Die bisherige Diskussion des Themas Antisemitismus in der Schule war stark auf Bildungsansätze fokussiert, die die unmittelbare Verantwortung der schulischen Akteure – von Lehrerinnen und Lehrern, der Schulleitung, den Schülerinnen und Schülern und den Eltern, aber auch den Schulaufsichtsbehörden – seltsam blass erscheinen ließ. Damit blieben diese Akteure als Verantwortliche für Diskriminierung oder für Passivität, Schweigen und Nicht-Handeln außerhalb der Erörterung. Zumeist wurde und wird vor allem auf außerschulische Bildungsangebote verwiesen. Diese sind fraglos wichtig, etwa im Bereich der Weiterbildung von Lehrkräften oder auch in der Krisenintervention bei größeren Problemfällen in einzelnen Schulen. An den hohen Erwartungen, einerseits als eine Art Feuerwehr in Notsituationen und andererseits als umfassende Antisemitismusprävention zu fungieren, müssen sie jedoch aus strukturellen wie inhaltlichen Gründen zwangsläufig scheitern: Eine demokratische politische Bildung, die politische Bildung (auch) als Erziehung zur Mündigkeit begreift, kann nicht kurz-, sondern nur mittel- und langfristig erfolgreich sein.
Auf einen Punkt gebracht: Schulische Akteure tragen eine Verantwortung daran, Antisemitismus zu bekämpfen, und benötigen Strategien, die auf längere Sicht wirken. Doch dafür fehlt teilweise auch die Motivation: Wenn man sich des Themas nur anlassbezogen und sporadisch, beispielsweise in einer Projektwoche, annimmt, kann man Diskussionen über die Frage vermeiden, ob einzelne Kolleginnen und Kollegen im eigenen Lehrkörper antisemitische Einstellungen haben, ob es Schülerinnen und Schüler gibt, bei denen Antisemitismus ein manifestes Problem darstellt, das nicht mehr pädagogisch gelöst werden kann oder auch, ob Lehrpläne und Unterrichtsmaterialien überhaupt den Ansprüchen genügen, um mittel- und langfristig eine Minimierung von Antisemitismus herbeizuführen (vgl. hierzu ausführlich: Salzborn/Kurth 2019). Vor diesem Hintergrund sollen an dieser Stelle einige grundlegende Überlegungen vorgestellt werden, die zentral für jede Form der Aufklärungs-, Bildungs- und Präventionsarbeit gegen Antisemitismus im schulischen Kontext sind, also direkt und unmittelbar dauerhaft in jede schulische Alltagssituation einfließen können.
Was ist Antisemitismus?
Antisemitismus, das ist vielleicht die für den schulischen Kontext zentralste Erkenntnisvoraussetzung, ist nicht einfach eine Form von Diskriminierung neben anderen, nicht einfach ein Vorurteil wie viele andere. Antisemitismus kann zwar mit anderen Diskriminierungsformen wie Rassismus, Sexismus oder Homophobie verbunden auftreten, unterscheidet sich aber dennoch grundsätzlich von diesen: Antisemitismus ist eine Verbindung aus Weltanschauung und Leidenschaft, die dazu genutzt wird, um all das zu begreifen, was in der Politik und Gesellschaft nicht verstanden wird oder verstanden werden will. Der völkisch-rassistische Antisemitismus hat mit der Shoah und der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden die grundlegende Differenz von Antisemitismus zu Rassismus und anderen Vorurteilen gezeigt. Rassismus und Antisemitismus unterscheiden sich aber, auch in qualitativer Hinsicht: Beim rassistischen Vorurteil wird die dem Anderen zugeschriebene potenzielle Macht im Rassismus konkret (materiell und sexuell) artikuliert. Im Antisemitismus hingegen wird die Zuschreibung als "mysteriöse Unfassbarkeit, Abstraktheit und Allgemeinheit" (Postone 1982: 15) fantasiert.
Antisemitismus zielt auf einen weltanschaulichen Alleinerklärungsanspruch, kognitiv und emotional: Er bietet als Weltbild ein allumfassendes System von Ressentiments und (Verschwörungs-)Mythen, die in ihrer konkreten Ausformulierung wandelbar waren und sind. Sie richten sich immer gegen Jüdinnen und Juden, da der Antisemitismus auf Projektionen und, wie Theodor W. Adorno (1951: 125) es formuliert hat, "Gerüchten über die Juden" basiert. Deshalb hat das reale Verhalten von Jüdinnen und Juden auch ebenso wenig Einfluss auf das antisemitische Weltbild, da sich eben dieses Weltbild aus den emotionalen Bedürfnissen der Antisemitinnen und Antisemiten selbst konstruiert: Sie glauben an ihr antisemitisches Weltbild, nicht obwohl, sondern weil es falsch ist, da es emotionalen Mehrwert für sie schaffen soll. Antisemitismus ist zu verstehen als eine spezifische Art zu denken und zu fühlen (vgl. hierzu ausführlich Salzborn 2010).
Mit Blick auf die unterschiedlichen Altersstufen und Schulformen gestaltet sich das Verhältnis von Weltanschauung und Leidenschaft, also von Kognition und Emotion, höchst unterschiedlich – man findet genauso die weltanschaulich überzeugte und gefestigte Antisemitin, die aufgrund ihrer eigenen Sozialisation in einer rechtsextremen oder islamistischen Familie das antisemitische Weltbild vollkommen internalisiert hat und mit kognitiver Überzeugung vertritt, wie den ungebildeten Antisemiten, der sich aus Versatzstücken von Ressentiments und Vorurteilen seiner subkulturellen Peer Group oberflächlich antijüdischer Rhetorik bedient, ohne sie intellektuell zu verstehen. Relevant ist dabei auch, dass man antisemitische Ressentiments vertreten kann, ohne ein Bewusstsein darüber haben zu müssen, ein(e) Antisemit(in) zu sein – was an der Tatsache als solcher natürlich nichts ändert, da es sich nicht um eine subjektive Frage des Glaubens über eigene Einstellungen handelt, sondern um das objektive Vorhandensein antisemitischer Einstellungen.
Wann sich bewusste oder unbewusste antisemitische Einstellungen in Handlungen – Beschimpfungen, Drohungen, Beschmieren von Türen, Wänden und Tischen oder handgreifliche Übergriffe und Gewalttaten – umsetzen, hängt stark vom jeweiligen Individuum ab: davon, wie stark oder schwach sein leidenschaftliches Weltbild in stützende oder konterkarierende Strukturen eingebunden ist (vgl. Salzborn 2010: 319ff.). Insofern ist es auch zentral, dass dem Antisemitismus in der Schule immer, eindeutig, konsequent und unmissverständlich widersprochen wird, um Worte nicht zu Taten werden zu lassen. Antisemitismus ist neben der Verbindung aus Weltanschauung und Leidenschaft zugleich die Unfähigkeit wie Unwilligkeit, abstrakt zu denken und konkret zu fühlen; im Antisemitismus wird beides vertauscht, das Denken soll konkret, das Fühlen aber abstrakt sein. (vgl. Salzborn 2010) So bleiben alle Ambivalenzen der modernen bürgerlichen Gesellschaft nicht nur unverstanden und unreflektiert, sondern affektiv auch der emotionalen Bearbeitung vorenthalten, da Gefühle abstrahiert werden. Damit verliert das Individuum die intellektuelle Hoheit über seine Selbstreflexion und gibt die Möglichkeit des emotionalen Verstehens und Mitfühlens auf. Antisemitische Ressentiments äußerten sich dabei im Verlauf der Geschichte in unterschiedlichen Artikulationsformen, insbesondere als religiös-antijüdischer, völkisch-rassistischer, sekundär-schuldabwehrender, antizionistisch-antiisraelischer und (arabisch-)islamischer Antisemitismus (vgl. Salzborn 2014: 11ff.). Dass es verschiedene Artikulationsformen von Antisemitismus gibt, die in unterschiedlichen historischen Kontexten entstanden sind und alle bis in die Gegenwart fortwirken, wird im schulischen Kontext zu selten berücksichtigt.
Von Bedeutung ist die Tatsache, dass Antisemitismus fraglos die Kernideologie des Nationalsozialismus darstellte, aber vor und nach dem Nationalsozialismus und in allen politischen Spektren bis heute existiert. Man kann sich also nicht dem Gesamtphänomen verweigern, indem man es ausschließlich auf den Nationalsozialismus reduziert. Eine paradoxe emotionale Entlastung entsteht, wenn man im schulischen Kontext Antisemitismus (völlig zutreffend) als Kern des Nationalsozialismus thematisiert, damit aber (absolut unzutreffend) die antisemitische Vorgeschichte, seine christlichen und islamischen Elemente, die Schulabwehr oder den antisemitischen Hass auf Israel als Nachgeschichten des NS-Antisemitismus ausblendet. Der Antisemitismus in der ehemaligen DDR ist in diesem Kontext nochmal ein eigenständiges Problemfeld und die Ausblendung dieser Tradierung eine spezifische Herausforderung für den Schulunterricht in Ostdeutschland, da es hier um differente Muster einer Täter-Opfer-Umkehr und eine spezifische Leugnung von linkem Antisemitismus geht (vgl. Heitzer u.a. 2018). Der gegenwärtig durch seine Gewaltförmigkeit extrem virulente islamische Antisemitismus zeigt überdies, dass das antisemitische Weltbild auch in außereuropäischen Gesellschaften über eine eigenständige historische Genese und sozialstrukturelle Verankerung verfügt, die man zum Verständnis des aktuellen Antisemitismus nicht ausblenden darf – gerade die antijüdischen Textstellen im Koran und die lange Geschichte des islamischen Antisemitismus, auch des palästinensischen Antisemitismus, der sich unter anderem aus islamischen und christlichen Elementen des Antisemitismus speist, sind hier Blindstellen schulischer Bildung (vgl. Salzborn 2018: 113ff.).
Insofern ist es für die schulische Perspektive generell wichtig zu betonen, dass die Thematisierung der NS-Geschichte und des NS-Antisemitismus wie die der Shoah unverzichtbare Elemente des Schulunterrichts sind. Gleichzeitig ist diese Thematisierung aber nicht ausreichend, um ein Verständnis des Themas Antisemitismus in der Schule und damit auch für schulische Präventionsstrategien zu entwickeln.
Die sozialwissenschaftliche Forschung (Adorno u.a. 1973; Rensmann 2004) hat gezeigt, dass es einen tiefen Zusammenhang von Antisemitismus und Autoritarismus gibt. Für die schulische Perspektive ist das von hoher Relevanz, weil es darauf hinweist, dass Antisemitinnen und Antisemiten nach autoritären Mustern agieren, was zweierlei markiert: erstens die zentrale Aufgabe von Pädagogik, Autoritarismus so früh wie möglich zu konterkarieren und aktiv in autoritäre Vorstellungen und Verhaltensweisen zu intervenieren (vgl. Ahlheim/Heger 2000, 2002: 111ff.); zweitens die zentrale Grenze von Pädagogik. Diese besteht darin, dass junge Menschen mit gefestigten emotionalen Strukturen autoritärer Reaktion deutlich weniger erreichbar für pädagogische und didaktische Ansätze sind. Denjenigen, die primär nach autoritären Mustern denken und fühlen und dann auch danach handeln, sollte daher den jugendschutz-, schul- und strafrechtlichen Vorgaben folgend mit Sanktionen und Repressionen begegnet werden – um andere vor ihnen zu schützen, aber auch, um Aggressionen einzugrenzen.
Insofern hat schulische Bildung gegen Antisemitismus eine grundlegend präventive Funktion (vgl. Schäuble 2013), aber auch ihre Grenzen, da Antisemitismus letztlich ein autoritäres Weltbild ist und nicht einfach nur ein Vorurteil. Der schmale Grat zu erkennen, an welcher Stelle Fakten und Wahrheit gegen Antisemitismus pädagogisch geboten sind und wo Schülerinnen und Schüler nicht mehr für diese erreichbar sind, ist die vielleicht größte Herausforderung aller Lehrkräfte, weil reflektiert werden muss, was Pädagogik nicht leisten kann – aus Gründen verfestigter psychischer Charakterstrukturen und der Gerinnung vom Antisemitismus zu einem die gesamte Person erfassenden leidenschaftlichen Weltbild, das für Aufklärung unempfänglich geworden ist.
Möglichkeiten der Thematisierung: direkt und indirekt
Prävention und Bekämpfung von Antisemitismus in der Schule muss also reflektieren, dass die Befassung mit Antisemitismus nicht "nebenbei" und damit auch nicht im Sinne von exemplarischem Lernen geleistet werden kann, sondern dass diese aktiv betrieben werden muss – was nicht zwingend heißt, dass Antisemitismusprävention unbedingt direkt erfolgen muss. Denn da der Antisemitismus mit der Unfähigkeit und Unwilligkeit abstrakt zu denken und konkret zu fühlen zusammen hängt, ist jeder Unterricht, der die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler zu abstraktem Denken und konkreter Empathiefähigkeit fördert, ein wichtiger Teil der Antisemitismusprävention. Dies kann auch und gerade in den nicht-geisteswissenschaftlichen Fächern und besonders in der Grundschule geleistet werden, ohne dass es notwendig ist, die Themenfelder Antisemitismus und Judentum explizit zu thematisieren.
Abstraktes Denken kann dabei vielfältig geschult werden. Dazu gehören das Verständnis für die Regeln bei der Wahl von Klassensprecherinnen und Klassensprechern, die logische Systematik von Sprachgrammatiken, die strukturellen Gemeinsamkeiten von Tierskeletten, die Regeln der Stochastik, die Funktionsweise kapitalistischer Ökonomie (jenseits des irrationalen Affekts gegen Personen), das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit oder die Regelhaftigkeit von Ballsportarten. Und konkrete Empathie besteht eben darin, seine Gefühle nicht auf Kollektive zu richten, sondern auf konkrete Ereignisse und Personen: Wer mehr Empathie für eine unbekannte Mitschülerin auf dem Schulhof empfindet und ihr hilft, nachdem sie gestürzt ist, als für den Gewinn eines Weltmeisterpokals eines Fußballnationalteams, kann grundsätzlich als weniger anfällig für die Strukturmechanismen von Antisemitismus gelten. Und auch ein Sportunterricht, bei dem es nicht primär um den Erfolg und das Gewinnen, sondern in erster Linie um empathische Interaktionen geht, könnte hierzu viel beitragen. Denn die Schülerinnen und Schüler würden in die Lage versetzt, konkrete Gefühle zu entwickeln und wären damit nicht dem antisemitischen Grundmuster abstrakter Emotionalität ausgeliefert – die auf Kollektive gerichtet, aber faktisch empathiefrei ist.
Die indirekte Thematisierung ist also genauso relevant wie die direkte: Man muss dem Antisemitismus die kognitiven und emotionalen Grundlagen entziehen, zugleich aber im Anspruch von Aufklärung und politischer Bildung das Thema Antisemitismus direkt thematisieren und Wissen und Fakten vermitteln, sowohl historisch wie aktuell. Denn die Aufklärung und die Erziehung zur Mündigkeit sind letztlich Prinzipien von Demokratie und (politischer) Bildung. Einseitige Darstellungen, wie sie sich in zahlreichen Schulbüchern im Kontext des Nahost-Konflikts finden (beispielsweise in Form einer einseitigen Parteinahme zugunsten der Palästinenserinnen und Palästinensern), bei der sowohl historische und aktuelle Falschaussagen sowie Auslassungen zu finden sind, wie emotionale Überwältigungen, die durch kollektive und abstrakte Emotionalisierungen wirken, ver- und bestärken antisemitische Ressentiments bei Schülerinnen und Schülern.
Insofern liegt insbesondere bei den geistes- und gesellschaftlichen Fächern, allen voran im Geschichts- und Politikunterricht