die Hintergründe der jeweiligen Akteure, erfolgen doch ähnlich klingende Aussagen mitunter aus antisemitischen wie nicht-antisemitischen und damit unterschiedlichen Grundpositionen heraus.
Doppelstandards und Einseitigkeiten bei der Einstellung zu Israel
Dies bedeutet auch, dass Doppelstandards und Einseitigkeiten bei der Einstellung gegenüber dem jüdischen Staat zwar antisemitisch motiviert sein können, aber nicht müssen. So wird gelegentlich Israel an einem hohen moralischen Maßstab gemessen, welcher sich angeblich durch die Erfahrung des Holocaust für Juden oder durch das Selbstverständnis als demokratischer Rechtsstaat ergebe. Dabei blenden viele Kritiker aus, dass der Nahost-Konflikt eine besondere Rahmensituation darstellt. Israel wirkt nicht im "luftleeren Raum". Seine Feinde bekunden mitunter ganz offen ihre Vernichtungsabsichten
Antisemitisch anschlussfähige Bekundungen
Der existente israelfeindliche Antisemitismus kann auch geschürt werden durch Äußerungen, die antisemitisch anschlussfähig oder missverständlich sind. Eine glaubwürdige menschen- und völkerrechtlich motivierte Kritik am jüdischen Staat muss berücksichtigen, dass die damit einhergehenden Ansprüche eben auch für Juden und für Israel gelten, wenn es z.B. um das völkerrechtlich garantierte Recht auf Selbstverteidigung geht. Dies bedeutet, dass Einwände in Form und Inhalt so gestaltet sein sollten, dass sie keine antisemitischen Ressentiments schaffen oder stärken, da dies auch ohne Absicht des jeweiligen Akteurs geschehen kann (im Gegensatz zu einem Antisemiten, der jeden Einwand gegenüber Israel zur Verstärkung seiner Zerrbilder nutzen wird). Aus der Einsicht in eine solche Gefahr ergibt sich die Notwendigkeit, die jeweiligen Äußerungen möglichst so zu gestalten, dass eine solche Resonanz unterbunden wird. Gerade die fehlende Aufmerksamkeit für diesen Kontext erklärt mit, warum über die Angemessenheit von Kritik an der israelischen Politik so emotional und polarisiert gesprochen wird.
Differenzierung über eine Dreier-Typologie
Bilanzierend betrachtet soll hier für eine Differenzierung über eine Dreier-Typologie plädiert werden: Erstens besteht eine antisemitische Israelfeindlichkeit, wobei die Feindschaft gegen Juden als Juden auf den Staat Israel übertragen wird und klassische judenfeindliche Stereotype vorgetragen werden. Zweitens gibt es eine nicht-antisemitische Israelfeindlichkeit, die sich z.B. aus einem einseitigen "Antiimperialismus" speist und daraus eine rigorose Frontstellung gegen Israel entwickelt. Und drittens lässt sich eine nicht-antisemitische Kritik an der israelischen Regierungspolitik ausmachen, wobei die Grundlage dafür menschen- und völkerrechtliche Positionen sind. Die zweite Auffassung ist zwar nicht antisemitisch, aber auch nicht unproblematisch. Denn sie berücksichtigt nicht die legitimen Sicherheitsinteressen des jüdischen Staates wie die kritikwürdigen Positionen von Israels Feinden. Eine derartige Dreier-Typologie kann zur Versachlichung beitragen.