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Demokratie in Deutschland | bpb.de

Demokratie in Deutschland

Dietrich Thränhardt

Die antitotalitäre Neugründung

Die deutsche Demokratie ist in Auseinandersetzung mit der politisch-moralischen und militärisch-materiellen Katastrophe des „Dritten Reiches“ und in Abgrenzung vom Kommunismus sowjetischen Musters entstanden. Dieser doppelte antitotalitäre Konsens prägte die innere und äußere Verfassung ebenso wie die Strukturen und Mentalitäten. Viele Begründer der bundesdeutschen Politik hatten unter nationalsozialistischer Verfolgung gelitten und leisteten Widerstand gegen den Kommunismus. Es war typisch für diesen Kontext, dass auf dem Gründungsparteitag der CDU 1950 die Wahl Kurt Georg Kiesingers zum Generalsekretär an seiner früheren NSDAP-Mitgliedschaft scheiterte.

Die grundsätzlichen Aussagen des Grundgesetzes zur „Würde des Menschen“ und zur Gleichheit aller ohne Unterscheidung des Geschlechts, der Abstammung, der Rasse, der Sprache, der Heimat und Herkunft, des Glaubens und der religiösen oder politischen Anschauungen beziehen sich ebenso wie seine Organisationsregeln auf die Sicherung der Demokratie. Die institutionelle Ordnung ist auf die Regulierung und Kontrolle der Macht gerichtet, um sowohl Machtmissbrauch wie Machtverlust zu vermeiden.

Die Verfassungsordnung, die 1948/49 im Parlamentarischen Rat entstanden ist, sieht eine verantwortliche und handlungsfähige Regierung vor, der unabhängige Kontrollgewalten gegenüberstehen. Tragende Prinzipien sind Parlamentarismus, Gewaltenteilung, Föderalismus, Sozialstaat und Mehrparteienprinzip. Sicherungen wie das konstruktive Misstrauensvotum oder die alleinige Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für Parteienverbote gehören in den antitotalitären Entstehungszusammenhang. Die Einschränkung demokratischer Rechte gegenüber undemokratischen Bestrebungen und die Nichttolerierung von Antidemokraten werden als „streitbare Demokratie“ bezeichnet. Das Bundesverfassungsgericht hat weitgreifende Kontrollbefugnisse, die unabhängige Bundesbank, das institutionelle Vorbild der Europäischen Zentralbank, soll die Währung stabil halten. Das Bundesverfassungsgericht formulierte bei den Verbotsverfahren gegen SRP 1952 und KPD 1956 den Grundsatz der „freiheitlichen Demokratie“. Bei späteren Entscheidungen wurden das Recht der freien Meinungsäußerung bekräftigt, die Staatsfreiheit der Medien ausgestaltet und das Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ entwickelt.

Von Zeit zu Zeit kommt es zu demokratiekritischen Diskussionen und Stimmungen, in denen kritikwürdige Erscheinungen in der Parteiendemokratie und im demokratischen System insgesamt mit überhöht moralisierenden Maßstäben bewertet werden. Ging dies in den 50er-Jahren noch von der traditionell antidemokratischen Rechten aus, so hatte es in den 70er- und 80er-Jahren sein Zentrum eher in der „Neuen Linken“ (Agnoli). In den 90er-Jahren gab es erneut Polemiken von konservativen Positionen her, die an ältere Kritikmuster anschlossen, aber auch solche der neuen Linken einbezogen. 1992/93 wurde diese Kritik als „Politikverdrossenheit“ bezeichnet, seither wird vielfach generalisierend von „der Politik“ gesprochen. Inhaltlich entspricht dies der pauschalen Rede über das „System“ in der Weimarer Republik und bei der neuen Linken in D. Während sich die „Linke“ zunehmend in das Verfassungssystem eingegliedert hat, hat sich mit der AfD seit 2013 eine Protestpartei mit antidemokratischen Elementen entwickelt.

Der soziale Rechtsstaat

Besonders ausgeprägt ist in D die rechtsstaatliche Regelungsintensität; politische Fragen werden oft zu Rechtsproblemen umdefiniert. Die deutsche Tradition der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist dafür ebenso Grundlage wie die komplexe und kontrollintensive Verfassungsordnung und die reichhaltigen Möglichkeiten der Verfassungsklage. Die Tradition der juristischen Lösung von Konflikten hat zudem in D eine lange Vorgeschichte, die bis zum Reichskammergericht seit dem 16. Jh. zurückverfolgt werden kann.

Die ideologische Staatsgläubigkeit aus der ersten Hälfte des 20. Jhs. ist heute weitgehend überwunden, ein Schlüsselereignis dafür war die Spiegel-Affäre 1962. Der Machtstaat ist gegenüber dem Leistungsstaat zurückgetreten, der in vielfältiger Weise versorgt und umverteilt. In den Gründungsjahren wurde ein breit gefächertes Sozialleistungssystem geschaffen, mit Schwerpunkt auf den Altersrenten. Dieses Sicherheitsgefühl ist in den letzten Jahrzehnten in eine Krise geraten, besonders im Zusammenhang zunehmender wirtschaftlicher Ungleichheit und dem Eindruck von Kontrollverlusten bei den Renten, in der Eurokrise und an den Grenzen.

Breite Übereinstimmung herrscht über die Legitimität des Pluralismus (Fraenkel), auch wenn die Idee der streitbaren Demokratie gelegentlich zur Ausgrenzung von innenpolitischen Gegnern oder Minderheiten genutzt wurde. Der Idee des Pluralismus entspricht in der Realität die Verbändedemokratie mit großen Zonen staatsfreier Gestaltungsmacht der Verbände, Kammern und → Kirchen, der Tarifvertragsautonomie und der Zusammenarbeit zwischen Staat und Verbänden, die im Wirtschafts- und Sozialleben weithin institutionalisiert ist. Wichtige Beispiele sind das Zusammenwirken von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Staat in den Organen der Bundesagentur für Arbeit und die Zusammenarbeit zwischen Staat und Wohlfahrtsverbänden nach dem Jugendhilfe- und Sozialhilferecht. Ein produktives Vermittlungsorgan sind auch die Betriebs- und Personalräte, die für die Interessenvertretung der Beschäftigten ebenso relevant sind wie für die kooperative Lösung von Problemen.

Konsens- und Konkurrenzdemokratie in Ost und West

Insgesamt hat die Verfassung die Machtbalance gewährleistet, auch wenn der Regierungsstil des ersten Kanzlers Adenauer eher autoritär anmutete und der Begriff „Kanzlerdemokratie“ zunächst mit einer sehr straffen Führung identifiziert wurde. Auf regionaler und lokaler Ebene fand der patriarchalische Stil im ersten Jahrzehnt vielfältige Parallelen. Nach der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse wurde jedoch das politische Interesse einer breiten Öffentlichkeit stärker, die Kritik durch die Medien artikulierter, die Auseinandersetzung auch innerhalb der Parteien lebhafter. Das Wechselspiel von Regierung und Opposition funktionierte zusehends, und die Opposition erwies sich als Konkurrenz und Kontrollinstanz. Der fünfmalige Regierungswechsel zwischen CDU/CSU und SPD im Bund und die Wechsel in allen alten Ländern außer Bremen trugen dazu bei, das politische System offener zu machen und Opposition für alle Parteien zu einer Erfahrung zu machen. Die Opposition im Bund hatte in den Ländern und Kommunen oft gute Wahlchancen, was als Machtkorrektiv wirkte und den Zwang zum überparteilichen Kompromiss zur Routine machte. In einigen Ländern ergaben sich über die Jahrzehnte allerdings sehr weitgehende Verflechtungen zwischen Mehrheitspartei und Staat.

Während die ersten Regierungen in den Ländern überwiegend auf breiter Grundlage ruhten und oft alle Parteien einschlossen, kam es in der Bundespolitik von Anfang an zu einer deutlichen Abgrenzung zwischen der bürgerlichen Koalition Adenauers und der SPD als Opposition. Die harten, zuweilen unfairen, im Kern aber argumentativen Auseinandersetzungen zwischen den demokratischen Parteien über die Wirtschafts- und Außenpolitik in den 50er-Jahren halfen, die Bevölkerung in die wiedererstandene Demokratie zu integrieren. Die BRD entfernte sich damit von dem Modell der Konkordanzdemokratie, wie es in der Schweiz funktioniert, und orientierte sich stark am britischen Modell der Konkurrenzdemokratie – allerdings mit der dritten kleineren Partei FDP, die 1969 und 1982 über den Machtwechsel entschied. Nach größeren Konvergenzen zwischen den Parteien in den 60er-Jahren brachten die harten Konflikte in den 70er-Jahren erneut steigende Wahlbeteiligung. Auch CDU und CSU entwickelten sich nun zu breit verankerten Mitgliederparteien, wie es die SPD schon seit dem Kaiserreich war. Seitdem gab es in D etwa zwei Millionen Parteimitglieder. Seit dem Jahr 2000 sind die Mitgliederzahlen bei SPD und CDU allerdings stark zurückgegangen. Der Regierungsstil Merkels und der Mangel an Alternativen wirkten sich demobilisierend aus.

In den Jahrzehnten der Prosperität und der stabilen Verankerung im westlichen Bündnis hat sich die westliche und demokratische Orientierung der BRD stabilisiert, ihre internationale Offenheit, ihr Reichtum, ihre Saturiertheit und ihr Friedenswillen sind gewachsen. In den leidenschaftlichen Auseinandersetzungen um Westintegration und Ostpolitik waren die Gegensätze scharf. Trotz der bewährten „Gemeinsamkeit der Demokraten“ wurden immer wieder Elemente des Kalten Krieges in die Innenpolitik übertragen. Obwohl dies auch zu rechtswidrigen Handlungen wie in der Spiegel-Affäre führte, konnten derartige Konflikte innerhalb des Verfassungssystems bewältigt werden. Ein neuer Höhepunkt von Ideologisierung und stereotypem Ausgrenzungsdenken wurde mit der Studentenbewegung 1968 erreicht. Erst nach Jahrzehnten verebbte dieser Impetus.

In Ostdeutschland hatte sich während der friedlichen Revolution eine solidarisch-kooperative politische Kultur der runden Tische herausgebildet, die an die Solidarität der Demokraten von 1945 gemahnte. Sie wurde aber schnell von der Parteienkonkurrenz überlagert, die aus dem Westen herüberkam und mit den alten Gemeinwohl- und Solidaritäts-Vorstellungen kontrastierte. Auf lokaler und regionaler Ebene ist diese aber durchaus noch verbreitet. Nach einer anfänglichen Euphorie bei der Wiedervereinigung stellten sich Enttäuschungen ein, die zu Misstrauen, Hass auf das Establishment und Verschwörungstheorien führten.

Die Permanenz der Vergangenheit

Die „Aufarbeitung der Vergangenheit“ (Adorno) zieht sich durch die Nachkriegsgeschichte. Der erste Anstoß erfolgte von Seiten der Siegermächte mit den Nürnberger Prozessen gegen die politische, militärische, administrative und ökonomische Elite des „Dritten Reiches“. Ein Jahr vor Beginn des Aufbaus der Bundeswehr hielt Bundespräsident Heuss eine Rede zum 10. Jahrestag des Widerstands der Offiziere am 20. Juli 1944. 1958 begann mit dem „Ulmer Einsatzgruppenprozess“ die juristische Auseinandersetzung mit den Massenmorden der SS, im selben Jahr wurde die Ludwigsburger Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen gegründet, die weitere Anklagen systematisch vorbereitete. Der Frankfurter Auschwitzprozess und der Düsseldorfer Majdanek-Prozess machten das ganze Ausmaß der Verbrechen deutlich. Die NS-Vergangenheit war auch ein Thema der Studentenbewegung um 1968.

Mit Filmen wie „Holocaust“ 1979 und „Schindlers Liste“ 1993 wurden die Massenmorde an den Juden zu einem großen Thema der internationalen Medien. Im „Historikerstreit“ der 80er-Jahre, der mit einer Reaktion von Habermas auf einen Relativierungsversuch des Historikers Ernst Nolte begann, wurde die Einmaligkeit und Unvergleichbarkeit der nationalsozialistischen Massenmorde an Juden zu einer Leitdoktrin. Dies war wiederum geistige Grundlage des Berliner Holocaust-Mahnmals für die jüdischen Opfer, dessen Bau 1999 beschlossen wurde. Der Bundestag setzte sich dabei über Bedenken hinweg, die vor einer Hierarchisierung der verschiedenen Gruppen von Nazi-Opfern warnten.

Während sich in der direkten Nachkriegszeit gegen die kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit noch Protest erhoben hatte, ist sie heute allgemein akzeptiert. In der Geschichtswissenschaft wurde die alte nationalistische These von einem deutschen „Sonderweg“ ins Negative gekehrt; sie hat lange Zeit die Diskussion beherrscht, ehe sie als historisch falsch erwiesen wurde. Verbunden mit dieser Sicht war eine weitgehende Tabuisierung der deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges, die in den 50er-Jahren noch Hauptthema gewesen waren. Die „Vergangenheit ist … Teil der psychologischen Verfassungswirklichkeit in Deutschland geworden und geblieben“ (Joffe).

Postnationale Moral und nationale Interessen

Nach dem Nationalsozialismus entwickelte D eine Scheu vor nationalen Symbolen, auch wenn sie demokratische Qualität haben. Dies hat auch dazu geführt, dass die „friedliche Revolution“ von 1989 nicht in den deutschen Symbolschatz aufgenommen worden ist, sondern im Anschluss an eine Wortprägung von Egon Krenz meist als „Wende“ bezeichnet wird. Das hat auch die Identifikation der Ostdeutschen erschwert.

Bracher hat D als „postnationale Demokratie unter Nationalstaaten“ charakterisiert, er bezog sich dabei auf das geteilte Deutschland. Habermas hat den Begriff zu einer „postnationalen Konstellation“ erweitert, die den Zustand der Welt insgesamt beschreiben soll. In der Tat operiert die deutsche Politik oft mit universellen oder europäischen Werten und Notwendigkeiten. Universalistische Organisationen wie Amnesty und Greenpeace sind in D besonders verankert. Gleichwohl hat die Regierung eigene Interessen und steht in engem Kontakt mit den großen Unternehmen.

In der Flüchtlingskrise ebenso wie beim Abgasskandal traten Diskrepanzen zwischen dem hohen Ton und der Realität deutlich zu Tage. Auf der einen Seite stand eine moralische Haltung, in der Flüchtlingskrise wurde die Kanzlerin 2015 sogar zur „person of the year“. Auf der anderen Seite standen Fehlleistungen, die zur Funktionsunfähigkeit des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge führten. Vertrauensverlust und der Aufstieg der Protestpartei AfD waren die Folge.

Eingebunden in EU und NATO und andere westliche Organisationen stellt D unter den großen Nationen der Welt einen friedlichen Export- und Handelsstaat par excellence dar. Die Internationalisierung in Produktion, Konsum und Vertrieb greift immer weiter und reicht immer tiefer. In dem von Jahrzehnt zu Jahrzehnt enorm gesteigerten Ferntourismus wird diese Entwicklung auch für die breite Bevölkerung erfahrbar. In einer komplexer werdenden Welt muss die Balance zwischen Eigeninteressen, europäischer Zusammenarbeit und weltpolitischer Rolle immer wieder neu gefunden werden.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Dietrich Thränhardt

Fussnoten