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Grundgesetz und EU-Recht | bpb.de

Grundgesetz und EU-Recht

M. Höreth

Das Verhältnis zwischen EU-Recht und Grundgesetz kann bis auf den heutigen Tag als nicht eindeutig geklärt bezeichnet werden. Obwohl das europ. Recht prinzipiell Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht genießt (auch gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht), steht es nicht »über« dem Grundgesetz. Zwischen der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland und der europ. Gemeinschaftsrechtsordnung besteht kein Über- oder Unterordnungsverhältnis. Die prinzipielle Vereinbarkeit des EU-Rechts mit dem Grundgesetz ist in Art. 23 GG (»Europaartikel«) dargelegt. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat schon früh festgestellt, dass die Gemeinschaftsrechtsordnung ihrerseits »eigenständig« sei und nicht von den Rechts- und Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten abgeleitet oder diesen gar untergeordnet sei. Dem entspricht auch, dass die »Hüter« beider Rechtsordnungen, das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sowie der EuGH miteinander ein »Kooperationsverhältnis« pflegen und keines der beiden Gerichte den Anspruch erhebt, rechtlich über dem anderen zu stehen. Allerdings ist dieses Kooperationsverhältnis gewissen Schwankungen unterworfen, die v. a. darauf zurückzuführen sind, dass sich die Rechtsprechung des BVerfG nicht immer eindeutig zum Jurisdiktionsanspruch des EuGH bekennt (»Solange I und II«, »Maastricht-Urteil«). Gerade wenn es um den Schutz der Grundrechte geht, behält sich das BVerfG in Karlsruhe prinzipiell vor, als letzte Instanz Recht sprechen und gegebenenfalls sogar europ. Recht und Rechtsprechung ignorieren zu können, falls der europ. Grundrechtsschutz das laut Grundgesetz erforderliche Schutzniveau unterschreiten sollte. Auf der anderen Seite hat es bereits wichtige Entscheidungen des EuGH gegeben, die dazu geführt haben, dass das Grundgesetz geändert werden musste, weil einzelne Artikel nicht gemeinschaftsrechtskonform waren. Der EuGH hatte im Jahr 2000 anlässlich der Klage von Tanja Kreil die Frage des uneingeschränkten Zugangs von Frauen zu kämpfenden Einheiten bei der Bundeswehr zu behandeln und wendete dabei die 1976 vom Rat verabschiedete Gleichbehandlungsrichtlinie an, die u. a. der Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zu Beschäftigung dient. Die Bundesrepublik Deutschland argumentierte hingegen, die Organisation der Streitkräfte fiele nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts. Das Verfahren ging für die Bundesrepublik verloren, da sie den EuGH nicht überzeugen konnte, dass hier tatsächlich ein Ausnahmetatbestand der Richtlinie vorlag, nach dem eine Anwendung hätte ausgeschlossen werden können. Auf dieser Grundlage konnten die europ. Richter entscheiden, dass das verfassungsrechtliche Verbot des Zugangs der Frauen zum Dienst an der Waffe gegen Gemeinschaftsrecht verstößt. Das Verhältnis von Grundgesetz und EU-Recht wird in Zukunft entscheidend davon abhängen, inwieweit der EuGH willens und in der Lage ist, den europ. Grundrechtsschutz weiter auszubauen, sich aber eine gewisse richterliche Zurückhaltung aufzuerlegen, und davon, ob das BVerfG diese Rechtsprechungsleistungen des EuGH mit Wohlwollen registriert und im europarechtlichen Bereich bewusst auf eine Intervention verzichtet.

Literatur

  • E. Brok/M. Selmayr: Der »Vertrag der Parlamente« als Gefahr für die Demokratie? Zu den offensichtlich unbegründeten Verfassungsklagen gegen den Vertrag von Lissabon, in: integration, H. 3/2008, S. 217-234.

  • F. C. Mayer: Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, München 2000.

aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: M. Höreth

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