Im Frühjahr 2020 erlebte die Welt eine beispiellose Drosselung des nationalen und internationalen Reiseverkehrs. "Ein Stück unserer Freiheit geht zu Ende", hieß es, "seit dem Mittelalter hat es eine solche Beschränkung der Mobilität nicht mehr gegeben".
Wie schnell auf dem Verordnungsweg wieder Schlagbäume errichtet werden können, war eine schockierende Erfahrung, zumal für die Bürger des Schengen-Raums, die es seit 30 Jahren gewohnt waren, in Europa in aller Regel von Grenzkontrollen verschont zu bleiben. Zeitweilig untersagten einige Bundesländer sogar Touristen aus anderen Bundesländern den Aufenthalt, was zumindest symbolisch einer innerdeutschen Grenzschließung nahekam. Nach einigen Monaten wurden die Reiseregelungen gelockert, dann erneut verschärft,
Die touristische Nachfrage ist im Europa des 18. Jahrhunderts entstanden; heute treibt sie eine der größten Branchen der Weltwirtschaft an. Die wesentlichen Grundlagen für diese Erfolgsgeschichte – die als eine Geschichte des Abbaus von Hemmnissen gelesen werden kann – wurden etappenweise von den 1730er bis zu den 1930er Jahren gelegt. Darauf aufbauend hat sich seither der Anteil der Menschen, der jährlich in den Urlaub fährt, die sogenannte Urlaubsreiseintensität, stetig erhöht; in Deutschland lag sie 2019 bei 78 Prozent.
Es ist uns selbstverständlich, zwischen touristischen und anderen Reisemotiven zu unterscheiden – als in der Pandemie die Hotels und Grenzen geschlossen wurden, hatte diese Unterscheidung sogar Gesetzeskraft erlangt. Dennoch werfen viele Experten die verschiedenen Reisearten in einen Topf und schlagen so etwa Geschäfts- oder Entdeckungsreisen kurzerhand dem Tourismus zu: "Der Tourismus ist kein neues Phänomen unserer Zeit. Bereits seit Tausenden von Jahren verreisen die Menschen."
Zurück zur Natur
Bisweilen wird spekuliert, der Tourismus gründe auf einem genetischen Erbe aus nomadischer Urzeit, das sich heute massenhaft ausleben kann.
Dies fiel erstmals dem Historiker August Ludwig Schlözer auf. In seinen ab 1777 gehaltenen Reise-Collegien lehrte er, es gebe zwei Arten des Reisens: das Reisen "in Geschäften" und das Reisen "um zu reisen".
Ihre Entstehung verdankte sich einer neuen Weltsicht, einer romantischen Hochschätzung von Natur und Geschichte. Die Romantik war nicht, wie meist zu lesen, die fortschrittspessimistische Nachfolgerin der fortschrittsoptimistischen Aufklärung, sondern ihre Zwillingsschwester. Denn die Zunahme an Sicherheit und Wohlstand infolge einer neuartigen Zivilisationsdynamik war mit einer Zunahme psychischer, sozialer und politischer Zwänge erkauft. Die Reaktionen auf diese "Künsteley" waren von Anbeginn konträr: Priesen die einen mit Voltaire und Immanuel Kant den Fortschritt als das Ende der "Unmündigkeit", so klagten die anderen mit Albrecht von Haller und Jean-Jacques Rousseau, er habe in eine Versklavung geführt: "Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Ketten", beginnt 1762 Rousseaus "contrat social".
Dabei rückten Gegenden in den Fokus, die bis dato als gefährlich und hässlich verabscheut wurden, voran das Hochgebirge und die Meeresküsten. Seit Menschengedenken waren diese lebensfeindlichen Räume wenn irgend möglich gemieden worden – nun galten sie als schön und "erhaben". Aus der abstoßend rückständigen Schweiz wird so ein irdisches Paradies, ein Hort der Freiheit und Natürlichkeit. Zeitgleich entstehen die ersten Seebäder, in England um 1730, auf dem Kontinent um 1800. Der öde, gefahrvolle Strand wird ein Refugium vor der krankmachenden Zivilisation. Und der romantisch-touristische Blick fällt bald auch auf manche Waldungen und Mittelgebirge, zudem auf bauliche "Alterthümer". Der Kanon des Sehenswerten weitet sich mehr und mehr aus.
Beschwernisse im Frühtourismus
Dieser neue Blick war freilich keineswegs Allgemeingut. Als Johann Wolfgang von Goethe am Gardasee Skizzen der verfallenen Scaligerburg anfertigte, wurde er für einen Spion gehalten, denn: "wenn es eine Ruine sei, was denn dran wohl merkwürdig [sehenswert, Anm. H.S.] scheinen könne?"
Die Masse der Menschen war als Bauern ohnehin an die Scholle gebunden. Anderen war eine Reise zwar oft möglich, aber nur Standespersonen genossen das prinzipielle Recht dazu, und selbst dieses Privileg galt nicht für die Höflinge und Amtsträger. Wollten sie den Hof oder die Truppe eine Zeit lang verlassen, hatten sie um Erlaubnis nachzusuchen. Seit dem Spätmittelalter wurde in diesem Sinne "Urloup" gewährt, und noch Goethe reiste inkognito durch Italien, in steter Furcht nach Weimar zurückbeordert zu werden.
Mobilität bedeutete letztlich eine latente Gefährdung für den Absolutismus. Bereits der Protestantismus hatte die massenhaften Pilgerfahrten abgeschafft, die Mann und Frau, Arm und Reich zusammenbrachten und von der Arbeit abhielten; auch katholische Herrscher suchten dann das Pilgerwesen unter Kuratel zu stellen. Ebenso waren der Obrigkeit die Reisen der Wanderburschen, Studenten, Dichter und Künstler suspekt; es drohten der Abfluss von Devisen, die Ausbreitung von Seuchen und nicht zuletzt der Austausch von Ideen. Aus den mittelalterlichen Pest- und Geleitbriefen – eine Schutz- und Versicherungspolice gegen Überfälle – wurde im Absolutismus ein fragmentarisches Meldewesen. Die Gesundheitszeugnisse und Pässe galten aber nur für eine bestimmte Wegstrecke und wurden erst im 19. Jahrhundert zu einem kohärenten Passsystem ausgebaut, das es erlaubte, grenzüberschreitende Mobilität einigermaßen der Kontrolle zu unterwerfen.
Der Territorialstaat des späten 18. Jahrhunderts hatte das Reisen zwar sicherer und durch ausgeklügelte Postsysteme kalkulierbarer gemacht,
Fiskal-, ordnungs- und auch gesundheitspolitische Motive gingen bei Grenzkontrollen oft Hand in Hand. Aus Furcht vor Seuchen wurden harte, wenngleich oft lückenhafte Grenzregime errichtet. Am besten gelang dies in den Häfen, weniger an den Landgrenzen. Vom Spätmittelalter bis zu den heutigen "Lockdowns" reichen die Versuche, durch einen Cordon sanitaire Krankheiten einzudämmen – und häufig waren sie von zweifelhafter Wirkung. Als der Bäcker Martin Wintergerst, der zahlreiche Länder bereiste, 1710 zu Fuß in Bergamo anlangt, hatte er zwar mehrere Grenzen problemlos passiert, macht aber den Fehler, im Rathaus unaufgefordert seinen Pass vorzulegen, worauf er umgehend in einem gefängnisartigen "Lazarett" isoliert wird.
Nahezu perfekt organisiert war die zwischen 1728 und 1770 aufgebaute, 1900 Kilometer lange "Pestfront", die das Habsburger vom Osmanischen Reich trennte: Alle 100 Kilometer befand sich ein Grenzübergang, wo Menschen, Vieh und Waren, die aus der Türkei kamen – wo man mit der Pest viel laxer umging als in Europa –, 21 bis 84 Tage in einem Quarantänehaus festgehalten wurden. Zwischen den Stationen wurde scharf geschossen; Schmuggler und Ärmere, die die hohen Pass- und Quartiergebühren nicht zahlen konnten, fanden dennoch illegale Wege. Der handelshemmende Sperrgürtel erfüllte zwar zeitweise seinen Zweck, war aber höchst umstritten, bis er 1857 weitgehend aufgehoben wurde.
Generell suchte der Staat die grenzüberschreitende Mobilität zu kontrollieren und gegebenenfalls zu unterbinden. Die von Merkantilisten geforderte Reisesteuer kam nicht zustande, doch vereinzelt wurden sogar kollektive Reiseverbote erlassen. So untersagte Friedrich Wilhelm von Brandenburg 1686 den Unter-30-Jährigen aller Stände, ausgenommen Handwerksburschen, ins Ausland zu reisen, da die "Reisen der Jugend" zu "einem großen Mißbrauch ausgeschlagen" seien.
Angesichts all der Hemmnisse, Beschwernisse, Gefahren und Kosten ist es erstaunlich, dass überhaupt Menschen dem Reisen als Selbstzweck frönten. Die frühtouristische Reise war jedoch keine Urlaubsreise im heutigen Sinne, sondern eine aus Kapital- oder Grundrenten finanzierte Unternehmung, die oft mehrere Monate dauerte und nur von den wenigsten jedes Jahr unternommen wurde.
Neue Freizügigkeit im langen 19. Jahrhundert
Zu einem Massenphänomen konnte das Reisen um des Reisens willen erst durch kostengünstige Transportmittel werden, bei denen die natürlichen Antriebsquellen durch motorische ersetzt wurden.
Mehr noch als das Dampfschiff aber war es die von einem "Dampfross" gezogene Kutsche, die Eisenbahn, die aus dem sporadischen Frühtourismus einen profitablen Wirtschaftszweig machte. 1830 eröffnete zwischen Liverpool und Manchester die erste reguläre Strecke für den Personenverkehr, rasch folgten weitere. Die Bahn wurde sogleich genutzt, um verbilligte Sammelfahrten zu veranstalten. Niemand setzte dieses Prinzip genialer um als der Baptistenprediger Thomas Cook: 1841 hatte er einen Sonderzug zu einem Abstinenzler-Fest gechartert, vier Jahre später gründete er eine Reiseagentur, und um 1900 war Thos. Cook & Son zur Weltfirma schlechthin geworden.
Die Expansion des Bahnsystems schritt zügig voran, wobei Deutschland sogar Großbritannien, das Mutterland der Industrialisierung, übertraf. 1835 war der erste Dampfzug sechs Kilometer von Nürnberg nach Fürth gerollt, fortan wurden emsig Schienen verlegt. Hatte die Eilpost von Köln nach Berlin eine Woche gebraucht, schaffte es nun der Zug in 14 Stunden. Dabei betrug der Fahrpreis selbst in der 1. Klasse nur die Hälfte des Eilposttarifs. Von 1850 bis 1913 wuchs das deutsche Streckennetz von 5.000 auf 63.000 Kilometer; die Zahl der Passagiere stieg von jährlich 200.000 auf 1,8 Milliarden. Der touristische Reiseverkehr machte davon nur einen Bruchteil aus, doch seine Steigerungsraten dürften sogar noch höher gewesen sein als die des Gesamtfahrgastaufkommens.
Die Bahn ließ Deutschland zusammenwachsen; sie wurde die treibende Kraft der Industrialisierung, wodurch sie mittelbar und unmittelbar den Tourismus zu einer Massenerscheinung erhob. Mit dem Zollverein 1834, dem Norddeutschen Bund 1867 und der Reichsgründung 1871 fielen schrittweise die innerdeutschen Grenzen. Mehr noch: Dank der Bahn konnte der Geld- und Geburtsadel bequem ins Ausland reisen,
Auch die Grenzformalitäten wurden erleichtert. Seit der Reichsgründung konnte man einen Pass erhalten, der pour tous les pays galt. Für viele europäische Staaten wurde dieses Reisedokument sogar überflüssig: Ab 1904 reichte es, dem Grenzbeamten eine "Postausweiskarte" für 50 Pfennig vorzuzeigen. Rückblickend schrieb der Feuilletonist Victor Auburtin: "Oft merkte der Reisende gar nicht, dass er über die Grenze in ein fremdes Land hineinkam", und der Schriftsteller Stefan Zweig schwärmte in der Erinnerung an die Zeit im habsburgischen Österreich: "Wir konnten reisen ohne Paß und Erlaubnisschein, wohin es uns beliebte."
Die Grenzen, die den Tourismus um 1900 noch hemmten, waren sozialer und mentaler Art. Mit der Hochindustrialisierung ging ein Aufschwung des touristischen Reisens einher, vor allem im aufstrebenden Bürgertum. Im Kaiserreich versechsfachte sich die Zahl der "Fremdenübernachtungen". Bereits ein halbes Jahrhundert zuvor hatte der Eisenbahn-Pionier Friedrich List gehofft, die Bahn würde auch den "Niedrigsten" zu "fernen Heilquellen und Seegestaden" bringen, und schon 1857 wurde eine "Demokratisierung des Reisens" gefordert.
Eine Voraussetzung dafür war der 1873 für Reichsbeamte eingeführte bezahlte Jahresurlaub. 1914 erhielten ihn alle Staatsdiener und zwei Drittel der Angestellten, aber bestenfalls zehn Prozent der Arbeiterschaft. Selbst wenn er gewährt wurde, betrug er oft nur drei Tage, wogegen hohe Beamte und Militärs sechs Wochen frei bekamen. Für die große Mehrheit lag eine Urlaubsreise weit außerhalb des Erwartungshorizonts, gehörte noch nicht zur Vorstellung vom "guten Leben". Die Gewerkschaften sahen entsprechend kaum Handlungsbedarf, vorrangig waren die Kämpfe um Löhne und Arbeitszeiten.
Zwischen den Kriegen
Mit dem Ersten Weltkrieg ging die klassische "bessere Gesellschaft" unter und mit ihr das "Paneuropa des Verkehrs".
In den "goldenen Zwanzigern" wurden die Bestimmungen kurzzeitig wieder etwas gelockert. Doch in der Weltwirtschaftskrise ab 1929 wurden die Zügel erneut angezogen. Reichskanzler Heinrich Brüning führte eine strenge Devisenbewirtschaftung ein, und verfügte kurzzeitig erneut eine Ausreisegebühr, diesmal 100 RM. Das NS-Regime schrieb die Brüningsche Außenwirtschaftspolitik fort: Deutsche konnten zwar hypothetisch in jedes Land der Welt reisen, durften aber in viele Staaten kaum Geld ausführen, was für Juden grundsätzlich galt.
"Auch Du kannst jetzt reisen!", lockten derweil Plakate der NS-Organisation "Kraft durch Freude" (KdF).
KdF nun organisierte Reisen in Serie, die nicht einmal die Hälfte der "Volksreisen" zuvor kosteten – und dies kaum subventioniert. Aus dem Stand wurde diese Organisation zum größten Reiseveranstalter der Welt. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs transportierte sie mehr als 7 Millionen deutsche "Volksgenossen" in den Urlaub, davon ein Zehntel auf spektakulären Kreuzfahrten.
Neue Hemmnisse?
Die eigentliche "Demokratisierung des Reisens" vollzog sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den Jahren um 1970, als die Reiseintensität in beiden deutschen Staaten die 50-Prozent-Marke überstieg.
Dies galt dann mit Abstrichen auch für die weit kleinere DDR. Seit 1954 war das Verlassen der DDR "ohne Genehmigung" strafbar, und insbesondere seit dem Mauerbau 1961 wurde dies auch brutal durchgesetzt. Auslandstourismus blieb im Wesentlichen auf "sozialistische Bruderländer" beschränkt und war einer rigiden Devisenkontrolle unterworfen.
Seither haben die Faktoren, die das Reisen "um zu reisen" hemmen, weiter an Einfluss verloren. Was einst in Europa begann, hat längst auch die Schwellenländer erfasst: Der wachsende Wunsch nach touristischem Erleben und die wachsenden Möglichkeiten, diesen Wunsch zu realisieren, haben den Tourismus zu einem – durchaus umstrittenen – globalen Massenphänomen gemacht. Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung jäh unterbrochen. Und so wird uns bewusst: Es wird auch weiterhin Hemmnisse touristischer Mobilität geben – sei es durch Pandemien oder durch Dinge, von denen wir heute noch nichts wissen. Die radikale Tourismuskritik mag solche Hemmnisse begrüßen. Indes zeigt die Geschichte, dass sie nicht von Dauer sein werden.