Formen des Verschwörungsdenkens gab es immer, aber sie blieben zumeist randständig. In den letzten Jahren sind sie jedoch immer weiter in das Zentrum der Gesellschaft vorgerückt. Die Irritationen über die Hygienedemonstrationen und die Bewegung der Querdenker sind deshalb so groß, weil sie die Wissensgrundlage, auf deren Basis politische Konflikte ausgehandelt werden, weitgehend aufkündigen. Dass heutige Konflikte um die Frage nach der Deutung der Realität geführt werden, kommt allerdings nicht von ungefähr. Denn moderne Politik ist genau wie ihre Konflikte epistemisiert worden. Diese kreisen um die Frage, wer die richtigen Fakten auf seiner Seite hat.
Im Folgenden verschieben wir den häufig gebrauchten Zugriff auf die gegenwärtigen Bewegungen gegen die Corona-Maßnahmen, die zumeist als irrationale Rebellionen gegen gesichertes und legitimes Wissen dargestellt werden. Wir betrachten diese Konflikte zunächst als immanente Folge des gesellschaftlichen Wandels, genauer gesagt als paradoxale Nebenfolge spätmoderner Gesellschaften.
Die gegenwärtige Konjunktur des Verschwörungsdenkens ist aus unserer Sicht das Resultat eines längerfristigen sozialen Wandels zur Spätmoderne, der ein hochindividualisiertes Subjekt hervorgebracht hat, das, freigesetzt aus traditionalen Institutionen, sein Leben vermeintlich selbstbestimmt gestaltet, sich aber seiner sozialen und politischen Umwelt häufig ohnmächtig gegenübersieht. Dieses Subjekt stößt in der Corona-Pandemie nun auf zwei Grenzen, die sein Handeln limitieren und sein individuelles Selbstverständnis bedrohen: Erstens werden die Freiheitsgrade, die eine auf Wettbewerb und Konkurrenz beruhende Gesellschaft für es hervorgebracht hat, mit der Rückkehr des sichtbaren Staates in die alltägliche Lebensführung durch die Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie limitiert. Anders als die Unterklassen, für die der Staat schon zuvor in ihre Freiheitsgrade interveniert hat (etwa über Hartz IV), trafen die staatlichen Disziplinierungen nun auch jene Segmente der Mittel- und Oberklassen (insbesondere im kulturellen Bereich), für die der Staat zuvor Garant ihrer Freiheitsgrade war, und den sie in der alltäglichen Lebensführung allenfalls regulativ zu spüren bekamen.
Wie kam es dazu, dass sich das Subjekt, welches das emanzipatorische Potenzial spätmoderner Gesellschaften verkörpern sollte, gekränkt von ihnen abwendet, um sich vorwissenschaftlichen Wissensbeständen zuzuwenden, die stärker dem Gesetz "formelhafte[r] Wahrheit"
Nichtwissen und Aufstieg der Expert:innen
Der erste Aspekt betrifft den veränderten Stellenwert von Wissen in der modernen Gesellschaft. In der Risikogesellschaft, wie sie Ulrich Beck bereits 1986 hellsichtig nannte, geht "die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher (…) mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken".
Mit der Vergrößerung von Zivilisationsrisiken kommt es weder zu einer enormen "Wissenschaftsexpansion"
Die Akkumulation von immer mehr und immer neuem Wissen führt also zu einer gleichzeitigen Komplexitätssteigerung der Welt und zu einer Steigerung des individuellen Nicht-Wissen-Könnens. Als Kehrseite der fortwährenden Produktion von komplexem Wissen kann das Nichtwissen ganz unterschiedliche Formen annehmen: Es kann durch eine verfälschende oder selektive Rezeption (beispielsweise durch die Medien) verbreitet oder durch wissenschaftliche Irrtümer produziert werden, ein verdrängendes Nicht-Wissen-Wollen oder ein epistemisches Nicht-Wissen-Können sein.
In einer Pandemie findet zudem eine beschleunigte und ausgeweitete Politisierung statt. Vieles, was zuvor als relativ unpolitisch galt – etwa die allgemeine Versorgung mit Alltagsgütern oder bewusst politisch latent gehaltene Fragen der Gesellschaft (zum Beispiel die soziale Position systemrelevanter Beschäftigter) – rückt in die öffentliche Debatte. Der Staat reguliert den Alltag, Routinen und Wahlfreiheiten sind zum Teil außer Kraft gesetzt. In dieser Politik der Risikogesellschaft droht der "Ausnahmezustand zum Normalzustand zu werden".
Zahlen bringen Objektivität in die Welt, sie eliminieren Gefühle. Wissenschaftliche Objektivität ist jedoch auch immer sozial konstruiert, deshalb können Zahlen "zur Waffe [werden], mit der man andere, abweichende Stimmen zum Schweigen bringen kann".
Spätmoderne Freiheit und Unfreiheit
Das spätmoderne Individuum ist Resultat eines langen Emanzipationsprozesses. Seine Herauslösung aus traditionalen und disziplinierenden Loyalitäten und Institutionen, wie der traditionellen Familienstruktur oder Klassenverhältnissen, hat das Individuum bislang nicht gekannte Freiheitsgrade erlangen lassen. Es wurde materiell und geistig mobil, es genießt seit dem Beginn der modernen Gesellschaft einen wachsenden Grad an Autonomie in seiner Lebensführung und kann sich in einem nicht gekannten Maße selbst verwirklichen. Das Individuum in den westlichen Gesellschaften ist zwar freier als je zuvor – wenn man Freiheit in dem Sinne versteht, "kein Hindernis, keinen Widerstand im Weg zu haben, durch die eine gewünschte oder mögliche Bewegungsfreiheit beschränkt" wird.
Die zahlreichen Abhängigkeiten verdeutlichen, dass Autonomie und Freiheit des Individuums nach wie vor Begrenzungen unterliegen. Der Hauptwiderspruch des spätmodernen Individuums liegt darin begründet, dass es zwar über bisher nicht gekannte Freiheitsgrade und Autonomieressourcen verfügt, aber die Bedingungen, unter denen diese bereitgestellt werden, nicht kontrollieren kann.
Das spätmoderne Individuum muss zudem zunehmend ein hochkompetitives Subjekt sein, das sich selbst optimiert, das um knappe Ressourcen mit anderen konkurriert. Die institutionalisierte Wettbewerbsgesellschaft nimmt für sich in Anspruch, dass Leistung, Wertschätzung und Anerkennung die Zuteilungskriterien für Wohlstandsverteilung darstellen, löst diesen aber häufig nicht ein. Denn auch im freien Wettbewerb "verbergen sich Abhängigkeitsverhältnisse, die die Realität ausmachen".
Das gekränkte Subjekt
Das Versprechen von Autonomie und Selbstverwirklichung gehört neben dem Leistungsversprechen zum zentralen Arsenal der Selbstrechtfertigung spätmoderner Marktgesellschaften.
Woher kommen diese Kränkungen? Auf das Individuum bezogen erodieren und radikalisieren sich die Voraussetzungen der Versprechen auf Autonomie und Selbstverwirklichung in der Spätmoderne. Das Individuum muss kompetitiv sein, in sich selbst investieren, es muss autonom sein. Aber die Voraussetzung für diese Subjektivität – die sozialen Sicherheiten, die Stabilität der Sozialbeziehungen, die Institutionen – haben ihre Prägekraft verloren, sind fluider geworden.
Falsche Versprechen und gescheiterte Verwirklichungsversuche setzen nun ein Arsenal negativer Gefühle wie Enttäuschung, Frustration, Groll oder Ressentiment frei.
Kurzum, das spätmoderne Individuum ist herausgelöst aus traditionellen Netzwerken, es ist gesellschaftsabhängig und verhält sich kompetitiv gegenüber anderen. Dadurch ist es tendenziell narzisstisch und leicht zu kränken. Es ist damit – trotz des Fortschritts an Bildung und Aufklärung – in mehrfacher Weise gefährdet, Verschwörungsmythen anheimzufallen. Denn hierfür gibt es in der Regel zwei Gründe: Die Kompensation eines Kontrollverlustes und das Streben nach Einzigartigkeit.
Epistemische Gegengemeinschaft
Mit Bezug auf Alexis de Tocqueville analysiert Bauman das moderne Individuum als Feind des Bürgers, denn es kümmere sich nicht um das Gemeinwesen, den öffentlichen Raum, sondern privatisiere diesen zu seinem eigenen Nutzen. Weil die modernen Individuen kaum mehr etwas auf staatsbürgerliche Ideale gäben, würden sie ihr Engagement allein in affektive Gemeinschaften kanalisieren, die nichts anderes seien als "der Nagel, an dem eine Reihe vereinzelter Individuen vorübergehend ihre Ängste aufhängen".
Wir interpretieren die Zunahme konspirativer Denkmuster im Zuge der Corona-Pandemie in diesem Sinn als eine versuchte epistemische Resouveränisierung, die die Kränkungen des spätmodernen Subjekts kitten soll. Verschwörungstheoretische oder auch okkulte Welterklärungsmodelle kompensieren die Realität der Schranken und Entbehrungen, indem sie ein Fantasma der Souveränität über exklusive Wissensbestände konstituieren: Das Weltgeschehen ist intentional von dunklen Mächten gesteuert, von deren Existenz einzig privilegierte Individuen – Sehende oder Erwachte – wissen. Die von Corona-Skeptiker:innen neu formulierte Frage "But is it true?" stellt damit nicht nur den Wirklichkeitsgehalt eines noch unbekannten Risikos infrage, eben des Coronavirus, sondern mit ihm gleichfalls die staatlichen Machtbefugnisse, die das individuelle Handeln einschränken. Es ist augenscheinlich, dass die Demonstrationen der Querdenken-Bewegung ebenso wie widerständige Alltagspraktiken (beispielsweise die Maskenverweigerung) performativ Handlungsmacht herstellen.
Es greift daher zu kurz, die Affinität zum Verschwörungsdenken einseitig bei ungebildeten und unteren sozialen Klassen und Schichten zu verorten.
Als Gegenexpertise wird das Verschwörungsdenken gleichzeitig als ein Produkt einer Risikogesellschaft verstehbar, die in verstärktem Ausmaß vorläufiges Wissen und multiple Formen des Nichtwissens produziert, was die Legitimation von politischen Verordnungen angreifbar macht. Die strukturelle Unsicherheit, wie eine neue Situation zu beurteilen, wie auf sie angemessen zu reagieren sei, führt zu affektgeladenen Wissenskonflikten. Während das Expertenwissen durchaus seinen provisorischen Gehalt reflektiert, hält das Verschwörungsdenken an der letztlich rationalen Idee fest, dass Nichtwissen oder falsifizierbares Wissen als ein Mangel zu bewerten sei. Konspirative Erklärungsmodelle partizipieren an der Gegen-Definitionsmacht von sozialen Bewegungen und wollen die Bedrohung des Nicht-Wissen-Könnens in evidentes Gegenwissen transformieren. Denn gerade das Eingeständnis, nicht wissen zu können, greift die eigene Wissenssouveränität, die wir als typisch für das spätmoderne Subjekt erachten, existenziell an.
Fazit: Epistemische Kritik
Die Verbreitung verschwörungstheoretischer Narrative, so haben wir argumentiert, ist nicht der Ausdruck mangelnder Aufklärung, sondern das Resultat spätmoderner Individualisierung. Das spätmoderne Individuum ist verwundbar und leicht zu kränken. Es ist ferner anfällig für eine neue "neurotische Angst",
In der Öffentlichkeit wird immer noch nach dem richtigen Umgang mit den Anhänger:innen der Querdenker gesucht. Auch wenn die eigentliche Bewegung jetzt wohl verebben wird, bleiben die Entfremdung vom politischen System und ebenso die vielen Menschen, die Verschwörungsmythen anhängen. Während der vergangenen beiden Jahre hatten mehr als 20 Prozent der Bürger:innen Verständnis für die Proteste.
Das spätmoderne, für Verschwörungsnarrative offene Individuum hat maximale Partizipationsansprüche. Es überhöht sein eigenes Erfahrungswissen vor dem Wissen von Expert:innen. Zentrale Prinzipien moderner Demokratien sind ihm suspekt, weil sie es in seinen unbegrenzten Ansprüchen an Autonomie begrenzen: Repräsentation, Delegation, Verantwortung und Intermediatisierung durch Organisation. Deshalb erscheinen ihm alle Entscheidungen, an denen es nicht beteiligt ist, als Form einer Eliten-Konspiration. Der britische Ökonom William Davies schrieb noch vor der Corona-Pandemie: "Der Staat erscheint vielen als ein abgekartetes Spiel von Insidern. Für diese Kritiker ist der Unterschied zwischen Experte und Politiker zur Illusion geworden".
In der Verschwörungsepidemie ist aus einer staatsbürgerlich durchaus vernünftigen epistemischen Kritik ein epistemischer Widerstand geworden. Dieser ist jedoch nicht nur in seiner Offenheit nach rechts, in seinem Hang zu Verschwörungsnarrativen, demokratiepolitisch gefährlich. Denn hier steht eine Grundvoraussetzung der modernen Demokratie auf dem Spiel: in ihr hat jede "Auseinandersetzung (…) zur Voraussetzung, dass man in derselben Welt lebt".
Die Flut des Verschwörungsdenkens wird zwar nicht in gleichem Maße steigen wie der Meeresspiegel durch den Klimawandel, aber die Spätmoderne, so fürchten wir, ist eine systematische Triebfeder von Verschwörungsmentalitäten. Man darf zwar nicht übersehen, dass viele Individuen trotz dieser Voraussetzungen resilient gegenüber dem verschwörungstheoretischen Denken bleiben. Sie können sich in Krisen behaupten, weil sie als Individuum im sozialen Sinn anerkannt werden. Für eine Universalisierung dieser Form der sozialen Freiheit bräuchte es gleichwohl aber andere Institutionen, sodass die Menschen zusammen und mit anderen Individuen frei sein können – und nicht gegen sie.