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Die YouTuberin Hatice Schmidt besucht in diesem Gesprächsfilm Dr. Mohammad Gharaibeh und spricht mit ihm über den Begriff der "Sunna".
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[Musik ist zu hören. Zu sehen ist das zunächst unscharfe Bild eines Zuges im Bahnhof, dass scharf gestellt wird, dann Schnitt auf Hatice Schmidt, die in den Zug einsteigt und drinnen Platz nimmt. Dann folgen Bilder aus dem Zugfenster eines noch dunklen Himmels. Die Musik wird leiser und Hatice ist im Zug zu sehen. Sie spricht in die Kamera.]
Hatice: Hi Leute! Ich habe mich letztens mit Tim in Frankfurt getroffen und darüber gesprochen, wer wie wann als gläubig oder ungläubig gilt und ob man das überhaupt so sagen kann.
[Bei den letzten Worten sind wieder Bilder der Zugfahrt zu sehen – vorbeiziehende Landschaft, nun bei aufgehender Sonne. Hatice ist nun als Offstimme zu hören. Zu sehen sind Bilder aus dem Zugfenster – die Sonne am Horizont, Bäume und Häuser - und dazwischen Hatice im Zug. Dann wechselt die Kameraperspektive in ein fahrendes Auto. Zu sehen ist ein Blick auf eine Strasse mit Häusern, dann eine Nahaufnahme eines gelbbeblättererten Strauches. Schnitt zu einem Bild eines Baumes, den Stamm entlang gegen den Himmel gefilmt. Dann sehen wir Hatice, die in Bäume schaut, einen herblichen Baum vor dem Hintergrund eines Gebäudes, seine gelbe Krone und schließlich Hatice und einen Mann von hinten, die einen gepflasterten Weg entlanglaufen. Dann sieht man den Weg, der sich an einer baumbestandenen Wiese entlang auf ein im Hintergrund stehendes ovalförmiges Hochhaus mit Glasfassade zuschlängelt. Schnitt auf das Rheinufer mit herblichen Bäumen auf der gegenüberliegenden Seite.]
Hatice: Und weil die Sunna so wichtig ist und ich zu ihr gerne noch mehr wissen möchte, bin ich heute auf dem Weg nach Bonn, wo ich mich mit Dr. Mohammad Gharaibeh treffe. Dr. Mohammad Gharaibeh ist promovierter Islamwissenschaftler, der sich in seiner Forschung mit der Ideengeschichte des Islam beschäftigt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Hadithwissenschaft, die islamische Geschichtsschreibung und die wahabitische Reformbewegung in Saudi-Arabien. Zur Zeit ist er wissenschaftlicher Koordinator am Annemarie Schimmel Kolleg an der Universität Bonn.
[Die Musik hört langsam auf, Hatice ist in Großaufnahme von vorne zu sehen. Sie steht auf einer Wiese vor Bäumen, im Hintergrund schimmert ein Fluss zwischen den Blättern hindurch.]
Hatice: Kannst du mal kurz, für die, die das jetzt nicht wissen, sagen, was die Sunna überhaupt ist?
[Schnitt auf einen Mann, der Hatice gegenüber steht. Im Hintergrund das Flussufer und der Rhein. Rechts im Bild wird für kurze Zeit der handgeschriebene Name "Dr. Mohammad Gharaibeh" eingeblendet. Er spricht sehr ruhig, auf das nicht sichtbare Gegenüber blickend, manchmal seine Hände zur Unterstützung seiner Worte nutzend.]
Gharabeih: Wenn Muslime den Begriff Sunna benutzen, vor allem im theologischen Kontext, dann wird damit in der Regel die Lebensweise des Propheten Mohammed bezeichnet, über die wir unterrichtet sind aus einzelnen Berichten, den so genannten Hadithen. Und diese Hadithe haben ganz verschiedene Inhalte. Teilweise geben sie wörtlich oder indirekt wieder, was der Prophet Mohammed gesagt hat, meistens auch in einer Interaktion mit seinen Gefährten, also auch Fragen und Antworten, manchmal aber auch als Handlungsaufforderung und -anweisung. Sie beinhalten aber auch Beschreibungen des Aussehens des Propheten, Beschreibungen seiner Handlungen etc. oder aber auch, wenn er gewisse Umstände einfach stillschweigend akzeptiert hat. Weil das für die Gläubigen dann auch einen normgebenden Charakter hat. Wenn der Prophet etwas gesehen hat und er hat das stillschweigend sozusagen zur Kenntnis genommen, dann war das ok.
[Zu sehen ist die fragende Hatice, dann wieder Dr. Mohammad Gharabeih – manchmal in Nahaufnahme. Im Hintergrund fahren gelegentlich Schiffe vorbei.]
Hatice: Warum ist sie so wichtig?
Gharabeih: Mann muss sich das vielleicht so vorstellen: Wenn du jetzt eine Nachricht von einer Bekannten bekommst und du sie nicht auf Anhieb verstehst, kannst du direkt zum Hörer greifen, zum Handy greifen und nachfragen. Das ging bei der Offenbarung Gottes nicht so einfach, aus gegebenem Grund. Der Prophet wurde aber eben nicht nur als Übermittler dieser Botschaft betrachtet, sondern auch als erster Interpret, bzw. sogar als Verkörperung des Geistes der Offenbarung, um das so zu formulieren. Deswegen hat man die Sunna des Propheten, also die Lebensweise des Propheten auch als eine Art Linse betrachtet oder als ein Prisma, durch das man auf die Offenbarung blickte, um die Offenbarung besser zu verstehen.
Eine zweite Sache ist auch, warum die Sunna so wichtig ist, ist ein relativ pragmatischer Grund. Die Religion des Islam an sich ist eine, die sehr viel Bedeutung eben auch auf Handlung legt. Es gibt für viele Bereiche Handlungsrichtlinien sozusagen. Im Detail erfährt man im Koran eben nicht, wie gebetet werden soll, oder welche Sachen man im Fastenmonat Ramadan machen darf, bzw. nicht machen darf etc. Und hier bietet eben die Sunna einen detaillierten Einblick darin. Deswegen sind die Religionsgelehrten auch dazu übergegangen, zumindest die Teile des prophetischen Lebens, die für theologische Normen wichtig sind, als fast schon göttlich inspiriert oder eben auch Teil der Offenbarung zu sehen. Deswegen ist die prophetische Sunna oder die Lebensweise eigentlich so wichtig und so normgebend auch für die Muslime.
[Zu sehen ist Hatice.]
Hatice: Unabhängig von den konkreten Anweisungen, les ich immer wieder in den Kommentaren, dass man darüber hinaus einfach in der Sunna nachlesen kann, was man zu tun hat. Stimmt das?
[Die Kamera zeigt wieder Dr. Mohammad Gharaibeh.]
Gharabeih: Die Sunna... oder die muslimischen Religionsgelehrten haben die Sunna eben auch als göttlich inspiriert betrachtet und von da an waren die Muslime immer sehr dankbar im Grunde dafür, dass sie eine konkrete Handlungsanweisung oder zumindest Angebote bekommen haben, ihr Leben zu meistern. Insbesondere in der Moderne, also heutzutage, wo es doch relativ viele Lebensentwürfe gibt, sind Muslime ganz dankbar, etwas zu haben, was da recht konkret ist. Und das ist die Sunna in vielen Bereichen. Man muss aber immer wieder bedenken, dass in den meisten Bereichen, in denen man die Sunna tatsächlich auch anwenden könnte, die muslimischen Gelehrten eher ein Kann und kein Muss gesehen haben.
[Im Bild ist Hatice.]
Hatice: Ich habe mich auf Malta mit Ömer getroffen, und er hat mir erklärt, dass die eindeutige Auslegung des Korans nicht so einfach ist. Wie ist das denn mit der Sunna?
[Zu sehen ist wieder Dr. Mohammad Gharaibeh.]
Gharabeih: Vielleicht, um das alles ein bisschen anschaulicher zu machen, könnte man sich mal die Dimensionen vor Augen führen, über was für einen Quellenkorpus man da eigentlich spricht. Wir haben ungefähr 10.000 - 15.000 Hadithe, von denen die Rechtsgelehrten in der Vergangenheit sagten, dass diese authentisch überliefert sind, also von denen man mit Gewissheit sagen kann, dass sie auf den Propheten zurückführen. Zu diesen Hadithen gibt es aber jeweils auch noch mal Varianten, die immer wieder auch kleine inhaltliche Nuancen, neue Bedeutungserweiterungen haben und dann wären wir schon bei 20.000 - 30.000 Hadithen. Und die unsicher überlieferten Hadithe, die man aber sicher auch z.T. berücksichtigen sollte, übersteigen noch mal ungefähr das Dreifache. Also wir haben einen Quellenkorpus von 70.000 - 90.000 Hadithen. Die muss man natürlich nicht alle kennen und die sind thematisch sehr verstreut. Die rechtsrelevanten, bzw. die theologisch relevanten Hadithe beschränken sich tatsächlich auf knapp 700-800 Hadithe. Du siehst schon daran, dass das, was jetzt wirklich für das gesellschaftliche Leben und die Theologie interessant ist, ist verschwindend klein in der Gesamtmasse.
Wenn man jetzt auf eine konkrete Frage einen Antwort suchen möchte, steht man zunächst vor der Herausforderung, diese Hadithe zu sichten. Dankenswerterweise gibt es Sammlungen, die auch thematisch geordnet sind etc, man könnte da ohne weiteres nachschlagen. Allerdings steht man dann immer noch vor der Herausforderung, die Aussage des Propheten auch richtig zu verstehen. Teilweise handelt es sich nämlich einfach nur um einen Satz, oder vielleicht auch nur ein Ja oder ein Nein. Also da muss man auch schon mal näher untersuchen, worauf sich diese Frage oder die Antwort des Propheten eigentlich bezieht. Das ist nicht so einfach. Dann muss man die Hürde der arabischen Sprache nehmen können, was nicht so einfach ist, weil die Sprache des Propheten genauso komplex ist, wie die Sprache des Korans und die heutzutage nicht wirklich verstanden wird. Die Gefahr, die dabei immer besteht, ist einfach auf Übersetzung zurückzugreifen, wobei man sich klar machen muss: Übersetzungen sind immer auch Interpretationen. Man kann eine Übersetzung nicht anfertigen ohne zu interpretieren.
Wenn man das Ganze gemacht hat, wofür man sicherlich eine langjährige Ausbildung braucht, steht man immer noch vor der Herausforderung, die Aussagen des Propheten, die eben vor 1400 Jahren getätigt wurden, in die Jetztzeit zu übertragen und zu schauen, was bedeutet das für mich heute?
[Man sieht Hatice in Großaufnahme, ihr Gegenüber ansprechend.]
Hatice: Ich habe ja schon einige Videos in dieser Reihe veröffentlicht und ich lese immer in den Kommentaren, dass ich einfach in der Sunna nachlesen muss, denn da steht alles und da gibt es auch keine Interpretationsmöglichkeiten. Stimmt das?
[Wieder ist Dr. Mohammad Garabeih zu sehen – wechselnd in Großaufnahme und etwas weiterer Einstellung in der auch sein Oberkörper zu sehen ist.]
Gharabeih: Also das ist einfach so, wenn man mit Texten, bzw. mit Aussagen zu tun hat, gibt es immer Verständnisschwierigkeiten und immer mehrere Wege etwas auszulegen. Man muss aber auch sagen, dass die prophetischen Aussprüche teilweise sehr detailliert sind. Und vor allem im Bereich der gottesdienstlichen Handlungen, also das rituelle Gebet etc., sind die Aussprüche des Propheten relativ konkret. Was trotzdem nicht heißt, das es da eben keinen Interpretationsspielraum gibt, was uns im Grunde die tägliche Praxis des Gebets vor Augen führt. Wir haben im Islam die vier Rechtsschulen und fast jede unterscheidet sich zumindest im Detail, was das Gebet angeht oder wie man es konkret machen soll. Also auch da wo es ganz konkrete Antworten gibt, gibt es eben auch Spielraum für Interpretation.
[Hatice ist zu sehen.]
Hatice: Kannst du dazu noch mehr sagen?
[Im Bild wieder Dr. Mohammad Garabeih.]
Gharabeih: Wenn wir heute mit Problemen konfrontiert sind, dann befinden sich darunter sicher auch welche, zu denen der Prophet sich nicht geäussert hat. Was muslimische Gelehrte früher gemacht haben, die auch mit diesen Problemen zu kämpfen hatten, die haben sich auch noch mal angeschaut, was haben die Prophetengefährten gemacht? Also da hat man auch noch mal geschaut, wie haben die Prophetengefährten die Sunna interpretiert, bzw. auch den Koran? Man hat versucht auch Analogien zu schließen, sprich also Dinge zu übertragen und auf neue Situationen anzuwenden. Aber auch versucht, sozusagen das Allgemeinwohl der muslimischen Gesellschaft zu berücksichtigen, bei der Themenfindung. Also selbst wenn man den Koran und die Sunna nimmt, womit man ja auch schon sehr weit kommt, gibt es aber immer wieder auch Themen, die sich damit nicht beantworten lassen. Da muss man dann eben über diesen Tellerrand des Korans und Sunna hinausblicken und Lösungen woanders finden und suchen.
[Hatice ist zu sehen.]
Hatice: Was bedeutet das für heute?
[Zu sehen ist wieder Dr. Mohammad Garabeih.]
Gharabeih: Genau. Für Muslime heute ist die Sunna aus mehreren Gründen eigentlich noch relevant. Zum einen sollte klar geworden sein, dass die Ableitung theologischer und religiöser Normen schon eine Sache ist, die sehr viel Expertise bedarf. Diese Diskussionen wurden eigentlich auch überwiegend in Gelehrtenkreisen geführt. Also der normale Muslim hat sich sicher damit nicht auseinandergesetzt. Es gibt aber eben wirklich unter dieser großen Masse an Aussprüchen, die eben nicht rechtsrelevant sind, oder nicht für den theologischen Gebrauch relevant sind, eben ganz ganz viele, die das alltägliche Leben ansprechen, die für den gläubigen Muslim in erster Linie identitätsstiftend sind. D.h. sie geben Halt im Leben, sie erzählen von konkreten Begebenheiten zwischen dem Propheten und den Prophetengefährten. Also durch diesen Dialogcharakter, den die Hadithe haben, kann sich der Muslim viel stärker mit diesem Teil der Religion identifizieren. Also die Prophetengefährten hatten Kummer, hatten Sorgen, vielleicht auch Zukunftsängste oder sonst irgendwas, hatten den Verlust von Angehörigen zu verarbeiten und sind damit zum Propheten gegangen und der hat auf solche Gegebenheiten eben reagiert, und Hilfestellungen gegeben. Und solche Sachen, das sind tatsächlich die Bereiche der Sunna, die im Leben eines Muslims auch den größten Wert gespielt haben in der Vergangenheit. Darunter befinden sich z.B. so Aussprüche, wie das der Prophet gesagt haben soll, dass nicht derjenige der Bessere ist, der aus einem Konflikt siegreich hervorgeht, sondern eher derjenige, der es gar nicht erst zu diesem Konflikt kommen lässt. Oder dass die Handlung, die man begeht, dass man die vordergründig nach der Absicht zu beurteilen hat etc. Und das sind denk ich Dinge, auf die der Muslim heute verstärkt achtet und nicht diese spitzfindigen theologischen Diskussionen im Hinterkopf hat.
[Zu hören ist nun Klaviermusik, zu sehen ist eine weite Kameraeinstellung auf den Rhein. Im Zeitraffer ziehen Schiffe vorüber. Dann sieht man ein Schiff im herbstlichen Sonnenlicht vorbeiziehen und schließlich Hatice und Dr. Mohammad Garabeih gemeinsam am Ufer entlanglaufen. Hatice ist nun aus dem Off zu hören, die Musik läuft im Hintergrund weiter. Die beiden sind in verschiedenen Einstellungen sich unterhaltend zu sehen, mal Dr. Mohammad Garabeih in Großaufnahme, dann beide auf einem Steg stehend, Hatice in Großaufnahme und schließlich die beiden aus großer Distanz einen herbstlichen Weg entlanglaufend.]
Hatice: Ich bin nach dem spannenden Gespräch noch ein bisschen mit Mohammed am Rhein entlang spaziert und habe mich dann wieder auf den Weg nach Hause gemacht. Es war mal wieder ein interessanter Tag und ich habe viele Gedanken und Eindrücke mitgenommen.
[Schließlich sehen wir Hatice wieder im Zug und Bilder eines vorbeiziehenden Bahnhofs aus dem Zugfenster gefilmt. Am Ende ist Hatice noch einmal in Großaufnahme auf dem Bahnhof zu sehen – sie blickt in die Kamera, lächelt und winkt. Dann sieht man wieder den Blick auf den Rhein mit der Einblendung der weißen handgeschriebenen Buchstaben (mit einem Herzsymbol) "Herzlichen Dank an Euch fürs Zuschauen!"]
Hatice: Ich bin gespannt, was ihr über die Sunna denkt und freu mich, dass wir wieder Expert_innen haben, die unsere Fragen zur Sunna auch in den Kommentaren beantworten. An dieser Stelle mal ein Dankeschön für ihre Arbeit bisher und auch ein Danke an die Bundeszentrale für politische Bildung. Aber vor allem natürlich auch an Mohammed. Und an euch - für's Reinschauen! Ich hoffe, ihr seid auch nächste Woche wieder dabei.
Mehr Informationen
Redaktion, Kamera, Schnitt, Drehbuch, Musik, Ton: Meimberg GmbH
Sprecher: Hatice Schmidt, Dr. Mohammad Gharaibeh
Wissenschaftliche Beratung: Saliha Kubilay, Marie Meimberg, Prof. Dr. Armina Omerika
Gesprächspartner: Dr. Mohammad Gharaibeh
Produktion: 05/11/2015
Spieldauer: 14 Min.
hrsg. von: Bundeszentrale für politische Bildung
Lizenzhinweise
Dieser Text und Medieninhalt sind unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Dr. Mohammad Gharaibeh Prof. Dr. Armina Omerika für bpb.de
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