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Verschwörungstheorien: Eine Einführung | Verschwörungstheorien | bpb.de

Verschwörungstheorien Editorial Verschwörungstheorien: Eine Einführung Sozialer Wandel, Sozialcharakter und Verschwörungsdenken in der Spätmoderne Verschwörungstheorien in sozialen Netzwerken am Beispiel von QAnon Zwischen Thrill und Paranoia. Verschwörungsfantasmen im Kino (und anderswo) "Reichsbürger" und Souveränismus Verschwörungsmythen und Antisemitismus Verschwörungserzählungen und politische Bildung

Verschwörungstheorien: Eine Einführung

Michael Butter

/ 18 Minuten zu lesen

Verschwörungstheorien gibt es seit der Frühen Neuzeit. War er bis in die 1950er hinein weit verbreitet und akzeptiert, so ist der Verschwörungsglaube heute ein Randphänomen. Daran hat die Pandemie nichts geändert – sie hat ihn nur sichtbarer gemacht.

Das Coronavirus existiert gar nicht, aber die Regierung schürt Panik, um unsere Grundrechte einzuschränken. Bill Gates steckt hinter der "Plandemie", um einen globalen Impfzwang durchzusetzen und so die Weltbevölkerung zu dezimieren. Vielleicht ist aber auch die 5G-Technologie für die Entstehung des Virus verantwortlich. Verschwörungstheorien sind derzeit in aller Munde. Ein signifikanter Teil der Bevölkerung glaubt an sie, und diejenigen, die nicht an sie glauben, betrachten sie mit wachsender Sorge.

Beides, der Glaube wie die Sorge, ist verständlich. Verschwörungstheorien erfüllen wichtige Funktionen für die Identität derjenigen, die an sie glauben. Sie schließen Zufall und Kontingenz aus und betonen stattdessen menschliche Handlungsmacht. Sie bedienen Vorstellungen von autonom handelnden Individuen, die besser ins 18. oder 19. Jahrhundert als in die Gegenwart passen. Zudem ermöglichen sie es, vermeintlich Schuldige zu identifizieren. Während in den klassischen Sündenbocktheorien meist Einzelpersonen aus der Gemeinschaft ausgestoßen werden, nehmen Verschwörungstheorien immer Kollektive ins Visier. Und gerade in Zeiten, in denen es (noch) nicht (wieder) normal ist, an solche Theorien zu glauben, ermöglichen es Verschwörungstheorien ihren Anhänger*innen, sich aus der Masse der Menschen hervorzuheben. Wer an Verschwörungstheorien glaubt, kann von sich behaupten, "aufgewacht" zu sein und erkannt zu haben, wie die Welt wirklich funktioniert, während die Mehrheit dies noch immer verkennt.

Auch die Sorge über Verschwörungstheorien ist berechtigt. Zwar sind nicht alle Verschwörungstheorien gefährlich und beileibe nicht alle Menschen, die an sie glauben. Doch Verschwörungstheorien können problematische Konsequenzen haben. Sie können Gewalt legitimieren, wie nicht zuletzt die Attentate von Halle und Christchurch gezeigt haben. Wer sich als Opfer eines globalen Komplotts sieht, kann sich dazu berufen fühlen, zur Waffe zu greifen. Medizinische Verschwörungstheorien sind darüber hinaus gefährlich, weil sie dazu führen können, dass man sich und andere unabsichtlich gefährdet. Wer denkt, dass das Coronavirus nicht existiert oder harmlos ist, hält Abstands- und Hygieneregeln weniger streng ein oder verletzt sie gar bewusst als Akt zivilen Ungehorsams. Schließlich können Verschwörungstheorien das Vertrauen in die Demokratie beschädigen. Wer meint, dass alle Politiker*innen unter einer Decke stecken, beteiligt sich vielleicht nicht mehr an Wahlen oder gibt seine Stimme den Populist*innen. Wer glaubt, dass eine demokratische Wahl gefälscht wurde, geht dagegen womöglich mit Gewalt vor, wie es am 6. Januar 2021 beim Sturm auf das Kapitol in Washington geschah.

Doch was genau sind eigentlich Verschwörungstheorien, und stimmt der Eindruck, dass sie immer populärer und einflussreicher werden? Diesen und verwandten Fragen widme ich mich in diesem Beitrag. Im ersten Teil definiere ich das Phänomen und grenze es konzeptuell von realen Verschwörungen und Fake News ab. Anschließend erörtere ich, warum der in der deutschen Öffentlichkeit umstrittene Begriff "Verschwörungstheorie" angemessen ist. Im dritten Teil skizziere ich kurz die Geschichte des verschwörungstheoretischen Denkens seit der Frühen Neuzeit. Dabei gilt mein besonderes Augenmerk dem Prozess der Stigmatisierung, den Verschwörungstheorien in der westlichen Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchlaufen haben, sowie der Rolle des Internets für ihre Verbreitung. Abschließend gehe ich kurz auf aktuelle Entwicklungen im Zuge der Corona-Pandemie ein.

Definition

Verschwörungstheorien behaupten, dass mächtige Akteure hinter den Kulissen einen perfiden Plan verfolgen und deshalb die Geschehnisse manipulieren. Michael Barkun zufolge zeichnen sich Verschwörungstheorien durch drei Grundannahmen aus: Sie gehen erstens davon aus, dass nichts durch Zufall geschieht, dass also alles geplant wurde. Zweitens behaupten sie, dass nichts so ist, wie es scheint, dass man also immer hinter die Fassade blicken muss, um zu erkennen, was wirklich geschieht. Und drittens nehmen sie an, dass alles miteinander verbunden ist, dass es Beziehungen zwischen Ereignissen, Personen und Institutionen gibt, die man nur erkennt und die nur Sinn ergeben, wenn man von einer großen Verschwörung ausgeht. "Alles" und "nichts" darf man allerdings nicht streng wörtlich nehmen. Natürlich behaupten auch Verschwörungstheoretiker*innen nicht, dass der Kaffee, den sie am Morgen trinken, Teil des Komplotts ist und seine Zubereitung daher von den Verschwörern orchestriert wurde. Vielmehr ist Barkuns Definition so zu verstehen, dass Verschwörungstheorien Planung, Heimlichkeit und Verkettung überbetonen. Der entscheidende Faktor, der Verschwörungstheorien von wissenschaftlichen Theorien unterscheidet oder von solchen, mit denen sich Menschen alltägliche Geschehnisse erklären, ist die Überbetonung des Intentionalismus. Indem sie davon ausgehen, dass Menschen ihre Absichten in kleinen Gruppen über Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte hinweg – man denke an Verschwörungstheorien zu den Illuminaten – in die Tat umsetzen können, transportieren sie ein antiquiertes Welt- und Menschenbild.

Die Überbetonung des absichtsvollen Handelns, das sich zudem reibungslos in die Tat umsetzen lässt, führt dazu, dass Verschwörungstheoretiker*innen explizit oder implizit immer die Frage "Cui bono?" – wem nützt das? – stellen. Denn in einer Welt ohne Zufall, ungewollte Nebenfolgen oder systemische Effekte müssen diejenigen, die von einem Ereignis oder einer Entwicklung vermeintlich profitieren, auch exakt diejenigen sein, die dafür verantwortlich sind. Verschwörungstheoretiker*innen beginnen somit in der Regel mit der Identifikation der Schuldigen und suchen danach nach Beweisen für deren Schuld. Dabei vernachlässigen sie alles, was gegen ihre Annahmen spricht, und konzentrieren sich höchst selektiv auf das, was ihre Behauptungen in irgendeiner Weise stützen kann. Ihr Vorgehen ist somit im höchsten Maße unwissenschaftlich. Fragen wie "Wer profitiert denn davon?" oder Aussagen wie "Es kann kaum Zufall sein, dass…" sind natürlich nicht immer unberechtigt. Oft jedoch markieren sie den Moment, an dem berechtigte Zweifel und legitime Kritik in Verschwörungstheorien umschlagen.

Der nahezu völlige Ausschluss des Zufalls markiert auch einen wichtigen Unterschied zwischen den imaginierten Komplotten der Verschwörungstheoretiker*innen und realen Verschwörungen. Letztere hat es immer gegeben und wird es vermutlich auch immer geben. Man denke an die Ermordung Julius Cäsars im Jahr 44 vor Christus und die versuchte Ermordung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny im August 2020. Beide Verschwörungen waren letztendlich erfolglos. Den römischen Verschwörern gelang es zwar, Cäsar zu töten, doch ihr eigentliches Ziel – die Staatsform der Republik zu bewahren – verfehlten sie. Es kam zum Bürgerkrieg, an dessen Ende Octavian zum Alleinherrscher wurde und so die Epoche des Kaisertums einläutete. "Die Verschwörer", so schrieb schon Karl Popper, "genießen nur selten die Früchte ihrer Verschwörung". Zufall und nichtintendierte Konsequenzen lassen sich nur selten ausschließen.

Schließlich sind Verschwörungstheorien von "Fake News" zu unterscheiden. Obwohl der Alltagsdiskurs beide Begriffe mitunter synonym gebraucht, handelt es sich um zwei unterschiedliche Phänomene. Fake News sind bewusst verbreitete Falschinformationen, die darauf abzielen, bestimmte Personen oder Institutionen zu diskreditieren, Verwirrung zu stiften oder andere Ziele zu erreichen. Anders als Verschwörungstheorien behaupten Fake News zum einen nicht zwangsläufig die Existenz einer Verschwörung; oft geht es ihnen "nur" um Diffamierung und Verleumdung. Vor allem aber sind Verschwörungstheoretiker*innen normalerweise absolut überzeugt davon, dass gerade sie dazu beitragen, der Wahrheit ans Licht zu verhelfen. Sie verbreiten also in der Regel nicht absichtlich falsche Informationen. Nur wenn man zynisch eine Verschwörungstheorie verbreitet, an die man selbst nicht glaubt, werden Verschwörungstheorien zu Fake News. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Version der Verschwörungstheorie vom "Großen Austausch", die behauptet, dass George Soros dieses Komplott orchestriert. Diese Verschwörungstheorie wurde von Beratern des ungarischen Premierministers Viktor Orbán erfunden, um mit Soros ein für weite Teile der ungarischen Bevölkerung anschlussfähiges Feindbild zu schaffen.

Begrifflichkeit

In einem zu Beginn der Corona-Pandemie erschienenen populärwissenschaftlichen Buch heißt es: "Der gängige Begriff der Verschwörungstheorie ist in letzter Zeit immer mehr kritisiert worden, da man hierbei nicht von Theorien im wissenschaftlichen Sinn sprechen kann." Das stimmt nicht. Im wissenschaftlichen Diskurs ist der Begriff völlig unumstritten. In der internationalen Forschung wird ausnahmslos von "conspiracy theories" gesprochen, und in jeder mir bekannten europäischen Sprache gibt es eine direkte Entsprechung. Eine Debatte über den Begriff wird nur im deutschsprachigen Raum geführt – und dort vor allem in den Medien und unter zivilgesellschaftlichen Akteur*innen. Zwar gibt es einzelne Wissenschaftler*innen, die den Begriff ablehnen, doch die große Mehrheit der Forschenden, die sich intensiv mit dem Thema beschäftigen, benutzt ihn weiterhin. Dafür gibt es gute Gründe, wohingegen die Ablehnung aus einem Missverständnis des Begriffs "Theorie" entwächst.

Wie der Philosoph Karl Hepfer erläutert, haben Verschwörungstheorien und wissenschaftliche Theorien viel gemeinsam. Beide versuchen, auf der Grundlage miteinander verknüpfter Annahmen – im Fall der Verschwörungstheorie: nichts geschieht durch Zufall; nichts ist, wie es scheint; und alles ist miteinander verbunden – Wissen über die Welt zu gewinnen. Wie wissenschaftliche Theorien auch liefern Verschwörungstheorien somit Antworten auf Erkenntnisfragen und ermöglichen ein "Verständnis der Welt". Sie erklären einerseits bereits Geschehenes und erlauben andererseits Vorhersagen über die Zukunft. Ob diese Grundannahmen sinnvoll sind und somit zutreffendes Wissen über die Welt generiert wird, ist für die Vergabe des Etiketts "Theorie" nicht von Belang, denn dieses bezieht sich nur auf den formalen Prozess der Welterklärung.

Ein weiteres Argument gegen den Begriff "Verschwörungstheorie" ist, dass Verschwörungstheorien, anders als wissenschaftliche Theorien, "nicht durch gegenteilige Beweise korrekturfähig", also nicht falsifizierbar seien. Auch dies stimmt nicht. Natürlich können Verschwörungstheorien widerlegt werden, und das geschieht auch regelmäßig. Wegen der offensichtlich problematischen Grundannahmen des konspirationistischen Denkens ist dies in der Regel auch gar nicht schwer. Das Problem ist allerdings, dass überzeugte Verschwörungstheoretiker*innen in den allermeisten Fällen selbst schlüssige Gegenbeweise nicht akzeptieren, sondern ignorieren, vermeintlich entkräften oder gar in Belege für ihre Verdächtigungen umzuwandeln versuchen. Das Problem ist in diesem Fall also nicht die Theorie, sondern das Verhalten derjenigen, die an sie glauben. Doch selbst dieses Verhalten unterscheidet sich keineswegs so radikal von dem derjenigen, die von bestimmten wissenschaftlichen Theorien überzeugt sind. Es mag nicht dem Idealbild von Wissenschaft entsprechen, aber in der Praxis haben auch seriöse Wissenschaftler*innen mitunter große Schwierigkeiten, zu akzeptieren, dass ihre Ideen widerlegt worden sind. Auch sie halten bisweilen an ihren Ansichten fest, obwohl die Fakten gegen sie sprechen.

Schließlich wenden diejenigen, die den Begriff "Verschwörungstheorie" ersetzen möchten, ein, dass er die Anhänger*innen oft absurder Ideen in problematischer Manier aufwerte. Das trifft jedoch nicht zu, da der Begriff hochgradig stigmatisiert ist: "The term ‚conspiracy theory‘ often acts as an insult itself. (…) Calling something a conspiracy theory is not infrequently enough to end discussion", wie Peter Knight bemerkt. Es verwundert daher nicht, dass es sogar eine Verschwörungstheorie zum Ursprung des Wortes "Verschwörungstheorie" gibt. Viele Verschwörungstheoretiker*innen behaupten, der Begriff sei vom US-Auslandsgeheimdienst CIA erfunden worden, um Kritik an der offiziellen Version des Attentats auf John F. Kennedy zu delegitimieren. Tatsächlich aber stammt er aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; seine heutige Bedeutung wurde von Karl Popper kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt.

Betont werden muss, dass diese Begriffsdiskussion keine rein akademische Fingerübung ist, sondern praktische Konsequenzen hat. Wer statt von "Verschwörungstheorien" von "Verschwörungsmythen", "Verschwörungsideologien" oder "Verschwörungserzählungen" spricht, verwendet Begriffe, die das allgemeine Wesen des Phänomens nur unzureichend erfassen und sich lediglich für bestimmte Verschwörungstheorien eignen. Wer dagegen von "Verschwörungstheorien" spricht, erkennt an, dass es Verschwörungstheoretiker*innen wie Nichtverschwörungstheoretiker*innen darum geht, die Welt zu verstehen. Während immer nur "die Anderen" Ideologien haben und Erzählungen glauben, wird so bei allen Unterschieden eine Gemeinsamkeit sichtbar. In Zeiten, in denen sich beide Lager immer misstrauischer beäugen, kann dieses Bewusstsein ein erster Schritt dahin sein, die Gräben zu schließen oder zumindest nicht zu groß werden zu lassen.

Geschichte

Verschwörungstheorien haben eine lange Geschichte, aber sie sind, anders als die frühe Forschung dachte, keine anthropologische Konstante. Erste Vorformen, die modernen Varianten sehr ähnlich sind, finden sich zwar bereits im antiken Athen und Rom. Von dort führt allerdings keine kontinuierliche Entwicklungslinie in die Gegenwart. Im Mittelalter gibt es lediglich Versatzstücke von Verschwörungstheorien. Wie Cornel Zwierlein gezeigt hat, entstehen erst mit dem Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit, also im 15. und 16. Jahrhundert, Verschwörungstheorien, die unserem modernen Verständnis entsprechen. Denn erst dann sind die Bedingungen gegeben, die diese benötigen: bestimmte Vorstellungen von menschlicher Handlungsfähigkeit (Menschen können der Welt ihren Willen aufdrücken, nicht Gott bestimmt alles) und Zeitlichkeit (die Verschwörung hat angeblich in der Vergangenheit begonnen und will ihre Ziele in der Zukunft erreichen), die medialen Bedingungen zur Verbreitung der Theorien (Buchdruck) und nicht zuletzt eine (zunächst vor allem lesende) Öffentlichkeit, in der Verschwörungstheorien zirkulieren können.

Anders als heute wurden Verschwörungstheorien damals nicht als Problem betrachtet. Von der Frühen Neuzeit bis in die 1950er Jahre waren Verschwörungstheorien in der gesamten westlichen Welt orthodoxes Wissen im Sinne der Wissenssoziologie, also von wissenschaftlichen und anderen gesellschaftlichen Autoritäten als valide und gültig erachtetes Wissen. Wie eine Reihe von Studien gezeigt hat, machten die Ideen der Zeit dies unausweichlich. So förderte das mechanistische Weltbild des 18. Jahrhunderts den Verschwörungsglauben. Gleiches gilt für die Überzeugung, dass die moralische Qualität einer Handlung immer derjenigen Intention entspreche, die diese Handlung motiviert habe. Daher glaubten Politiker wie Abraham Lincoln oder Winston Churchill und Intellektuelle wie Samuel Morse, der Erfinder des Telegraphen, oder Thomas Mann an Verschwörungstheorien, und diese hatten einen entsprechend großen Einfluss auf politische und andere Entscheidungen. Hätte es 1921 oder 1821 quantitative Erhebungen gegeben wie heute, hätte man mit großer Wahrscheinlichkeit in Europa und Nordamerika weit über 80 Prozent Zustimmung zu den gängigen Verschwörungstheorien der Zeit festgestellt. Weil Verschwörungstheorien so fest in der Mitte der Gesellschaft verankert waren, unterschied sich auch ihre Stoßrichtung von den heutigen Varianten. Während Verschwörungstheorien zumindest in der westlichen Welt heute vor allem ein Mittel der populistischen Elitenkritik sind, sich also primär gegen vermeintliche Verschwörer "von oben" richten, konzentrierten sie sich in der Vergangenheit vor allem auf angebliche Umstürzler "von unten", wie Freimaurer, Juden oder Kommunisten, auf "Verschwörer gegen die Sozialordnung". Solange Verschwörungstheorien fester Bestandteil von Elitendiskursen waren, richteten sie sich vor allem gegen marginalisierte Gruppen. Erst, als sie im Laufe des 20. Jahrhunderts an die Ränder der Gesellschaft wanderten, wurden sie zu einem Mittel der Elitenkritik.

Abbildung 1: Verschwörungsmentalität in Deutschland 2018/2019 (© bpb)

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde verschwörungstheoretisches Wissen in der westlichen Welt zunehmend problematisiert. Dieser Prozess der Stigmatisierung ist bisher nur für die USA detailliert nachgezeichnet worden. Es ist jedoch anzunehmen, dass er in Europa sehr ähnlich verlief, da die Effekte auch hier zu beobachten sind. Wie Katharina Thalmann gezeigt hat, war es vor allem das Einsickern sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in Alltagsdiskurse, das zur Delegitimierung konspirationistischen Wissens führte. Theodor Adorno und Leo Löwenthal, die vor den Nazis ins amerikanische Exil geflohen waren, beschäftigten sich unter dem Eindruck des Holocaust mit den potenziell fürchterlichen Auswirkungen von Verschwörungstheorien. Sie konzentrierten sich dabei auf die Psychopathologie der Verschwörungstheoretiker*innen und postulierten eine enge Verbindung zwischen der Neigung zum Totalitarismus und der zu Verschwörungstheorien. Gleichzeitig begannen Wissenschaftstheoretiker*innen wie Karl Popper, die Epistemologie von Verschwörungstheorien zu kritisieren. Verschwörungstheorien, so argumentierten sie, könnten die Welt nicht adäquat beschreiben, da sie viel zu einseitig menschliche Handlungsmacht betonten und nichtintendierte Effekte sowie die Eigenlogik sozialer Systeme und deren strukturelle Zwänge vernachlässigten.

Dieser zunächst innerakademische Diskurs wurde einige Jahre später von einer neuen Generation von Wissenschaftler*innen wie dem Soziologen Edward Shils oder dem Politikwissenschaftler Seymour Martin Lipset aufgegriffen. Ihnen ging es nicht mehr um den Totalitarismus in Europa, sondern um Argumente gegen die konspirationistische Anti-Kommunistenhetze in den USA. Ihre Schriften wurden von Journalist*innen rezipiert, die sich ebenfalls mit diesem Thema befassten, und so in die breite Öffentlichkeit getragen, wo sie schnell Wirkung entfalteten, sodass Verschwörungstheorien zunehmend als eine Gefahr für die amerikanische Demokratie begriffen wurden. Die Delegitimierung dieser Denkform gipfelte 1964 in Richard Hofstadters berühmtem Aufsatz über den "Paranoid Style in American Politics", in dem er die beiden Stränge der Kritik endgültig verschmolz und Verschwörungstheorien mit Geisteskrankheit assoziierte.

Verschwörungstheorien wanderten somit aus der Mitte der Gesellschaft an die Ränder, sie blieben jedoch auch in der westlichen Welt einigermaßen populär. Sie verschwanden zwar aus der Öffentlichkeit, wo sie nicht mehr akzeptiert wurden, zirkulierten aber weiterhin in Subkulturen. Verschwörungstheoretiker*innen hatten es dementsprechend schwer, ein breiteres Publikum zu erreichen. Oft mussten sie ihre Bücher im Selbstverlag herausbringen. Ihre alternativen Erklärungen entfalteten daher keine große Wirkung. Wer daran zweifelte, dass die Amerikaner tatsächlich auf dem Mond gelandet waren, musste viel Zeit und Mühe investieren, um alternative Erklärungen für diese Ereignisse zu finden. Oft blieb es deshalb bei Zweifeln, die sich nicht zu Verschwörungstheorien verfestigten.

Abbildung 2: Verschwörungsmentalität in Deutschland 2020/21 (© bpb)

Mit dem Internet hat sich die Situation wieder geändert. Für Verschwörungstheoretiker*innen ist es nun sehr leicht, ihre Ideen zu publizieren. Und wer einmal "9/11" oder "Impfen" googelt, findet je nach individuellem Suchalgorithmus spätestens auf der zweiten Seite der Ergebnisliste Links zu konspirationistischen Seiten. Das Internet erhöht somit zunächst einmal die Sichtbarkeit und Verfügbarkeit von Verschwörungstheorien. Hinzu kommt, dass Verschwörungstheoretiker*innen über das Internet viel besser vernetzt sind als früher und sich so leichter gegenseitig in ihren Überzeugungen bestärken können. Auch sind Gegenöffentlichkeiten mit eigenen Experten- und Mediensystemen entstanden. Das hat zur Folge, dass vermutlich wieder etwas mehr Menschen an Verschwörungstheorien glauben als vor dem Aufkommen des Internets. Es sind aber sicherlich deutlich weniger als vor hundert oder zweihundert Jahren. Es gilt noch immer, was Joseph Parent und Joseph Uscinski in ihrer quantitativen Studie zu amerikanischen Verschwörungstheorien konstatieren, für die sie unter anderem Leserbriefe an die Redaktionen großer Zeitungen von 1890 bis in die Gegenwart ausgewertet haben: "[W]e do not live in an age of conspiracy theories and have not for some time." Daran hat auch die Corona-Pandemie nichts geändert.

Corona

Psychologie und Politikwissenschaft versuchen seit einigen Jahren, die Verbreitung einer allgemeinen Verschwörungsmentalität zu bestimmen. Solche Studien sind einerseits aufschlussreich, andererseits aber mit Skepsis zu betrachten, da sie nicht bestimmen können, wie fest die geäußerten Überzeugungen und wie wichtig sie für die Identität der Befragten sind. Rechnet man verschiedene Umfragen gegeneinander auf, kommt man auf etwa ein Viertel bis maximal ein Drittel der Deutschen, das empfänglich für Verschwörungstheorien ist. Überzeugte Verschwörungstheoretiker*innen machen etwa 10 Prozent der Bevölkerung aus. Dies hat sich in der Pandemie nicht verändert, wie mehrere Studien zeigen, die ihre Daten im Sommer 2020 oder Frühjahr 2021 erhoben haben. Wenn überhaupt, hat der Glaube an Verschwörungstheorien seit Beginn der Pandemie in Deutschland abgenommen.

Das ist insofern nicht überraschend, da die in Deutschland populären Verschwörungstheorien zu Corona alle nicht neu sind. In den meisten Fällen wurde die Pandemie lediglich zum neuesten Kapitel bereits vorher existierender Verschwörungstheorien zum Impfen, zur angeblichen Abschaffung der Grundrechte, zur 5G-Technologie oder zum "Großen Austausch". Dass viele Beobachter*innen zunächst von einem Anstieg ausgingen, ist dennoch verständlich. Zum einen wissen wir aus der psychologischen Forschung, dass Menschen, die Ambivalenzen oder Unsicherheit schlecht akzeptieren können oder sich ohnmächtig fühlen, besonders empfänglich für Verschwörungstheorien sind. Und die Coronakrise war und ist natürlich eine Zeit der fundamentalen Unsicherheit für uns alle, insbesondere in den Wochen des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020, als die Verschwörungstheorien zum Thema entstanden. Zum anderen mussten viele Menschen im Verlauf des letzten Jahres erkennen, dass Verschwörungstheorien auch in ihrem Familien- und Freundeskreis Anklang finden.

Man darf jedoch stärkere Sichtbarkeit nicht mit zunehmender Popularität verwechseln. Der sicherste Indikator dafür, dass jemand an eine Verschwörungstheorie glaubt, ist, dass er bereits an andere solche Theorien glaubt. Nur fällt dies oft nicht auf. Die meisten Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, sind nicht psychisch krank, wie man früher vermutete, sondern ganz normal. Sie wissen, dass ihre Überzeugungen von vielen, mit denen sie täglich zu tun haben, abgelehnt werden. Entsprechend behalten sie ihre Ansichten für sich und äußern sie nur unter Gleichgesinnten. Selbst ein Thema wie das Impfen, das handfeste Auswirkungen auf das eigene Leben hat, kann im Gespräch mit Freund*innen und Familie normalerweise ausgespart werden. Die Coronakrise dagegen macht aufgrund der vielfältigen Einschränkungen des sozialen Lebens eine ständige Positionierung notwendig – gerade im Umgang mit Freund*innen und Familienangehörigen. Noch immer – Stand: Juni 2021 – gibt es für viele Menschen kaum ein anderes Thema. Gerade im Privaten ging es bis vor kurzem (und eventuell bald wieder) meist um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen man sich überhaupt treffen konnte. Das führte zwangsläufig dazu, dass diejenigen, die die Kontaktbeschränkungen als Teil eines Komplotts sehen, dies auch sagten. Das mag bei vielen Menschen den Eindruck erweckt haben, dass es plötzlich auch in ihrem Umfeld Verschwörungstheoretiker*innen gibt. Das ist nicht unbedingt falsch, denn bestimmt haben einige Menschen Verschwörungstheorien erst durch Corona entdeckt. In den allermeisten Fällen aber, das belegen die Zahlen, glaubten Kolleg*innen, Freund*innen und Verwandte schon vorher an Verschwörungstheorien; man wusste es nur nicht.

Abbildung 3: Verschwörungsmentalität in Deutschland 2020/21 (© bpb)

Zu der Wahrnehmung, dass der Glaube an Verschwörungstheorien in der Krise sprunghaft zugenommen habe, hat auch die große Aufgeregtheit beigetragen, mit der das Thema mitunter diskutiert wird. Anders als während der Krim-Krise von 2014 oder der "Flüchtlingskrise" ein Jahr später, wo erst nach einigen Monaten intensiver über die zirkulierenden Verschwörungstheorien berichtet wurde, taten Journalist*innen dies beim Thema Corona viel früher. Das lag einerseits an einer begrüßenswerten Sensibilisierung für das Thema aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre. Es hatte aber sicher auch damit zu tun, dass das öffentliche Leben im März 2020 vollständig zum Erliegen kam und Journalist*innen nach ein paar Tagen nach neuen Perspektiven auf das einzige Thema suchten, das es für viele Wochen gab. Die sogenannten "Hygienedemos" gegen die Kontaktbeschränkungen, die bereits Ende März begannen, die bundesweite "Querdenken"-Bewegung mit ihrer problematischen Nähe zur Neuen Rechten und die Impf-Verschwörungstheorien, die 2021 zunehmend dominant wurden, befeuerten die Sorgen der Öffentlichkeit.

Diese Sorgen sind – wie gesagt – nicht unberechtigt. Der Glaube an Verschwörungstheorien kann gefährliche Folgen haben, aber es gibt keinen Grund, in Panik zu verfallen, wie dies im öffentlichen Diskurs bisweilen geschieht. Verschwörungstheorien sind Teil aller modernen Gesellschaften seit der Frühen Neuzeit, und bis vor wenigen Jahrzehnten waren sie noch viel populärer und akzeptierter als heute. Ihre große Sichtbarkeit in der Gegenwart ist vor allem eine Folge der Skepsis, mit der sie in Deutschland – die USA sind ein anderes Thema – noch immer von der breiten Mehrheit und fast allen politischen Entscheidungsträger*innen betrachtet werden. Die Coronakrise hat dies nicht geändert; sie hat vielmehr zu einer noch größeren Sensibilisierung der Öffentlichkeit geführt. Auf vielen Ebenen werden derzeit Maßnahmen zur Eindämmung von Verschwörungstheorien diskutiert. Daher kann man verhalten optimistisch sein, dass der Glaube an sie in den nächsten Jahren eher ab- als zunehmen wird. Verschwinden wird er allerdings nie.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für eine ausführlichere Darstellung siehe Michael Butter, "Nichts ist, wie es scheint". Über Verschwörungstheorien, Berlin 2018, S. 105–114.

  2. Da Verschwörungstheorien fast immer nur Männer als Strippenzieher identifizieren, wird im Folgenden nur die männliche Form verwendet, wenn es um die angeblichen Drahtzieher geht.

  3. Vgl. Michael Barkun, A Culture of Conspiracy. Apocalyptic Visions in Contemporary America, Berkeley–Los Angeles 2003, S. 3f.

  4. Für eine detailliertere Diskussion der verschwörungstheoretischen Argumentation siehe Butter (Anm. 1), S. 57–101.

  5. Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, Tübingen 2003, S. 111.

  6. Siehe Kiril Avramov/Vasily Gatov/Ilya Yablokov, Conspiracy Theories and Fake News, in: Michael Butter/Peter Knight (Hrsg.), Routledge Handbook of Conspiracy Theories, London 2020, S. 512–524.

  7. Vgl. Hannes Grassegger, The Unbelievable Story of the Plot Against George Soros, 20.1.2019, Externer Link: http://www.buzzfeednews.com/article/hnsgrassegger/george-soros-conspiracy-finkelstein-birnbaum-orban-netanyahu.

  8. Katharina Nocun/Pia Lamberty, Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen, Köln 2020, S. 21.

  9. Karl Hepfer, Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft, Bielefeld 2015, S. 26.

  10. Armin Pfahl-Traughber, Bausteine zu einer Theorie über "Verschwörungstheorien". Definition, Erscheinungsformen, Funktionen und Ursachen, in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Verschwörungstheorien. Theorie – Geschichte – Wirkung, Innsbruck 2002, S. 30–44, hier S. 32.

  11. Siehe hierzu ausführlicher Butter (Anm. 1), S. 54ff.

  12. So zum Beispiel Ingrid Brodnig, Einspruch! Verschwörungsmythen und Fake News kontern – in der Familie, im Freundeskreis und online, Wien 2021.

  13. Peter Knight, Conspiracy Culture. From Kennedy to The X Files, London 2000, S. 11.

  14. Siehe Michael Butter, There’s a Conspiracy Theory That the CIA Invented the Term ‚Conspiracy Theory‘ – Here’s Why, 16.3.2020, Externer Link: http://www.theconversation.com/theres-a-conspiracy-theory-that-the-cia-invented-the-term-conspiracy-theory-heres-why-132117.

  15. Vgl. Andrew McKenzie-McHarg, Conspiracy Theory. The Nineteenth-Century Prehistory of a Twentieth-Century Concept, in: Joseph Uscinski (Hrsg.), Conspiracy Theories and the People Who Believe Them, Oxford 2019, S. 62–81.

  16. Siehe Michael Butter, Nennt sie beim Namen!, 28.12.2020, Externer Link: http://www.zeit.de/gesellschaft/2020-12/verschwoerungstheorien-corona-krise-wort-des-jahres-2020.

  17. Siehe zum Beispiel Ute Caumanns/Mathias Niendorf (Hrsg.), Verschwörungstheorien. Anthropologische Konstanten – Historische Varianten, Osnabrück 2001.

  18. Vgl. Cornel Zwierlein, Security Politics and Conspiracy Theories in the Emerging European State System (15th/16th c.), in: Historical Social Research/Historische Sozialforschung 1/2013, S. 69–95.

  19. Zum wissenssoziologischen Ansatz siehe Andreas Anton, Unwirkliche Wirklichkeiten. Zur Wissenssoziologie von Verschwörungstheorien, Berlin 2011.

  20. Siehe z.B. Gordon Wood, Conspiracy and the Paranoid Style. Causality and Deceit in the Eighteenth Century, in: The William and Mary Quarterly 3/1982, S. 402–441; Ralf Klausnitzer, Poesie und Konspiration. Beziehungssinn und Zeichenökonomie von Verschwörungsszenarien in Publizistik, Literatur und Wissenschaft 1750–1850, Berlin 2007.

  21. Vgl. Johannes Rogalla von Bieberstein, Der Mythos von der Verschwörung. Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung, Bern 1976.

  22. Siehe hierzu ausführlich Katharina Thalmann, "A Plot to Make Us Look Foolish." The Stigmatization of Conspiracy Theory, London 2019.

  23. Siehe Richard Hofstadter, The Paranoid Style in American Politics, in: ders., The Paranoid Style in American Politics and Other Essays, Cambridge 1996, S. 3–40.

  24. Vgl. hierzu sowie zur im Folgenden diskutierten Rolle des Internets ausführlich Butter (Anm. 1), S. 182–190.

  25. Joseph Parent/Joseph Uscinski, American Conspiracy Theories, New York 2014, S. 110f.

  26. Für eine ausführliche Kritik an der quantitativen Methodik siehe Michael Butter/Peter Knight, Bridging the Great Divide. Conspiracy Theory Research for the 21st Century, in: Diogenes 3–4/2015, S. 17–29.

  27. Siehe u.a. die beiden letzten "Mitte-Studien" der Friedrich-Ebert-Stiftung: Andreas Zick et al. (Hrsg.), Verlorene Mitte, feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19, Bonn 2019; Andreas Zick/Beate Küpper (Hrsg.), Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21, Bonn 2021.

  28. Siehe Karen Douglas et al., Understanding Conspiracy Theories, in: Advances in Political Psychology S1/2019, Externer Link: DOI: 10.1111/pops.12568.

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ist Professor für amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen. E-Mail Link: michael.butter@uni-tuebingen.de