Der Begriff s. [lat.: »überstaatlich«] beschreibt eine innovative Rechtsform, die zwischen Völker- und Staatsrecht angesiedelt ist; er ist ein zentraler Begriff zur europarechtlichen und sozialwissenschaftlichen Beschreibung und Analyse der Europäischen Gemeinschaft bzw. Union. Kennzeichen einer s. EU ist die enge Verflechtung (»Integration«) von Wirtschaft, Politik, Recht und Gesellschaft der Mitgliedstaaten. Diese Verschmelzung ist das Ergebnis der in den 1950er-Jahren gestarteten schrittweisen Übertragung von Kompetenzen und Ressourcen auf »Brüssel« und die Errichtung einer den Staaten übergeordneten, also supra-nationalen, politischen Entscheidungsebene und Rechtsordnung. Das s. Rechts- und Politiksystem wird getragen von den Mitgliedstaaten und den s., zum Teil unabhängigen Organen und Institutionen, wie etwa der EU-Kommission und dem Europäischen Gerichtshof. Die Klammer und das Fundament der s. EU ist das Unionsrecht, das im Konfliktfall dem nationalen Recht vorangeht (Prinzip des Vorrangs des EU-Rechts). Der Begriff und das Konzept der »Überstaatlichkeit« gehen zurück auf den niederl. Rechtswissenschaftler Hugo Krabbe (»Die moderne Staatsidee«, 2. Aufl., Den Haag 1919). Die EG bzw. EU gelten als klassisches Beispiel für ein s. System, das aber Nachahmer gefunden hat. Im Unterschied zur intergouvernementalen (dt.: zwischenstaatlichen) Kooperation kann die s. Version mitunter zu Einschränkungen der mitgliedstaatlichen Kontrolle gegenüber den s. Behörden (z. B. Kommission, Europäischer Gerichtshof) führen. Diese Verluste nehmen die Mitgliedstaaten jedoch in der Regel in Kauf, weil sie von der s. Entscheidungsfindung (sog. »Gemeinschaftsmethode«) und unabhängigen Kontrolle der Einhaltung des Gemeinschaftsrechts langfristig profitieren. Die EU-Staaten gewinnen z. B. durch Errichtung eines europaweiten Binnenmarktes und die damit einhergehende Übertragung von Kompetenzen zur Einhaltung der Regeln auf die EU-Ebene politische und wirtschaftliche Handlungsspielräume zurück, die sie nicht besäßen, wenn sie auf sich allein gestellt wären; dies gilt z. B. für die Außen- und Verteidigungspolitik, die Klimapolitik oder für Verhandlungen der EU über Wirtschaftsfragen gegenüber mächtigen Drittstaaten wie USA, China und Russland.
Literatur
F. Rosenstiel: Supranationalität. Eine Politik des Unpolitischen, Köln u. a. 1964.
H. Schneider: Leitbilder der Europapolitik I. Der Weg zur Integration, Bonn 1977.
F. Schorkopf: Der Europäische Weg. Grundlagen der Europäischen Union, 2. Aufl., Tübingen 2015.
G. Thiemeyer: Supranationalität als Novum in der Geschichte der internationalen Politik der fünfziger Jahre, in: Journal of European Integration History (JEIH), H. 4/1999, S. 5-21.
aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: M. Große Hüttmann