Wahlrecht
Das Wahlrecht im umfassenden Sinne des Begriffs enthält alle rechtlich fixierten Regelungen, die die Wahl von Körperschaften oder von Amtsträgern betreffen. Das Wahlrecht im engeren Sinne definiert das Recht, an der Wahl von Körperschaften oder Amtsträgern teilzunehmen, und zwar aktiv als Wahlberechtigter und passiv als wählbare Person. Die Prinzipien des engeren Wahlrechts sind in der Regel verfassungsrechtlich normiert. In den modernen Demokratien wird nach allgemeinem, gleichem, direktem und geheimem Wahlrecht gewählt. Diese Merkmale demokratischer Wahlen haben sich erst im Laufe der Zeit durchgesetzt. Dabei hat sich auch ihr Verständnis gewandelt. Heute besagen die Begriffe:
Allgemein: unabhängig von Geschlecht, Rasse, Sprache, Einkommen oder Besitz, Beruf, Stand oder Klasse, Bildung, Konfession oder politischer Überzeugung sind alle Staatsbürger stimmberechtigt, die einige unerlässliche Voraussetzungen erfüllen: ein bestimmtes Alter, Staatsbürgerschaft, Wohnsitz im Wahlgebiet, Besitz der geistigen Kräfte und der bürgerlichen Ehrenrechte, volle rechtliche Handlungsfähigkeit. Seit den 1990er-Jahren wurde in vielen Ländern Staatsbürgern, die im Ausland leben, die Ausübung des Wahlrechts ermöglicht („external voting“).
Gleich: jeder Wahlberechtigte besitzt das gleiche Stimmgewicht – der Zählwert der Stimmen der Wahlberechtigten muss gleich sein. Das heißt zum einen, dass alle (historischen) Klassen-, Kurien- und Pluralwahlrechte mit dem Gleichheitssatz unvereinbar sind, zum anderen, dass die Wahlkreiseinteilung in Wahlsystemen, deren Auswirkungen wesentlich vom Wahlkreis abhängen, stets daraufhin zu überprüfen ist, ob das Verhältnis der Bevölkerungszahl zur Zahl der zu wählenden Abgeordneten in den Wahlkreisen den Gleichheitsgrundsatz nicht verletzt.
Direkt: die Wähler bestimmen selbst ohne „Zwischenschaltung eines fremden Willens zwischen Wählern und Abgeordneten bei oder nach der Wahlhandlung“ (K.-H. Seifert) die Mandatsträger.
Geheim: es muss rechtlich und organisatorisch gewährleistet sein, dass der Wähler eine nicht von anderen erkennbare Wahlentscheidung treffen kann.
In D besteht auf nationaler Ebene das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für Männer seit 1849. Frauen erlangten 1918 das Wahlrecht. Nach Art. 38 des→GG werden „die Abgeordneten“ des Deutschen → Bundestages „ … in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt“. Seit dem 01.01.1975 sind für den Bund das aktive und passive Wahlrecht einheitlich an die Vollendung des 18. Lebensjahres geknüpft. Zu Wahlrecht und Wählbarkeit führt das Bundeswahlgesetz (BWG) vom 23.07.1993 (letzte Änderung vom 10.07.2018) in den §§ 12–15 weiter aus: Zur Wahlberechtigung ist erforderlich, „seit mindestens drei Monaten in der Bundesrepublik Deutschland eine Wohnung inne (zu) haben oder sich sonst gewöhnlich auf(zu)halten“. Zur Ausübung des Wahlrechts ist die Eintragung in ein Wählerverzeichnis oder der Besitz eines Wahlscheins erforderlich, der eine Stimmabgabe per Briefwahl ermöglicht (§ 14). „Wahlberechtigt sind bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen auch diejenigen Deutschen …, die am Wahltag außerhalb der Bundesrepublik Deutschland leben, sofern sie nach dem 23. Mai 1949 und vor ihrem Fortzug mindestens drei Monate ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland eine Wohnung innegehabt oder sich sonst gewöhnlich aufgehalten haben“ (§ 12). „Ausgeschlossen vom Wahlrecht ist, 1. wer infolge Richterspruchs das Wahlrecht nicht besitzt“, 2. wer entmündigt ist oder wegen geistigen Gebrechens unter Pflegschaft steht, 3. „wer sich auf Grund einer Anordnung nach § 63 in Verbindung mit § 20 des Strafgesetzbuches in einem psychiatrischen Krankenhaus befindet“ (§ 13). „Nicht wählbar ist, 1. wer nach § 13 vom Wahlrecht ausgeschlossen ist oder 2. wer infolge Richterspruchs die Wählbarkeit oder die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter nicht besitzt“ (§ 15). Das Abgeordnetenmandat ist im Übrigen unvereinbar („inkompatibel“) mit dem Amt des → Bundespräsidenten (GG Art. 55) und dem des Bundesverfassungsrichters (GG Art. 94). Inkompatibilität besteht auch für Beamte, Richter und Angestellte des → öffentlichen Dienstes (GG Art. 137, Ges. vom 04.08.1953). Diese Personen können rechtswirksam gewählt werden, müssen jedoch bei der Annahme der Wahl aus ihrem jeweiligen Amt scheiden (Tab. 1).
Die Ausweitung des Wahlrechts in Deutschland 1871–2017 in ausgesuchten Wahlen
Wahlberechtigte | Wahlbeteiligung | |||
---|---|---|---|---|
Jahr | abs. in Tsd. | in der Bev. | abs. in Tsd. | in der Wahlberechtigt. |
1871 | 7656,2 | 19,4 | 4148,0 | 52,0 |
1890 | 10.145,9 | 21,7 | 7702,3 | 71,5 |
1912 | 14.441,9 | 22,2 | 12.260,6 | 84,2 |
1919 | 37.362,1 | 63,1 | 30.524,8 | 83,0 |
1930 | 42.957,7 | 68,9 | 35.225,8 | 82,0 |
1949 | 31.207,6 | 66,3 | 24.495,6 | 78,5 |
1969 | 38.677,3 | 65,9 | 33.523,1 | 86,7 |
1987 | 45.328,0 | 74,0 | 38.225,3 | 83,5 |
1990 | 60.346,6 | 75,7 | 46.995,9 | 77,8 |
1994 | 60.396,3 | 74,3 | 47.743,6 | 79,1 |
1998 | 60.762,7 | 74,1 | 49.947,0 | 82,2 |
2002 | 61.432,9 | 74,4 | 48.582,8 | 79,1 |
2005 2009 2013 2017 | 61.870,7 62.168,5 61.946,9 61.688,5 | 75,0 75,9 75,5 74,9 | 48.044,1 44.005,6 44.309,9 46.976,3 | 77,7 70,8 71,5 76,2 |
Quellen: Vogel et al. 1971; Lindner und Schultz 2010
Wahlsystem
Funktion und Typologie
Wahlsysteme stellen Verfahren dar, mittels derer (a) die Wähler ihre Partei- und/oder Kandidatenpräferenz in Wählerstimmen ausdrücken und durch die (b) Stimmenzahlen in Mandate übertragen werden. In der öffentlichen Debatte in D wird dieser Gegenstand häufig als Wahlrecht bezeichnet. Die technischen Regelungen, die ein Wahlsystem trifft, umfassen den gesamten Wahlprozess von der wahlgesetzlich geregelten Wahlbewerbung bis zur Ermittlung des Mandatsergebnisses. Es lassen sich vier Bereiche unterscheiden:
Die (mögliche) Untergliederung des Wahlgebietes in Wahlkreise (Einer-, kleine, mittelgroße und große Wahlkreise). Sie ist die für die Auswirkungen eines Wahlsystems wichtigste Variable.
Die Kandidatur (Einzelkandidatur oder verschiedene Listenformen: starre, lose gebundene, freie Liste; Möglichkeit wahlkreisgebundener oder wahlkreisfreier Listenverbindung etc.).
Das Stimmgebungsverfahren, ob und wie der Wähler eine oder mehrere Stimmen vergeben kann (Einzelstimmgebung, Mehrstimmgebung, und des Weiteren: Präferenz- oder Alternativstimmgebung, Kumulieren, Panaschieren).
Das Stimmenverrechnungsverfahren, dessen Regelung bereits teilweise durch die Ausgestaltung zu 1-3 bestimmt wird, aber dennoch die für die Auswirkung eines Wahlsystems nach der Wahlkreiseinteilung wichtigsten Variablen enthält. Dazu zählen: a) der Entscheidungsmaßstab Mehrheit oder Verhältnis (s. u.); b) die Verrechnungsebene (Wahlkreis, Wahlkreisverband, Region/Land, Staat/Bund); c) Divisoren- (etwa d‘Hondtsches Verfahren) oder Wahlzahlverfahren (etwa Hagenbach-Bischoff) und jeweilige Varianten; d) (mögliche) Überschuss- oder Reststimmenverwertung; e) (mögliche) Sperrklauseln.
Die mannigfach variierbaren und kombinierbaren technischen Regelungen von Wahlsystemen (s. dazu im Einzelnen Nohlen 72014) wirken sich auf die Wahlergebnisse in zweifacher Weise aus. Zum einen beeinflussen sie die Wahlentscheidung des Wählers, indem sie ihn bei der Stimmabgabe vor eine spezifische Entscheidungssituation stellen. Ihr entsprechend trifft der Wähler seine Wahl; dabei prägen die Regelungen des Wahlsystems durch Strukturierung der Partei- und/oder Kandidatenpräferenz des Wählers dessen inhaltliche Entscheidung mit. Zum anderen rufen unterschiedliche technische Regelungen bei der Übertragung von Stimmenzahlen in Mandate voneinander abweichende Wahlergebnisse hervor, konkret unterschiedliche parlamentarische Stärkeverhältnisse der Parteien. Die Auswirkungen von Wahlsystemen auf die Stimmen-Mandate-Relationen beeinflussen ihrerseits die Parteipräferenzen und das Stimmverhalten der Wahlbürger.
Die konkreten Wahlsysteme in den liberal-demokratischen →politischen Systemen sind in der Regel das Ergebnis von Kompromissen zwischen den wichtigsten gesellschaftlichen und politischen Gruppierungen. Dies erklärt auch ihre enorme Vielfalt, die gewöhnlich auf den Gegensatz von Mehrheitswahl und Verhältniswahl als den beiden Grundtypen von Wahlsystemen reduziert wird. In diesem Sinne sind Mehrheitswahl und Verhältniswahl antithetische Repräsentationsprinzipien. Die Mehrheitswahl zielt auf die parlamentarische Mehrheitsbildung (durch eine Partei oder Parteienkoalition) und nimmt die Disproportion von Stimmen und Mandaten in Kauf. Die Verhältniswahl hingegen zielt auf eine parlamentarische Vertretung der Parteien möglichst entsprechend ihrem Anteil an den Wählerstimmen.
Bewertungen der beiden Wahlsystemgrundtypen machen sich in der Regel an ihren Auswirkungen auf →Parteien, Parteiensysteme und die Politik allgemein (politische Stabilität, Regierbarkeit, etc.) fest. Wie die über hundertjährige nationale und internationale Wahlsystemdebatte belegt, fallen sie je nach demokratietheoretischem und (partei-)politischem Standort der Betrachter unterschiedlich aus. Als allgemeine Kriterien können gelten: der Grad der Übereinstimmung von Stimmen- und Mandatsanteil der Parteien, der Effekt auf Parteienkonzentration und Regierbarkeit, die Auswahlchance zwischen Kandidaten (und nicht nur Parteilisten), die Einfachheit oder Transparenz des Verfahrens sowie schließlich die allgemeine Anerkennung (Legitimität) des Verfahrens von Seiten der konkurrierenden Parteien und der Wählerschaft. Da die Kriterien nicht widerspruchsfrei zueinander stehen, kommt es auf das jeweils richtige Maß an, in welchem sie gehandhabt werden. Es gibt kein bestes Wahlsystem. Entscheidend ist vielmehr, in welchem historischen und politischen Kontext Wahlsysteme sich daraus ergebenden funktionalen Anforderungen genügen können. Wie sich Wahlsysteme konkret auswirken, kann folglich nur die empirische Einzelfallanalyse ermitteln.
Auswirkungen von Wahlsystemen
Die meisten Thesen in der traditionellen Debatte über die Vorzüge und Nachteile von Mehrheitswahl und Verhältniswahl sind in der Regel in zweifacher Hinsicht brüchig: zum einen überbetonen sie den Faktor Wahlsystem oder blenden gar andere Faktoren gänzlich aus, die ebenfalls auf die Entwicklung von Parteien und → Parteiensystemen einwirken. Zu nennen sind hier wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel, institutionelle Bedingungen des Regierungssystems, personelle Konstellationen, politische Entscheidungslagen etc. Zum anderen berücksichtigen sie nicht, nach welchem (Sub-)Typ von Wahlsystem gewählt wird. In der Tat gibt es sehr verschiedene, in ihren Auswirkungen stark voneinander abweichende Wahlsysteme innerhalb der beiden Grundtypen, bei der Verhältniswahl etwa reine Verhältniswahl (mit ziemlich exaktem proportionalem Verhältnis von Stimmen und Mandaten) und Verhältniswahl in Wahlkreisen und/oder mit Sperrklausel (mit eingeschränktem Proporz).
Ganz allgemein kann der Mehrheitswahl mehr konzentrierende, die Zahl der Parteien verringernde Wirkung zugeschrieben werden als der Verhältniswahl. Das Ausmaß ist jedoch sehr vom Typ der Mehrheitswahl (relative oder absolute Mehrheitswahl) abhängig. Auch in Verhältniswahlsystemen welchen Typs auch immer wird in der Regel die größte Partei begünstigt, obwohl darauf das Repräsentationsprinzip eigentlich nicht abzielt. Kleine Parteien haben in den meisten Mehrheitswahlsystemen nur Mandatschancen, wenn ihre Wählerschaft regional konzentriert ist oder wenn Wahlbündnisse mit großen Parteien bestehen. Jedoch auch in der Mehrzahl von Verhältniswahlsystemen sind die kleinen Parteien benachteiligt. Das liegt entweder an Sperrklauseln oder an der Einteilung des Wahlgebiets in Wahlkreise, innerhalb derer die Mandate vergeben werden. Kleine und mittelgroße Wahlkreise bilden ein systemimmanentes Hindernis für eine proportionale Repräsentation, wenn kein Proporzausgleich auf nationaler Ebene besteht. Eindeutigeren Aussagen steht auch die hohe Bedeutung der jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse für die Auswirkungen von Wahlsystemen im Wege. Die soziale, ethnische, religiöse Homogenität oder Heterogenität einer → Gesellschaft ist höchst relevant für die politischen Konfliktlinien und die Struktur der Parteiensysteme. Von dieser Strukturfrage hängt zudem offensichtlich die Wahl des Wahlsystems ab. Je mehr verfestigte gesellschaftliche Zersplitterung, desto wahrscheinlicher ist die Einführung eines Verhältniswahlsystems, und desto wahrscheinlicher ist auch die Herausbildung eines Vielparteiensystems. Wenn allerdings gesellschaftliche Fragmentierung vorherrscht, dann führt auch die relative Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen nicht zu einem Zweiparteiensystem (Fall Kanada). Je mehr gesellschaftliche Homogenität herrscht, desto eher wird für die relative Mehrheitswahl optiert, desto eher kommt aber auch bei Verhältniswahlsystemen (gleich welchen Typs) ein Zweiparteiensystem oder ein zahlenmäßig begrenzter Parteienpluralismus zustande. Der Kontext macht also den Unterschied.
Das Wahlsystem zum Bundestag
Der Deutsche → Bundestag wird nach personalisierter Verhältniswahl gewählt. Wie der Begriff selbst besagt, handelt es sich bei ihr um Verhältniswahl, in die eine personale Komponente eingefügt ist – und nicht um ein Mischsystem, wie häufig behauptet wird. Bei der Darstellung dieses Wahlsystems lässt sich zwischen Elementen unterscheiden, die sich bei seiner Einführung 1949, also schon vor Jahrzehnten nach anfänglichen kleineren Korrekturen in den 1950er-Jahren herausgebildet haben, und solchen, die auf die umstrittene Reform vom 2013 zurückgehen. Traditionell hat der Wähler (seit 1953) zwei Stimmen. Die Erststimme vergibt er auf Wahlkreisebene. Mit ihr entscheidet er, welcher Bewerber im Bundestag den Wahlkreis vertritt. Es bestehen 299 Einerwahlkreise, in denen in den Bundestag gewählt ist, wer die relative Mehrheit der Stimmen erzielt. Die Zweistimme vergibt der Wähler auf Ebene eines der 16 Bundesländer an Landeslisten der Parteien. Mit ihr entscheidet er über die parteipolitische Zusammensetzung des Bundestags. Er wählt dabei zwischen starren Parteilisten aus. Die Zweitstimmen aller Landeslisten werden auf Bundesebene addiert, sämtliche 598 und weitere Mandate (s. u.) werden an jene Parteien vergeben, die im Bundesgebiet über 5 % der Stimmen erhalten haben. Diese Sperrklausel kann durch den Gewinn dreier Direktmandate unterlaufen werden. Ausgenommen von ihr sind die Parteien nationaler Minderheiten.
Bis 2013 erfolgte die Zuteilung der Mandate an die Parteien auf Bundesebene (seit 2008) nach Sainte-Laguë/Schepers, anschließend unter erneuter Anwendung dieses Verfahrens die Verteilung der für die Parteien auf Bundesebene berechneten Mandate auf deren jeweilige Landeslisten. Stand die Mandatszahl der Parteien auf Länderebene fest, wurden die direkt in den Wahlkreisen errungenen Mandate (Direktmandate) der Parteien von den proportional ihren Landeslisten zugewiesenen Mandaten abgezogen. Damit ergab sich, wie viele Abgeordnete eine Partei über ihre Landesliste zugeteilt erhielt. Lag die Zahl der Direktmandate über der Zahl der proportional ihr zustehenden Mandate, so blieben diese sog. Überhangmandate der Partei erhalten, ohne proportionalen Ausgleich für die anderen Parteien.
Seit 2013 fungieren die 16 →Bundesländer als Wahlbezirke, in denen eine Erstverteilung der Mandate nach dem Zweitstimmenergebnis erfolgt. Dazu werden den einzelnen Bundesländern zunächst die insgesamt zu vergebenden 598 Mandate proportional zur jeweiligen Bevölkerung zugewiesen. Sodann findet die proportionale Erstverteilung der Mandate an die Parteien nach dem Verfahren Sainte-Laguë/Schepers statt. Diese Proporzmandate plus mögliche Überhangmandate bilden zusammen den sogenannten Mandatsanspruch einer Partei pro Bundesland. Die Addition der jeweiligen Mandatsansprüche der Parteien auf Bundesebene ergibt die Mandatszahlen, welche die Parteien im Prozess der Herstellung eines bundesweiten Proporzes mindestens erhalten müssen. Dieser proportionale Ausgleich erfolgt nach den nationalen Zweistimmenergebnissen unter erneuter Anwendung des Verfahrens Sainte-Laguë/Schepers und orientiert sich an der Partei, die in der Erstverteilung am meisten überrepräsentiert ist. Die Gesamtmandatszahl des Bundestags wird dabei so lange erhöht, bis jeder Partei mindestens so viele Sitze proportional zugesprochen werden konnten, um ihrem Mandatsanspruch gerecht zu werden. Abschließend werden die Gesamtmandate einer Partei auf deren Landeslisten proportional nach Sainte-Laguë/Schepers verteilt. Beim mehrfach angewandten Verfahren Sainte-Laguë/Schepers handelt es sich – vereinfacht ausgedrückt – um ein Wahlzahlverfahren (Division der Summe der zu berücksichtigenden Stimmen durch die Zahl der zu vergebenden Mandate), in welchem der resultierende Quotient so oft herauf- oder herabgesetzt wird, bis die Summe der damit für die einzelnen Parteien ermittelten und gerundeten Mandatszahlen mit der Gesamtzahl der zu vergebenden Mandate übereinstimmt.
Wahlsystemkontroversen
Während in den ersten Jahrzehnten der BRD die personalisierte Verhältniswahl als solche noch in der Kritik stand, die vor allem von Anhängern der relativen Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen vorgebracht wurde, waren es nach dem deutschen „Wahlwunder“, der Parteienkonzentration trotz Verhältniswahl, eher technische Elemente des Wahlsystemtyps und deren am Maßstab des Grundgesetzes gemessene Auswirkungen, welche die Diskussion um das „deutsche Wahlsystem“ beflügelten. Es lässt sich unumwunden feststellen, dass die BRD mit der personalisierten Verhältniswahl gute Erfahrungen gemacht hat. Es verwundert deshalb nicht, dass das german system international in Reformprozessen als Modellwahlsystem gehandelt wird. Gleichwohl besteht seit Einführung der personalisierten Verhältniswahl ein immer wieder aufflammender, häufig vor dem → Bundesverfassungsgericht ausgetragener Konflikt in der Frage, mit welchen rechtfertigenden Gründen und in welchem Umfang eine Abweichung vom Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit als verfassungskonform betrachtet werden kann. Das erste der oben genannten fünf Kriterien blieb bis in die Gegenwart im Mittelpunkt der parteipolitischen Auseinandersetzung um das Wahlsystem.
Ungeachtet der Einschränkungen des Proporzprinzips durch Sperrklausel und Überhangmandate verwirklicht die personalisierte Verhältniswahl im Wesentlichen die Zielvorstellungen der Verhältniswahl. Die Differenz zwischen Stimmen und Mandatsanteil der Parteien ist vergleichsweise gering. Alle Parteien, die mehr als 5 % der Zweitstimmen auf Bundesebene erreichen, ziehen prozentual zu ihrem Stimmenanteil Nutzen aus der Sperrklausel, und zwar je mehr, desto größer die Summe der Stimmenanteile jener Parteien ist, welche die Sperrklausel nicht überspringen. Disproportionen aufgrund von Überhangmandaten kamen nur den großen Parteien zugute. Ihre Zahl hielt sich aber in Grenzen. Unter den Bedingungen eines Zweieinhalbparteiensystems (→CDU/CSU, →SPD,→FDP) kamen sie nicht einmal vor. Das änderte sich mit dem Aufkommen der →Grünen und der Dekonzentration im Parteiensystem, die sich nach der deutschen Einheit fortsetzte. Als deren Folge nahm die Zahl der Überhangmandate, hauptsächlich zugunsten von CDU/CSU (1994: 12 von 16), enorm zu, so dass von den proportional benachteiligten Parteien das Bundesverfassungsgericht angerufen wurde. Das Gericht beließ es im Urteil vom 10. April 1997 bei der bisherigen Regelung, dass Überhangmandate nicht auszugleichen seien, wenn sich ihre Zahl in Grenzen hielte. Zehn Jahre später sah sich das Bundesverfassungsgericht erneut mit der Frage der Überhangmandate konfrontiert, als sich in einem konkreten Fall die Hinweise aus der Wahlsystemforschung bestätigten, dass im Zuge der Verrechnung von Überhangmandaten eine Stimme für eine Partei eine Wirkung gegen sie entfalten kann. Dieses „negative Stimmgewicht“ erklärte das Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 3. Juli 2008 für verfassungswidrig (vgl. Nohlen 2009); es gab dem Gesetzgeber auf, das Wahlsystem zu reformieren. Dem kam der Bundestag erst am 25. Nov. 2011 mit einer Reform nach, die allein von der CDU/CSU und der FDP getragen war und u. a. deshalb vom Gericht am 25. Juli 2012 ebenfalls zurückgewiesen wurde. In diesem Urteil begrenzte das Gericht die zulässige Zahl von Überhangmandaten auf 15 (2009 waren alle 24 Überhangmandate auf die CDU/CSU entfallen). Mit der Gesetzesnovelle vom 9. Mai 2013 beschloss der Bundestag im gerichtlich geforderten breiten Konsens das gegenwärtig gültige Wahlsystem (s.o.). Indem die Überhangmandate nun vollständig ausgeglichen werden, geht diese Reform weit über die Auflagen des Gerichts hinaus.
Der Gesetzgeber machte sich vor allem den fragwürdigen Standpunkt zu eigen, den das Bundesverfassungsgericht vom Verfassungsgrundsatz der Gleichheit ableitet: dass bei Verhältniswahl nicht nur die Zählwertgleichheit, sondern auch die Erfolgswertgleichheit der Stimmen garantiert zu sein habe. Wahlsysteme unterscheiden sich aber gerade darin, dass sie im Erfolgswert der Stimmen variieren. Diese natürliche Variation ist auch bei Verhältniswahl der Fall, die in der Wahlsystemlehre weniger als mathematische Größe begriffen wird (wozu Mathematiker als Wahlsystemdesigner neigen) und folglich nicht allein an ihrer Exaktheit in der proportionalen Zuweisung der Mandate an die Parteien festgemacht werden kann, sondern als eine Richtung im Gestaltungsprozess politischer Repräsentation, wie der internationale Vergleich angewandter Verhältniswahlsysteme mit gänzlich unterschiedlichen Erfolgswerten leicht zu erkennen gibt (Nohlen und Stöver 2010). Erfolgswertgleichheit lässt sich auch rein rechtlich nicht erzwingen, wie der Österreichische Verfassungsgerichtshof treffend und konträr zum Bundesverfassungsgericht argumentierte. Es intervenieren viele verschiedene wahlsoziologische Faktoren: Ein Mehr an Proportionalität in der Ausgestaltung von Wahlsystemen kann so in der Praxis ein Weniger an Erfolgswertgleichheit hervorrufen, wenn die Wähler zu dem Fehlkalkül verleitet werden, dass bei mehr Proporz auch Kleinstparteien Parlamentsmandate erringen könnten, was empirisch keinesfalls gewährleistet ist, weshalb die Zahl der Stimmen ohne Erfolg zunehmen kann.
Kaum war die umstrittene Wahlreform in Kraft, forderte sie massive Kritik heraus. Vergessen waren die angeblich beseitigten Mängel, in den Mittelpunkt rückten die offensichtlichen neuen Misshelligkeiten. Zum auffälligsten Kritikpunkt wurde das schrankenlos scheinende Aufblähen der Mitgliederzahl des Bundestages, d. h. die Abhängigkeit der Parlamentsgröße vom jeweiligen Wahlergebnis. Waren bei der Bundestagswahl 2013 die schlimmsten Befürchtungen noch ausgeblieben, als „nur“ 33 Mandate zur „Normalgröße“ von 598 Sitzen hinzukamen, so waren es 2017 111 Mandate, die den Bundestag auf 709 Mitglieder anwachsen ließ. Kam es 2013 zu vier Überhangmandaten (alle für die CDU), waren es 2017 deren 46 (43 für die Unionsparteien, 3 für die SPD). Dienten 2013 die zusätzlichen Mandate weniger zum Ausgleich der Überhangmandate, sondern zum Ausgleich neuer Disproportionen, etwa den unterschiedlichen Bezugsgrößen in der Vergabe der Mandate in den Bundesländern (Bevölkerungszahl) und auf Bundesebene (abgegebene Stimmen), so verkehrte sich 2017 der jeweilige Anteil der Mandate zum Ausgleich der Überhangmandate (46) und zum nationalen Proporz (19). Die insgesamt 65 Ausgleichsmandate verteilten sich auf SPD 19, FDP 15, →AfD elf sowie →Linke und Grüne je zehn. Empirisch bestätigte sich, dass der Gesetzgeber unter den Auflagen des Bundesverfassungsgerichts, Zählwertgleichheit und breite Zustimmung, eine „Fehlkonstruktion im deutschen Wahlrecht“ (Bull 2014) zustande gebracht hatte: ein kompliziertes, an Inkonsistenzen reiches, in seinen bedenklichen Auswirkungen auf die politische Repräsentation kaum eingrenzbares Wahlsystem. Die notorische „Lethargie“ der politischen Parteien in Wahlsystemfragen berechtigt jedoch zu wenig Hoffnung auf eine baldige Reform.
Im Zusammenhang der 2013er Wahlreform hat sich die starke Rolle des Bundesverfassungsgerichts in der Wahlgesetzgebung bestätigt. Indem es zwischenzeitlich alternative Wahlsysteme ins Spiel brachte, etwa das Grabensystem (die Trennung und bloße Addition von Erst- und Zweitstimmenergebnis), hat das Gericht freilich erneut kundgetan, dass das Grundgesetz kein Wahlsystem vorschreibt und der Gesetzgeber grundsätzlich über Entscheidungsfreiheit in Wahlsystemfragen verfügt.
Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Dieter Nohlen