(arab. ḥadīth, «Erzählung, Gespräch») bezeichnet die Berichte über Aussprüche, Anordnungen und Handlungen des Propheten, deren Überlieferung auf seine Gefährten (arab. ṣaḥāba) zurückgeführt wird. Im weiteren Sinne gehören dazu auch Berichte über die Prophetengefährten selbst sowie über frühe Muslime der nächsten Generation (die sog. «Nachfolger», arab. tābiʿūn). Für diese werden andere Bezeichnungen wie «Nachricht» (arab. khabar) oder «überlieferter Bericht» (arab. athar) bevorzugt. Die begriffliche Trennung ist jedoch nicht immer klar, und sowohl die Überlieferungen vom Propheten als auch diejenigen über seine Gefährten und ihre Nachfolger fallen in das Gebiet der islam. H.-Wissenschaft. In den ersten zweieinhalb Jahrhunderten nach dem Tod des Propheten fand der H. allmählich Anerkennung als zweitwichtigste Quelle für die religiösen und rechtlichen Normen neben dem Koran. Diese Entwicklung, die bis heute für die Forschung in vieler Hinsicht unklar und umstritten geblieben ist, war offenbar eng verbunden mit den großen Krisen polit. und religiöser Autorität im islam. Staat. Viele H. lassen sich auf die frühen theolog. Streitfragen und religiös-polit. Konflikte beziehen. Diese verstärkten offenbar das religiöse Interesse an den Prophetengefährten und an den mit ihnen verbundenen Kreisen. Ähnlich wie im Christentum oder wie in späteren islam. religiösen Bewegungen fallen die ersten Bemühungen zur umfassenden Sammlung und Fixierung der Überlieferungen vom Gründer offenbar in die Periode des Überganges von der Generation der Jünger zu der ihrer Schüler, d. h. in diesem Fall ca. 50 –100 Jahre nach dem Tode des Propheten. Verschiedene regionale Zentren religiöser und rechtlicher Lehre wie in Mekka, Medina, Damaskus, Basra und Kufa beriefen sich auf die Autorität von Prophetengefährten und ihren Nachfolgern und verbreiteten deren – authent. oder angebliche – Überlieferungen und Lehrmeinungen. Sowohl die Anfänge der rechtlichen und theolog. Schulen als auch der asket. und mystischen Strömungen gingen einher mit den Bemühungen um die Sammlung und Weitergabe prophet. Überlieferung. Dies erklärt die große themat. Vielfalt des H. – Spezifisch für den Islam ist die Entwicklung einer formalisierten Überlieferungsmethode, die zwischen der Kette der Überlieferer (arab. isnād) und dem Text der Überlieferung selbst (arab. matn) unterscheidet. Die Kritik der Überlieferungen unterschied verschiedene Grade der Authentizität des H.-Materials, das je nach Stimmigkeit des Textes und Glaubwürdigkeit der Überlieferer als «gesund» (ṣaḥīḥ), «gut» (ḥasan), «schwach» (ḍaʿīf) oder «gefälscht» (mauḍūʿ) eingestuft wurde. Andere wichtige Kriterien bezogen sich auf die Zahl der verschiedenen Überlieferungswege sowie auf die ununterbrochene Kontinuität der einzelnen Ketten. Die Ausbildung der H.-Wissenschaft erforderte auch eine reichhaltige biograph. Literatur zu den verschiedenen Klassen und Generationen der Überlieferungsträger, die deren chronolog. Zuordnung und die Bewertung ihrer Glaubwürdigkeit ermöglichen sollte und für die islam. Geschichtsschreibung große Bedeutung gewann. Weite Reisen, die dem Sammeln wichtiger H.-Überlieferungen dienten, wurden zu einem wichtigen Element islam. Gelehrsamkeit. Von der Vielzahl der H.-Sammlungen, die im 9. und 10. Jh. entstanden, haben sechs nahezu kanon. Anerkennung im sunnit. Islam gefunden. Größtes Ansehen genießen die beiden ṣaḥīḥ-Werke von al-Bukhārī (gest. 870) und Muslim (gest. 875), die nur H. enthalten, die die Autoren als «gesund» einstuften. Sie werden gefolgt von den vier Sunan-Werken von Abū Dāʾūd (gest. 889), at-Tirmidhī (gest. 892), an-Nasāʾī (gest. 915) und Ibn Māja (gest. 886), deren Material auch weniger hoch bewertete Überlieferungen einschließt. All diese umfangreichen Werke sind themat. nach den Bereichen der islam. Glaubens- und Pflichtenlehre geordnet und ermöglichen so die Einordnung des H. in deren Rahmen. Die systemat. Entwicklung der H.-Wissenschaft schloss sich an den Abschluss der großen Sammlungen an. Sie erreichte im 11. Jh. mit den Schriften von al-Ḥākim an-Nīsābūrī (gest. 1017) und al-Khaṭīb al-Baghdādī (gest. 1071) einen ersten Höhepunkt und kam mit den großen ägypt. Kommentatoren und Sammlern des 15. Jh. wie Ibn Ḥajar alʿAsqalānī (gest. 1449) und as-Suyūṭī (gest. 1505) zu einem gewissen Abschluss. Die Entwicklung der H.-Wissenschaft seit dem 16. Jh. ist bisher nur unzureichend bekannt. Es scheint jedoch, dass besonders die Standardisierung der Überlieferungsverfahren sowie die Suche nach möglichst kurzen Überliefererketten weiter vorangetrieben wurde. Der Austausch von H.-Überlieferungen und Lizenzen brachte Gelehrte aus den unterschiedlichsten Regionen der islam. Welt miteinander in Verbindung und konnte auch Vertretern neuer Zentren des Islams wichtige Anerkennung verschaffen. Weithin unerforscht ist auch die wachsende Bedeutung der H.-Interpretation im Spannungsfeld von Theologie, Recht und Mystik, die für die späteren Jahrhunderte typisch zu sein scheint und zur Relativierung der Autorität der Rechtsschulen beitrug (
Literatur:Juynboll, G. H.: Encyclopedia of Canonical Hadith, 2007. – Motzki, H.: Die Anfänge der islamischen Jurisprudenz. Ihre Entwicklung in Mekka bis zur Mitte des 2./8. Jahrhunderts, 1991. – Schoeler, G.: Charakter und Authentie der muslimischen Überlieferung über das Leben Mohammeds, 1996.
Autor/Autorinnen:Prof. Dr. Stefan Reichmuth, Universität Bochum, Islamwissenschaft
Quelle: Elger, Ralf/Friederike Stolleis (Hg.): Kleines Islam-Lexikon. Geschichte - Alltag - Kultur. München: 6., aktualisierte und erweiterte Auflage 2018.