Im biografischen Handbuch „Todesopfer des DDR-Grenzregimes“
1. Die Selbsttötungsrate in den Grenztruppen der DDR war nicht höher als in der Nationalen Volksarmee (NVA).
2. Die Selbsttötungsrate in der NVA war nicht höher als die der vergleichbaren zivilen Altersgruppe.
3. Ein Einfluss DDR-spezifischer politischer und gesellschaftlicher Faktoren auf die Selbsttötungshäufigkeit ist kaum nachweisbar.
Ich verstehe Staadts Kritik als Anregung, meine Ergebnisse noch einmal zu überprüfen und zu überdenken. Bevor ich damit beginne, möchte ich mein Verständnis der Selbsttötungsproblematik darlegen, da Jochen Staadt und seine Co-AutorInnen einige meiner auf medizinischen Studien beruhenden Aussagen offenbar irritiert haben, wie der Verweis darauf, dass in der Kindheit erlittene seelische Verletzungen ein weitaus stärkeres Potenzial für die Ausprägung von Suizidalität haben als spätere Lebenskonflikte.
Ich habe während der Arbeit an meinem Buch ein "Nebenstudium" in Suizidologie
Das gesellschaftliche Umfeld kann aber auch bewirken, dass sich der übliche Kreis der Suizidenten erweitert und dass Menschen, die nur eine sehr schwache Neigung zu Verzweiflungshandlungen haben, und unter normalen Umständen keinen Suizid begehen würden, sich das Leben nehmen. Das kann entweder in Krisenzeiten oder in extrem repressiven Regimen geschehen. Ein klassisches Beispiel für die erste Möglichkeit sind die Selbsttötungen während der Zeit der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre, ein eindrückliches Beispiel für die zweite Möglichkeit sind die massenhaften Selbsttötungen von Juden in Reaktion auf die nationalsozialistische Politik der Erniedrigung und Vernichtung. Solche außergewöhnlichen Phasen sind als „Selbsttötungswellen“ in den Statistiken sichtbar.
Daneben gibt es auch langfristige strukturelle Faktoren, die zu höherer Suizidalität in bestimmten sozialen Systemen führen können. Diese konkret zu bestimmen, ist allerdings außerordentlich schwierig. So wurde in Sachsen, Thüringen und anderen ostdeutschen Regionen über viele Jahrzehnte hinweg (im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und in der DDR) eine höhere Selbsttötungsrate registriert als in vergleichbaren westdeutschen und eher katholisch geprägten Regionen wie dem Rheinland oder Bayern. Unterschiede in der regionalen Mentalität, die wiederum in engem Zusammenhang mit konfessionellen Prägungen stehen, spielen hier offenbar eine Rolle, aber die Ursachenforschung ist keineswegs abgeschlossen.
Die Suizidalität der Grenztruppen der DDR, um die es im Folgenden geht, ist ein Teilaspekt dieses größeren Problems. Die Frage lautet, ob die spezifischen Umstände des Militärdienstes an der Grenze zwischen DDR und Bundesrepublik Deutschland bzw. West-Berlin die Zahl der Suizidenten über das normale Maß hinaus erhöht haben. Jochen Staadt hat massive Zweifel hinsichtlich meines Untersuchungsergebnisses, dass die Selbsttötungsrate der Angehörigen der Grenztruppen sich nicht wesentlich von anderen Bereichen der NVA sowie von der Selbsttötungsrate der vergleichbaren zivilen Altersgruppe unterschied. Er verweist darauf, dass sich im Zuge von Recherchen für das biografische Handbuch über die Todesopfer des DDR-Grenzregimes gezeigt habe, dass bei den Grenztruppen angeblich knapp ein Viertel der Selbsttötungen im Zusammenhang mit dienstlichen Konflikten stand.
Hier müssen zunächst zwei Dinge analytisch auseinandergehalten werden:
Zum einen ist da die Frage, ob es in der NVA Selbsttötungen geben hat, die durch dienstliche Konflikte mitverursacht wurden. Das Forscherteam glaubt, dass ca. 22 Prozent der Selbsttötungen bei den Grenztruppen im Zusammenhang mit dem Dienst im Militär standen. Staadt schreibt über diese Suizidfälle, die in das biografische Handbuch aufgenommen wurden: „Viele von ihnen verrichteten diesen Dienst nicht aus freiem Willen, manche zerbrachen daran. Auch ihnen wurde das DDR-Grenzregime zum tödlichen Verhängnis.“ Das mag für Einzelfälle gelten. Allerdings finden sich, so hat auch Michael Kubina 2020 in einer Replik auf Staadt festgestellt, „bei den allermeisten Fällen bei Schroeder/Staadt keine hinreichenden Belege dafür, dass die ‚dienstlichen Probleme‘, wenn sie denn überhaupt ursächlich für den Suizid waren, auch grenzspezifischer Art waren.“
Die daraus resultierende korrigierte Zahl von 12 Prozent stimmt mit den in zivilen Motivstatistiken enthaltenen Prozentzahlen für berufliche Konflikte (ein bis drei Prozent) oder „Angst vor Strafe“ (vier bis zwölf Prozent) als Suizidmotiv in der DDR überein.
Für die zur Diskussion stehende Höhe der Selbsttötungsrate bei den Grenztruppen ist ohnehin eine andere Frage entscheidend, nämlich die, ob dienstbezogene Konflikte insgesamt zu mehr Selbsttötungen als unter den „normalen“ Bedingungen der SED-Diktatur geführt haben. Staadt stellt meine diesbezüglichen Berechnungen, die im Jahr 2006 ergeben haben, dass das nicht der Fall ist, mit zwei Einwänden in Frage. Zum einen glaubt er, dass die von mir gewählte zivile Vergleichsgruppe nicht gut gewählt sei. Zum anderen verweist er darauf, dass die Selbsttötungsrate bei der NVA in einzelnen Jahren höher war als im zivilen Bereich. Das nehme ich zum Anlass, um sowohl Staadts Berechnungen als auch meine eigenen Ergebnisse auf den Prüfstand zu stellen.
Die Wahl der Vergleichsgruppe
Jochen Staadt hält die von mir getroffene Wahl der Vergleichs-Kohorte (20- bis 24-jährige Männer) der DDR-Selbsttötungsstatistik für problematisch.
Hier zeigt sich in der Tat ein Versäumnis meiner Darstellung. Ich hätte explizit begründen müssen, weshalb ich diese Vergleichsgruppe gewählt habe. Bevor ich das gleich nachhole, kurz zu Staadts Vorgehensweise: Er weist zu Recht darauf hin, dass Wehrdienstleistende in der Regel mit 18 oder 19 Jahren zum Dienst eingezogen wurden. Um die Selbsttötungsrate der Soldaten zu ermitteln, schätzt er, dass etwa ein Drittel der Suizide von Wehrdienstleistenden verübt wurden. Auch wenn diese Zahl nicht begründet wird, erscheint sie mir akzeptabel.
Diese Annahme ist allerdings unzutreffend, da die Suizidwahrscheinlichkeit generell mit dem Alter ansteigt, wobei dieser Anstieg in der Gruppe der 15- bis 19-Jährigen noch stärker als in der folgenden Fünfjahreskohorte ist. Wenn Staadt also den Durchschnitt der 15 bis-19-Jährigen bildet, unterschätzt er die Suizidrate der 19-Jährigen im Zivilleben. Wenn Staadt er also bei seiner Stichprobe vom Jahr 1969 zu dem Ergebnis kommt, dass Suizidhäufigkeit in NVA und Zivilleben etwa gleich hoch waren, dann handelt es sich hier um eine Überschätzung der Selbsttötungsrate im Militär.
Würde man die altersabhängig ansteigende Suizidwahrscheinlichkeit mit berücksichtigen, müsste man folgern, dass die Suizidhäufigkeit im Militär der DDR etwas geringer war als im Zivilleben. Methodisch angemessener wäre gewesen, den Durchschnitt der 16 bis 25-Jährigen als Vergleichswert zu nutzen. Auch dieser Wert wäre wegen der Altersabhängigkeit noch etwas zu niedrig, würde aber zur Abschätzung der ungefähren Suizidwahrscheinlichkeit der 19 bis -20-Jährigen die bestmöglichen Ergebnisse liefern.
Warum habe ich das in meiner eigenen Untersuchung dann nicht so gemacht? Ich habe Staadts Einwände genutzt, um mein eigenes Vorgehen in der Frage der Vergleichsgruppe selbstkritisch unter die Lupe zu nehmen, und leicht zu revidieren. Zu Selbsttötungen in den Grenztruppen liegen mir Stichproben aus den Jahren 1977 und 1988 vor. Das Durchschnittsalter der durch Selbsttötung verstorbenen Angehörigen der Grenztruppen liegt in der ersten Stichprobe bei 26 und, in der zweiten bei 31 Jahren. Angemessener wäre es daher, statt der von mir gewählten Vergleichs-Altersgruppe der 20- bis 24-jährigen Männer eine ältere Kohorte, oder aber den Mittelwert aus, sagen wir, den Suizidraten der 20- bis 35-jährigen Männer zu nehmen. In beiden Fällen wäre der Vergleichswert aus dem zivilen Bereich höher, das heißt, die Werte des militärischen Bereichs würden im Vergleich noch geringer erscheinen. Angesichts dessen könnte ein strenger Kritiker mir das genaue Gegenteil von dem vorwerfen, was Staadt im Sinn hat. Durch die Wahl der Vergleichsgruppe der 20- bis 24-Jährigen habe ich die Selbsttötungshäufigkeit inder der NVA leicht überschätzt. Ein milde gesonnener Kritiker würde demgegenüber vielleicht zugestehen, dass damit die leichte Untererfassung der Selbsttötungen (Dunkelziffer) kompensiert würde.
Wie hoch war die Dunkelziffer?
Die Frage nach der Dunkelziffer ist bei statistischen Berechnungen von grundlegender Bedeutung. Staadt geht diese Frage recht forsch an und postuliert eine Dunkelziffer von 100 bis 150 Prozent. Eine faktenbasierte Begründung für diesen extrem hohen Wert liefert er nicht. Dass Suizide in Todesursachenstatistiken unterrepräsentiert sind, ist ein globales Phänomen.
Wenngleich der SED-Staat die Melde- und Registrierungsmechanismen der preußischen Staatsbürokratie fortführte, - weshalb die Suizidstatistik der DDR im internationalen Vergleich (inklusive der Bundesrepublik) recht gute Ergebnisse lieferte -, gab es auch in der SED-Diktatur eine Dunkelziffer. Eine Geheimstudie ermittelte im Jahr 1977 eine statistische Nichterfassung von Selbsttötungen im Bereich zwischen 9 und 29 Prozent
Hinsichtlich der Selbsttötungen im militärischen Bereich der DDR habe ich zudem bei meinen eigenen Untersuchungen festgestellt, dass die Zahlenangaben des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die mir Bernd Eisenfeld
Ich habe allerdings (ebenso wie Staadt) keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die DDR-übliche Dunkelziffer (in der Größenordnung von 25 Prozent) bei den Grenztruppen überschritten wurde. Staadt äußert lediglich den Verdacht, dass „militärische Vorgesetzte Selbsttötungen als Schusswaffenunfälle kaschierten, um ihre eigene Mitverantwortung zu verdecken“. In meiner Stichprobe zu Selbsttötungen in den Grenztruppen im Jahr 1988 ist tatsächlich ein Fall enthalten, der offiziell als Unfall deklariert wurde. Zudem habe ich den gemeldeten 11 Fällen noch einen hinzugefügt, den mir ein Zeitzeuge glaubwürdig berichtete. Dass es über solche Einzelfälle hinaus zu Vertuschungen von zahlreichen Suiziden gekommen ist, erscheint mir allerdings, nachdem ich gezielt danach gesucht habe, als ausgesprochen unwahrscheinlich.
Erhöhte Einzelwerte
Das zweite wichtige Argument von Staadt verweist auf einzelne Jahre mit erhöhten Suizidraten in der NVA. Genau genommen handelt es sich hierbei um Zufallsschwankungen. Basierend auf Staadts Überlegungen betrug beispielsweise die geschätzte Suizidrate der 18 bis- 19-jährigen Soldaten im Jahr 1979 ca. 170 Prozent der zivilen Rate, im Jahr 1980 hingegen nur 60 Prozent. Solche Schwankungen treten bei einer auf sehr kleinen Zahlen beruhenden Statistik häufig auf.
Auch ich bin in dem von mir verwendeten statistischen Material der NVA (Kollegiumsberichte) auf einzelne Jahre mit erhöhten Selbsttötungsraten gestoßen. Für die 1960er Jahre gibt es einen Bericht über die Stadtkommandantur Berlin, also die Grenztruppen an der Grenze zu Westberlin, der für den Zeitraum 1.12.1964 bis 30.11.1965 insgesamt sieben Selbsttötungen vermerkt, was bei einer Truppenstärke von 15.000 Mann eine hohe Selbsttötungsrate von 46,7 ergibt.
Andererseits ist es in Einzelfällen durchaus sinnvoll, nach Ursachen für vorübergehend häufigere Suizidhandlungen zu fragen. Ein Beispiel bietet das Jahr 1962. Allerdings betrifft das nur die Zahl der registrierten Selbsttötungsversuche, die unmittelbar nach dem Mauerbau und zeitgleich mit der Einführung der Wehrpflicht mit 28 deutlich höher als in den Folgejahren ausfiel. Tatsächlich tödliche Suizide wurden zehn gemeldet, was aus meiner Sicht keine dramatisch hohe Zahl darstellt.
Selbsttötung im Wehrdienst
Staadt zweifelt darüber hinaus auch meine Feststellung an, dass die Besonderheiten und Zwänge des Militärdienstes nicht zu Selbsttötungen in statistisch relevantem Ausmaß geführt, und dass auch Drangsalierungen im Zuge der ‚EK-Bewegung‘
Ich sehe durchaus, dass angesichts der Bemühungen von Armee und MfS, alle Selbsttötungen als Resultat von Krankheit oder privaten Problemen darzustellen, bei der Auswertung der staatlichen Akten große Skepsis geboten ist. Es ist davon auszugehen, dass vieles vertuscht wurde. Aber das berechtigt nicht, in das andere Extrem zu verfallen, und die todbringenden Effekte des Wehrdienstes zu überschätzen. Berechnet man, wie ich das bereits in meinem Buch getan habe, stichprobenartig die spezifischen Selbsttötungsraten pro Dienststellung, dann zeigen sich große Unterschiede. Für den Zeitraum Mitte 1972 bis Mitte 1973 zum Beispiel ergeben sich abgeschätzte Selbsttötungsraten von 43 für die Offiziere, 39 für die Unteroffiziere und 18 für die Soldaten. Für den Zeitraum Mitte 1987 bis Mitte 1988 lauten die entsprechenden Zahlen: 47 (Offiziere), 31 (Unteroffiziere) und 22 (Soldaten).
Da die Selbsttötungswahrscheinlichkeit mit dem Alter ansteigt, dürften diese Zahlen vor allem den Altersunterschied von Soldaten und Offizieren reflektieren. Lediglich die Suizidrate der Unteroffiziere, die ja zumeist auch erst Anfang 20 sind, erscheint leicht erhöht. Hier könnten dienstliche Konflikte durchaus eine Rolle gespielt haben.
Angesichts dieser Befunde erscheinen – ich muss es so hart formulieren – aus meiner Sicht alle von Staadt formulierten Einwände und Zweifel als unberechtigt. Wie aber ist dann die Tatsache, dass die Häufigkeit von Selbsttötungen bei den Grenztruppen (und in der NVA) nicht erhöht war, mit der Beobachtung zu vereinen, dass bei jeder vierten Selbsttötung dienstliche Konflikte eine Rolle spielten? Heißt das nicht, dass die spezifischen Kontextbedingungen des Militärs durchaus dazu beitrugen, dass sich junge Männer das Leben nahmen? Und zwar bei fast einem Viertel aller Selbsttötungen?
Die letzten beiden Fragen beantworte ich eindeutig mit Ja. Aber ich interpretiere die Situation bei der NVA so, dass es hier zu einer Substitution von Konflikten gekommen ist. Dass die Häufigkeit von Selbsttötungen bei der NVA nicht höher als im Zivilbereich war, kann nur bedeuten, dass die Konflikte bei der NVA keine stärkere, über das normale Maß der SED-Diktatur hinausgehende suizidogene Wirkung hatten, sondern dass sie nur das Äquivalent für soziale Konflikte in anderen Bereichen der Gesellschaft darstellten.
Noch kurz zur Bundeswehr, weil Staadt diesen Aspekt auch kurz anreißt. Klaus-Jürgen Preuschoff hat in seiner Studie zu Selbsttötungen in der Bundeswehr gezeigt, dass die Unterschiede der Selbsttötungsrate von jungen Männern im Militär und im zivilen Bereich größer waren als in der DDR. Preuschoff zufolge waren die jeweils für Fünfjahresperioden berechneten durchschnittlichen Selbsttötungsraten zwischen 1957 und 1981 in der Bundeswehr erheblich geringer (15 bis 19) als die in der Vergleichsgruppe der 20- bis 24-.jährigen Männer (27 bis 29).
Fazit
Mit dem Kapitel über Suizide in den Grenztruppen hat sich das „biografische Handbuch“ aus meiner Sicht einen Bärendienst erwiesen. Die Selbsttötungshäufigkeit in der NVA, und auch in den Grenztruppen, war nicht höher als im zivilen Bereich der DDR. Die Selbsttötungsproblematik ist zu komplex, als dass sie sich als Waffe im Kampf um eine möglichst dramatische Stilisierung der DDR als totalitärer Diktatur eignet. Das Leben in der DDR war in vielerlei Hinsicht bedrückend und belastend, aber die hohe Selbsttötungsrate kann man den SED-Funktionären nicht zur Last legen. Ebenso ist die sinkende Selbsttötungsrate Ostdeutschlands nach 1990 kein Resultat der Einführung von Marktwirtschaft und Demokratie, wie das Staadt zu glauben scheint. Ich hätte mir gewünscht, dass Staadt mein „häufig als Standardwerk zitiertes Buch“ etwas gründlicher studiert hätte. Dort hätte er lesen können, dass die Angleichung der Selbsttötungsraten in Ost- und Westdeutschland keineswegs erst mit dem Ende der DDR begann. Wie die nach Altersgruppen aufgeschlüsselten Statistiken zeigen, waren die Suizidraten der nach 1949 Geborenen bereits seit 1970 in Ost- und Westdeutschland nahezu gleich.
Dass die Angleichung erst zu dieser Zeit in den Statistiken sichtbar wurde, war ein Kohorteneffekt. Da ältere Jahrgänge eine sehr viel höhere Suizidwahrscheinlichkeit haben als jüngere Menschen, haben die vor 1949 geborenen Kohorten die DDR-Suizidstatistik noch bis in die 1980er Jahre dominiert, und eine bereits zwanzig Jahre zuvor einsetzende Trendwende verdeckt. Warum die in der DDR geborenen Kohorten die seit dem 19. Jahrhundert nachweisbare „Tradition“ höherer Selbsttötungsraten in Ostdeutschland nicht fortgesetzt haben, konnte von der Suizidforschung bisher nicht geklärt werden. Sicher ist aber, dass der Fall der Mauer und das Ende der DDR keine starke Zäsur darstellten.
In methodischer Hinsicht ähnelt der Versuch von Staadt, einen Zusammenhang zwischen Wehrdienst und Selbsttötungsrate nachzuweisen, einer Herangehensweise, die während des Kalten Krieges etwa von Konstantin Pritzel, einem ehemaligen SED-Gesundheitsfunktionär, der ab 1951 in West-Berlin beim Externer Link: Ostbüro der SPD und später beim RIAS tätig war, praktiziert wurde. Diese interessengeleitete Methode besteht darin, abweichende Einzelwerte überzubetonen und langfristige Durchschnittswerte zu ignorieren, um das kommunistische Regime der SED anzuklagen. Bei Pritzel ging die manipulative Instrumentalisierung von Statistiken soweit, dass er die nicht in seine Interpretation passenden Werte einzelner Jahre schlicht ignorierte und auf dieser Basis steigende Suizidraten behauptete, während der tatsächliche Trend in einer Abnahme der Suizidraten bestand.
Jochen Staadt geht nicht ganz so weit, er versucht gar nicht, langfristige Entwicklungen zu diskutieren. Stattdessen stellt er eine einzelne, zudem noch hypothetische Zahl gegen meine aus dem langfristigen Durchschnitt der empirisch ermittelten Suizidraten abgeleitete Schlussfolgerung.
Anhang
Stichprobe1: Selbsttötungen in den Grenztruppen Dezember 1987 bis November 1988:
Datum Dienstgrad (Alter)
24.11. Stabsoberfähnrich (41)
9.11. Fähnrich (30)
1.9. Soldat (19)
31.8 Uffz. (24)
27.7. Soldat (24)
Mai Soldat (19), Zeitzeuge
20.5. Major (45)
21.4. Uffz. (21), als Unfall deklariert
28.3. Soldat (25)
23.3. Gefr. (22)
22.3. Soldat (24)
12.2. Uffzsch. (19)
15.1. Zivilbeschäftigter (46)
Stichprobe 2: Selbsttötungen Grenztruppen Jan-Nov. 1977:
2.2. Berufsuffz. (28)
13.2. Major (38)
14.4. Leutnant (22)
23.8. Ufw. (22)
16.9. Gefr. (20)
Zur Externer Link: Replik von Dr. Jochen Staadt auf diesen Beitrag.
Zitierweise: Udo Grashoff, "Kritik und Replik: Suizide bei den Grenztruppen und im Wehrdienst der DDR“, in: Deutschland Archiv, 12.02.2021, Link: Externer Link: www.bpb.de/326355. Weitere Texte und Interviews in dieser Serie folgen. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Weitere Beiträge in unserem Schwerpunkt: "Externer Link: Wer war Opfer des DDR-Grenzregimes?"