Immer mehr Filmemacherinnen aus dem ehemaligen Jugoslawien erobern die internationale Filmszene. Sie nutzen kollektive oder private Archive, um verdrängte und tabuisierte Erfahrungen der postjugoslawischen Gesellschaft neu ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Im Eröffnungsgespräch befragt Gaby Babić die vielfach preisgekrönten Filmemacherinnen Dana Budisavljević (Kroatien), Mila Turajlić (Serbien) und Jasmila Žbanić (Bosnien und Herzegowina) zu ihren filmischen Aufarbeitungen von Tabuthemen einer verflochtenen Region.
Über die Regisseurinnen
Mila Turajlić
Mila Turajlić ist eine in Belgrad geborene Dokumentarfilmmacherin. In ihrer Arbeit mit Archiven erforscht Mila Turajlić die Überschneidung von persönlichen und nationalen Erinnerungen. Sie unterrichtet Dokumentarfilmerstellung und kreative Archivnutzung an der SciencesPo und am INASup in Paris und war Gastdozentin an mehreren Universitäten (Sorbonne, Harvard, Stanford). 2018 wurde sie vom Museum of Modern Art, New York, beauftragt, eine Reihe von archivbasierten Videoinstallationen für die wegweisende Ausstellung über jugoslawische modernistische Architektur zu schaffen.
Ihr Film The Other Side of Everything wurde 2017 auf dem Toronto International Film Festival uraufgeführt und gewann 32 Preise, darunter den IDFA Award für den besten Dokumentarfilm. Ihr letzter Film Ciné-Guerrillas: Scenes from the Labudović Reels, über den Lieblingskameramann von Josip Broz Tito und den algerischen Unabhängigkeitskrieg, erlebte die Weltprämiere im September 2022 auf dem Toronto International Film Festival.
Turajlić hat einen BA in Film- und Fernsehproduktion an der Fakultät für dramatische Künste der Universität der Künste in Belgrad (2002), einen BSc in Politik und internationalen Beziehungen an der London School of Economics (2003), einen MSc in Medien und Kommunikation an der London School of Economics (2004) und einen PhD an der Fakultät für Medien, Kunst und Design der Universität von Westminster (2015). Turajlić lebt und arbeitet derzeit zwischen Belgrad und Paris.
Dana Budisavljević
Dana Budisavljević ist eine in Zagreb geborene Filmmacherin, Produzentin, Cutterin und Mitgründerin der Filmproduktionsfirma HULAHOP. Nach ihrem Debüt mit dem Dokumentarfilm Straight A's!, der auf der IDFA 2004 uraufgeführt wurde, über die erste kroatische Frau, die zugab, in den Amsterdamer Rotlichtbezirk verschleppt worden zu sein, richtete Dana die Kamera auf sich selbst und ihre Familie, als sie unter dem Titel Family Meals ihre eigene Coming-out-Geschichte aufzeichnete.
(© HULAHOP)
(© HULAHOP)
Ihre Doku-Fiktion Das Tagebuch der Diana B., gewann das Pula Film Festival 2019 und 20 weitere Preise. Der Filmt erzählt über Diana Budisavljević, eine Österreicherin, die in Zagreb lebte und mit einem serbischen Arzt verheiratet war. Anfang der 40er Jahre startete sie eine private Organisation, die orthodoxen Frauen und Kindern in den Ustascha-Lagern half. Über 10 000 Menschen rettete sie das Leben.
Als Produzentin produzierte und koproduzierte Dana ein Dutzend kreativer Dokus und mehrere Doku-Serien in Zusammenarbeit mit internationalen Produzent:innen. Budisavljević lebt in Zagreb.
Jasmila Žbanić
Jasmila Žbanić ist eine in Sarajevo geborene Filmmacherin. Žbanić erhielt ihre Ausbildung an der Akademie der Künste Sarajevo. 1995 ging sie in die USA und arbeitete als Puppenspielerin im Bread and Puppet Theater. 1997 gründete sie die Filmproduktionsfirma Deblokada. Sie drehte selbst einige Kunstvideos und Dokumentarfilme, die 2004 auf der Documenta in Kassel zu sehen waren. Ihr Spielfilmdebüt Esmas Geheimnis – Grbavica wurde 2006 mit dem Goldenen Bären bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin ausgezeichnet.
(© Imrana Kapetanović )
(© Imrana Kapetanović )
Ihr Spielfilm Quo Vadis, Aida? über das Massaker in Srebrenica wurde 2020 in den Wettbewerb um den Goldenen Löwen zu den 77. Internationalen Filmfestspielen von Venedig eingeladen. Der Film wurde bei der Oscarverleihung 2021 als Bester Fremdsprachiger Film nominiert und erhielt im Dezember 2021 den Europäischen Filmpreis, ebenso wie Žbanić für die beste Regie. Im Jahr 2021 wurde sie in die internationale Jury der 71. Filmfestspiele Berlin berufen. Žbanić ist Mitglied der Europäischen Filmakademie und lebt in Berlin und Sarajevo.
Das Gespräch findet auf Bosnisch/Kroatisch/Serbisch mit deutschem Konsekutivdolmetschen statt.
Die Veranstaltung ist kostenlos. Bitte melden Sie sich unter dem Button im Kalender an.
Die Filme der Filmreihe:
Film 1: Esmas Geheimnis – Grbavica (Regie: Jasmila Žbanić)
In ihrem Debütfilm erzählt die bosnische Regisseurin Jasmila Žbanić anhand eines Mutter-Tochter-Konflikts von den Wunden, die auch Jahre nach dem Ende der traumatischen Kriegsvergangenheit nicht verheilt sind. Der bei der Berlinale 2006 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnete Film greift als erster Spielfilm das schwierige Thema der Massenvergewaltigungen in Kriegszeiten auf.
Film 2: Family Meals (Regie: Dana Budisavljević)
Als ihre Familie anlässlich einer Feier seit Jahren erstmals wieder zusammentrifft, nutzt Dana Budisavljević die Mahlzeiten, um in wechselnden Konstellationen schmerzhafte Familienbeziehungen und -traumata anzusprechen und aufzuarbeiten, wie zum Beispiel das Gefühl, als junge Frau von ihrer Familie wegen ihrer Homosexualität nicht angenommen worden zu sein. Erfüllt von dem Wunsch nach einem ehrlicheren Familienleben verdeutlicht "Family Meals" einfühlsam, wie das Ritual des gemeinsamen Essens die Bereitschaft, einander zu verstehen, fördern kann.
Film 3: Die andere Seite von allem – Eine politische Geistergeschichte (Regie: Mila Turajlić)
Anhand der Geschichte einer enteigneten und in mehrere Parzellen aufgeteilten Wohnung im Herzen von Belgrad – der Wohnung, in der die serbische Regisseurin Mila Turajlić geboren wurde – erzählt der Film "Die andere Seite von allem" die bewegende Geschichte eines Landes und seiner Gesellschaft im Kampf gegen Nationalismus und für Demokratie. In der Auseinandersetzung mit ihrer politisch sehr engagierten Mutter geht Turajlić zugleich der Frage nach, wie man richtig lebt und welche Verantwortung jede Generation in Bezug auf die Zukunft trägt. Der Film wurde vom Magazin The New Yorker als einer der besten Filme des Jahres 2018 ausgewählt.
Film 4: Das Tagebuch der Diana Budisavljević (Regie: Dana Budisavljević)
Mitmenschlichkeit und Mut in Zeiten der Barbarei: Während des Zweiten Weltkriegs nutzte Diana Budisavljević, eine in Zagreb lebende, mit einem serbisch-orthodoxen Arzt verheiratete Frau, ihre Privilegien als wohlhabende Österreicherin. Mit nur wenigen Mitstreiter:innen befreite sie mehrere tausend serbisch-orthodoxe Kinder aus faschistischen Lagern und rettete sie vor dem sicheren Tod. Behutsam inszeniert die Regisseurin Dana Budisavljević die Geschichte dieser unerschrockenen, stillen Heldin, mit der sie entfernt verwandt ist. Sie lässt die Kinder von damals zu Wort kommen und ruft eine grausame, weitgehend vergessene Geschichte in Erinnerung.
Film 5: Cinema Komunisto (Regie: Mila Turajlić)
Die ebenso unterhaltsame wie informative Dokumentation nimmt das Publikum mit auf eine Reise durch die Geschichte der Filmindustrie unter Josip Broz Tito und damit zugleich durch die Geschichte Jugoslawiens. Mittels zahlreicher Ausschnitte aus vergessenen Filmen, nie gezeigtem Archivmaterial, Aufnahmen mit westlichen Stars und Interviews mit Regisseuren und Produzenten zeigt der Film, wie der kinobegeisterte Präsident seinem Land nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Identität zu geben versuchte – und wie Mythos und Wirklichkeit mehr und mehr auseinanderdrifteten, bis das System letztlich kollabierte.
Film 6: Quo vadis, Aida? (Regie: Jasmila Žbanić)
Aida ist bosnische Übersetzerin für die UN in Srebrenica. Als die serbische Armee die Stadt einnimmt, gehört ihre Familie zu den Tausenden von Menschen, die im UN-Lager Schutz suchen. Bei den Verhandlungen als Dolmetscherin eingesetzt, versucht Aida verzweifelt herauszufinden, wie sie ihre Familie und Mitbürger:innen retten könnte. Der Film über das Massaker an 8000 muslimischen Bosniern, das im Juli 1995 unter den Augen der niederländischen Blauhelme stattfand, macht einen von Männern geführten Krieg aus Sicht einer Frau erlebbar. „Quo vadis, Aida?“ wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Europäischen Filmpreis für den besten europäischen Film 2021.