Christoph Singelnstein, Hörfunkjournalist und bis März 2021 Chefredakteur des Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB), geboren 1955. Er arbeitete für die Opposition in der Zeitweiligen Untersuchungskommission zu den Ereignissen vom 7./8. Oktober 1989 in Berlin mit.
Wie sind Sie damals zur Untersuchungskommission gekommen?
Ich war zusammen mit Marianne Birthler Mitinitiator des sogenannten Kontakttelefons, das Anfang Oktober eingerichtet wurde. Dort konnten sich Betroffene von Polizeiwillkür melden und über ihre Erfahrungen berichten. Wir sammelten auch die Gedächtnisprotokolle ein, die das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte dokumentierten. Diese Protokolle stellten wir auf einer Pressekonferenz vor, auf der auch eine unabhängige Untersuchungskommission angekündigt wurde, die schließlich Anfang November in den Räumen des Berliner Verbandes Bildender Künstler gegründet wurde. Am selben Tag berief die Berliner Stadtverordnetenersammlung ebenfalls ein Untersuchungsgremium. Ich gehörte der unabhängigen Kommission an, die eine knappe Woche später, am 9. November 1989, mit der staatlichen Kommission fusionierte.
Diese Fusion ging ja nicht problemlos über die Bühne. Drei Bürgerrechtler – Marianne Birthler, Werner Fischer und Walter Schilling – kritisierten, dass in der neuen Kommission hohe Volkspolizei-Offiziere, politische Entscheidungsträger wie der damaligen Stadtrat für Inneres sowie möglichen Stasi-Mitarbeiter mit am Tisch sitzen und legten deshalb ihr Mandat nieder.
Das war ein kalkulierter Ausstieg, wir hatten das vorher so besprochen in der unabhängigen Kommission. Ein Teil von uns sollte am ersten Sitzungstag, dem 9. November, aus Protest den Raum verlassen. Wir wollten Druck ausüben, damit die Täter nicht an der Untersuchung der Vorgänge mitwirken sollen, die sie zu verantworten haben. Gleichzeitig wollten wir nicht alle Brücken einreißen und beschlossen deshalb, das einige von uns die Kommission verlassen und andere, darunter ich, darin bleiben.
Da waren die VP-Offiziere aber schon längst raus aus der Kommission.
Ja, aber der Innenstadtrat Hoffmann zum Beispiel nicht. Und auch die Frage, ob sich unter den weiteren, von der Stadt berufenen Personen hauptamtliche oder inoffizielle Stasi-Mitarbeiter befanden, blieb ungeklärt.
Das kam erst viel später heraus. Wie aber haben Sie bei dieser anfänglichen Frontstellung im Gremium die Arbeit der Kommission erlebt?
So wie ich mich erinnere, prallten da wirklich Welten aufeinander. Die Vertreter der Staatsmacht konnten mit uns Oppositionellen nichts anfangen. Und wir konnten mit denen nichts anfangen. Wir waren in ihren Augen Kriminelle, die den Staat kaputt machen wollen. Letzteres stimmte, diesen SED-Staat wollten wir tatsächlich nicht mehr haben. Und wir Oppositionellen waren – zumindest in der Anfangszeit der Kommission – natürlich hoch emotionalisiert. Das lag vor allem an den Dingen, die wir erlebt hatten, die bis dahin ungekannte Brutalität, mit der die Polizei gegen friedliche Demonstranten vorgegangen war. Schließlich kam hinzu, dass parallel zur Arbeit der Kommission der Aufruhr weiter lief in der DDR, es brannte – im übertragenen Sinnen – an allen Ecken und Enden des Landes. Das hat die Emotionalität eher noch angeheizt als runtergeholt.
Hatten die Vertreter der Opposition da überhaupt eine Chance, sich durchzusetzen?
Der erste Tag, an dem wir zusammenkamen, war der 9. November. Am Abend dieses Tages fiel die Mauer. Dieser Kulminationspunkt hat natürlich die Position von uns Oppositionellen in der Kommission gestärkt. Bis dahin haben viele von uns noch in Angst gelebt. Die Situation im Land war durchaus noch kritisch, das darf man nicht vergessen. Es war ja noch nicht klar, ob der Prozess der gesellschaftlichen Veränderung, der da im Oktober in Gang gesetzt worden war, wirklich unumkehrbar ist. Natürlich hatte schon der 4. November, die Großdemonstration am Berliner Alexanderplatz, eine andere Situation geschaffen. Wir waren nun als Opposition anerkannt, hatten an Selbstvertrauen gewonnen. Du trittst anders auf, wenn da ein paar Hunderttausende Menschen für deine Sache auf die Straße gehen. Aber trotzdem war es immer noch eine fragile Lage.
Wann beruhigten sich die Fronten in der Kommission?
Die Kommission hat ja sehr lange getagt, bis Ende April 1990. Im Laufe der Arbeit wurde die Stimmung ruhiger, sachlicher. Inzwischen hatte sich zudem die Welt auch weiter bewegt. Das Verhältnis zu den Vertretern der Stadt normalisierte sich, was der Arbeit gut tat. Es lief nun alles auf einer sachlicheren Ebene ab, man schaute genauer hin, es ging mehr um eine Aufklärung von Verantwortlichkeiten statt um eine pauschale Schuldzuweisung. Wir hatten zunehmend ein Miteinander in der Kommission.
Welche Rolle spielten dabei die Künstler, die im Gremium mitarbeiteten – die Schriftsteller Christa Wolf, Christoph Hein, Jürgen Rennert und Daniela Dahn etwa oder die Schauspielerin Jutta Wachowiak und der Maler Manfred Butzmann?
Eine besonders gute und wichtige Rolle. Sie übernahmen eine Art Dolmetscherfunktion, weil sie auf beiden Seiten hohen Respekt genossen und deshalb vermitteln konnten. Sie gaben dem Diskurs zudem ein ethisch-moralisches Niveau, das dem Gegenstand angemessen war und ein Gleichgewicht hielt zwischen den beiden Polen in der Kommission. Ich weiß nicht, ob das so gut gelaufen wäre, wären die Künstler nicht dabei gewesen.
Was war aus heutiger Sicht der besondere Verdienst dieser Kommission?
Vor allem gelang es uns, den Opfern Genugtuung widerfahren zu lassen. Das war wichtig, das darf man nicht vergessen, denn es macht ja was mit Menschen, wenn sie so behandelt werden, wie sie da behandelt worden waren. Darüber hinaus aber ist es uns gelungen, einen gesellschaftlichen Diskurs zu führen. Wir sprachen miteinander, machten unsere politisch entgegengesetzten Positionen dem anderen verständlich. In unseren Diskussionen ging es immer auch um viel mehr als nur darum, wann wurde welcher Befehl erteilt und warum haben sich Polizisten so oder so verhalten oder wie wurden die scharf gemacht. Ein bisschen war diese Kommission schon die Nussschale, in der vorgeführt wurde, wie eine gesellschaftliche Verständigung der Ostdeutschen untereinander stattfinden kann. Wünschenswert wäre es gewesen, das hätte in dieser Zeit an vielen anderen Stellen auch so funktioniert, was manches vielleicht hätte anders werden lassen.
Quelle: Andreas Förster, "