Die Entscheidung über eine Fortsetzung des Festivalprojekts fiel zeitlich mit dem Prozess der Vereinigung beider deutschen Staaten zusammen. Vor diesem Hintergrund lag der Entschluss, das 2. Festival Politik im Freien Theater in einem der neuen Bundesländer auszutragen, auf der Hand. Auch wenn eine Freie Theaterszene im Osten erst im Aufbau begriffen und diese Theaterform noch nicht weithin bekannt war, erhoffte die bpb doch, über das Festival den ‚Endverbraucher‘ direkt anzusprechen zu können. Denn wie Umfragen ergeben hatten, ließ politische Bildung sich über herkömmliche Bildungsträger nur schwer vermitteln, zumal das Vertrauen bei der ostdeutschen Bevölkerung in staatliche Institutionen minimal und das Politikinteresse bereits ein Jahr nach der Vereinigung wieder auf das Niveau des Interesses an Politik in der ehemaligen DDR zurückgegangen waren (vgl. u.a. Aus Politik und Zeitgeschichte 38/1992).
Dass die Wahl auf Dresden fiel, hatte mehrere Gründe. Neben einer allgemeinen Aufgeschlossenheit für die Künste war Dresden – von Berlin einmal abgesehen – die einzige Stadt in den neuen Bundesländern, die bereits 1990 etwas vorwies, was man mit Recht als Freie Theaterszene bezeichnen konnte. Das Theatersystem der DDR hatte eine solche Theaterform nicht vorgesehen und zugelassen. Erst in der Endphase der DDR war es zu vereinzelten Gründungen Freier Theater gekommen. Dazu zählte unter anderen das in Dresden ansässige statt-theater FASSUNGSLOS, von dem wesentliche Impulse dafür ausgingen, dass es unmittelbar nach der Vereinigung zur Neugründung von weiteren sieben Freien Theatern in Dresden kam.
Andererseits hatte Dresden nach der Vereinigung den Ruf erworben, ein Hochburg des neu erstarkenden Rechtsradikalismus zu sein, der seinen unrühmlichen ‚Höhepunkt‘ im Aufmarsch von Neonazis im Juni 1991 anlässlich der Beerdigung der Dresdner Nazi-Größe Rainer Sonntag fand. Nicht zuletzt das in Dresden präsente Gewaltpotenzial hatte wesentlich dazu beigetragen, dass die Auslastung der Theater rapide gesunken war, weil viele Menschen das Haus am Abend nur noch ungern verließen.
Das Ende des Armenhauses
Foto: David Baltzer
Das Ende des Armenhauses
Foto: David Baltzer
Gerade aufgrund einer solchen Kollision von großer kultureller Tradition und einer lebendigen Freien Theaterszene auf der einen Seite und neuem Rechtsradikalismus auf der anderen entschied sich die bpb für die Ausrichtung des 2. Festivals Politik im Freien Theater vom 28. Oktober bis 7. November 1993 in Dresden.
Diese Besonderheit spiegelte sich im Spielplan wider, dem manch einer zunächst mit – unbegründeter – Skepsis begegnete: „Ob so viel politisches Theater – sechzig Aufführungen in zehn Tagen – gerade in den neuen Bundesländern gut platziert ist, war sehr die Frage. Umso überraschender die Reaktion in Dresden, wo fast alle Vorstellungen gut besucht, viele sogar überfüllt waren.“ (Frankfurter Rundschau, 13.11.1993)
Die inhaltlichen Schwerpunkte des Festivals lassen sich in zwei großen Blöcken zusammenfassen, nämlich:
Deutsche Vereinigung, Untergang des Sozialismus und die sozialen Folgen („Bruderbande“, „Das Notwendige und das Überflüssige oder Freiheit in Krähwinkel“, „Kohlhass“, „Der Untergang des Egoisten Fatzer“, „Die Dixtinische Kapelle“, „Kondensmilchpanorama“, „Der Obelisk“, „Sink Big“, „Der Frieden“, „Denn es ist die Maschine in ihnen, die von Zärtlichkeit träumt“);
Faschismus in Deutschland, Rechtsradikalismus und Rassismus, jüdische Lebenswelten, Umgang mit Fremdem („Polenweiher“, „Bent – Rosa Winkel“, „Heilige Kühe“, „Weisman und Rotgesicht“, „Einmal lebt ich“, „Das Ende des Armenhauses“, „Jonteff – Ein Festtag mit meinen Dibbuks“, „My Mother’s Courage“, „Das Schloß“, „Der Zwerg“, „Wanya Capac“).
gr_Obelisk_3_3.jpg Der Obelisk
Foto: Hans-Ludwig BöhmeDer Obelisk
Foto: Hans-Ludwig Böhme
Verstörendes, Experimentelles gab es insbesondere von den westdeutschen Theatern nur wenig; stattdessen Sprechtheater auf hohem Niveau. Es zeigte sich hier ein Trend, dem einen großer Teil der Freien Theater folgte. Eigene, eigenwillige Formen und Spielweisen waren nur noch selten zu sehen. Selbst das Wu Wei Theater, eine Nachfolge der legendären Frankfurter Schlicksupp-Theatertrupp, hatte im Zuge seiner Etablierung den Rückzug auf eine bruchlose Ästhetik angetreten. Dominant war insgesamt eine überbordende Bildersprache, die gelegentlich bis zur Verrätselung oder gar zu einem unbeabsichtigten Ästhetizismus getrieben wurde. Dennoch: „Beim Off-Theatertreffen gab es zwar keine kühnen Regie-Entwürfe zu sehen und auch keine theatralischen Provokationen, früher ein Merkmal der Freien Szene. Doch die meisten Gastspiele waren allemal spannender als so manche lustlose Klassiker-Bearbeitung am Stadttheater.“ (Berliner Zeitung, 11.11.1993)
Akzente setzten insbesondere ostdeutsche Produktionen. So Brechts „Fatzer“-Material, das in einer ekstatisch choreografierten, chorisch expressiven Fassung des Ostberliner Orphtheaters als Modell für das Scheitern der DDR-Opposition fungierte; Kleists „Kohlhaas“ als wild-anarchische, vor Spielwitz sprühende Clowns-Farce über die Unversöhnlichkeit von Staatsmacht vom Kleinen Theater aus Frankfurt/Oder; die Adaption des Romans „Der Obelisk“ des Moskauer Soz-Art-Autors Wladimir Sorokin vor dem Festspielhaus in Hellerau zwischen glühenden Kohlenbecken im Mondschein und bei einer Temperatur um den Gefrierpunkt; oder Georg Seidels „Kondensmilchpanorama“ über typische DDR-Befindlichkeit zwischen Stillstand und Bewegung in der strikt stilisierten Inszenierung des Theater 89 aus Ostberlin.
gr_Kondensmilch_3_4.jpg Kondensmilchpanorama
Foto: Wolfgang FalkKondensmilchpanorama
Foto: Wolfgang Falk
Theatergastspiele:
„Bent – Rosa Winkel“ von Martin Sherman, Theater in der Basilika, Hamburg, Regie: Friedrich Briesemeister
„Bruderbande“ von Rainer Iwersen, bremer shakespeare company, Regie: Rainer Iwersen
„Das Ende des Armenhauses“ nach Isaak Babel, Teatr Kreatur, Berlin, Regie: Andrej Woron
„Das Notwendige und das Überflüssige oder Die Freiheit in Krähwinkel“ von Johann Nestroy/Karl Kraus, Wu Wei Theater, Frankfurt/M., Regie: Rolf Johannsmeier
„Das Schloß“ nach Franz Kafka, Healing Theatre, Köln, Regie: Michael Dick
„Denn es ist die Maschine in ihnen, die von Zärtlichkeiten träumt“ von Michael Wildenhain, Freies Schauspiel Berlin, Regie: Bernd Mottl
„Der Frieden“ von Aristophanes, Compagnie de Comédie, Rostock, Regie: Joachim Lemke
„Der Obelisk“ nach Wladimir Sorokin, Europäische Werkstatt für Kunst und Kultur Hellerau, Dresden, Regie: Carsten Ludwig
„Der Untergang des Egoisten Fatzer“ von Bertolt Brecht, Orphtheater, Berlin, Regie: Thomas Roth
„Der Zwerg“ nach Pär Lagerkvist, Teatron Theater, Arnsberg, Regie: Yehuda Almagor
„Die Dixtinische Kapelle“ von Matthias Dix, statt-theater FASSUNSGSLOS, Dresden, Regie: Frank Schubert
„Dirty Work“ von Maishe Maponya, DIALOGtheater Dresden, Regie: Pieter Hannecom
„Einmal lebt ich“ von Natascha Wodin, Gilla Cremer, Hamburg, Regie: Max Eipp
„Heilige Kühe“ von Oliver Czeslik, Theater Viel Lärm um Nichts, München, Regie: Eugenia Naef
„Jonteff – Ein Festtag mit meinen Dibbuks“, Adriana Altaras, Berlin, Regie: Peter Kock
„Kohlhass“ nach Heinrich von Kleist, Das Kleine Theater – Theater des Lachens, Frankfurt/O., Regie: Astrid Griesbach
„Kondensmilchpanorama“ von Georg Seidel, theater 89, Berlin, Regie: Hans-Joachim Frank
„My Mother’s Courage“ von George Tabori, Zelt Ensemble Theater, Tübingen, Regie: Otto Kukla
„Polenweiher“ nach Thomas Strittmatter, Theater Lindenhof, Melchingen, Regie: Bernhard Hurm
„Sink Big“, Die Traumtänzer, Frankfurt, Regie: Michael Kaiser
„Titus Andronicus“ von William Shakespeare, bremer shakespeare company, Regie: Pit Holzwarth
„Wayna Capac“, L.O.T. Theater, Braunschweig, Regie: Carlos Cueva
„Weisman und Rotgesicht“ von George Tabori, Theater Mahagoni, Hildesheim, Regie: Ensemble
Jury:
Silvia Brendenal, Direktorin des Deutschen Forums für Figurentheater und Puppenspielkunst, Bochum
Gabriele Hänel, Schauspielerin und Regisseurin, Berlin
Manfred Karge (Vorsitzender), Schauspieler, Regisseur, Autor, Professor für Regie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, Berlin
Dr. Werner Schulze-Reimpell, Theaterkritiker, Hamburg
Herbert Wulfekuhl, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Bremen
Preisträger:
theater 89, Berlin (Kondensmilchpanorama)
statt-theater FASSUNGSLOS, Dresden („Die Dixtinische Kapelle“)
Europäische Werkstatt für Kunst und Kultur Hellerau, Dresden („Der Obelisk“)
Susanne Truckenbrodt, Orphtheater, Berlin (Darstellerin-Preis)
Dietlinde Elsässer, Theater Lindenhof, Melchingen (Darstellerin-Preis)
Ralf Bockholdt, Thomas Jahn und Frank Pannhans, Das Kleines Theater – Theater des Lachens, Frankfurt/Oder (Darsteller-Preis)