N. [lat.: natio, dt.: Geburt, Herkunft; Volk(sstamm)] meinte ursprünglich, in der Antike, den Abstammungs- oder Herkunftsort und konnte sich auch auf die Gruppe beziehen, aus der jemand stammt. Im europ. Hochmittelalter bezeichnete er u. a. die Herkunftsländer der Studenten an den Universitäten. In der Moderne ist N. der Begriff für eine politische und soziale Gemeinschaft, der sich in seiner heutigen Bedeutung im späten 18. Jh. im Kontext der Frz. und der amerik. Revolutionen entwickelte und im Laufe des 19. Jh. eine zentrale Bedeutung für die politische Theorie, die politische Ökonomie und die Geschichtswissenschaft gewonnen hat. N. sind keine als solche vorhandenen Tatsachen, sondern beruhen auf Sinnzuschreibungen und Deutungen: Sie sind insofern »imaginierte Gemeinschaften«, so der Politikwissenschaftler Benedict Anderson. In der Frz. Revolution wurden durch den Begriff N. Volk und Staat identifiziert, denn erst die kollektive Souveränität der Staatsbürger schaffe einen Staat. Im Lauf des 19. Jh. wurde N. zusätzlich ethnisch und kulturell aufgeladen; ein gemeinsames Territorium, gemeinsame ethnische Abstammung und eine gemeinsame Sprache wurden jetzt als Kriterien für eine N. betrachtet. N. in diesem Sinne waren in Europa seit dem späten 19. Jh. die wesentliche Grundlage der Staatsbildung; im 20. Jh., mit dem Ende des Kolonialismus, auch in der übrigen Welt. Der Nationalstaat, als politische Selbstorganisation einer N., wurde nun zur Norm. Mit Beginn des 21. Jh. treten andere politische Organisationsformen wie die EU neben den Nationalstaat, ohne diesen jedoch abzulösen. N. als Identifikationsgröße bleibt dabei erhalten.
Literatur
E. J. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität, 2. Aufl., Frankfurt a. M./New York 2004.
D. Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000.
aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: J. Angster