Im Folgenden gehen wir der Frage nach, wie Unterricht für sehr heterogene, inklusive Lerngruppen ausgestaltet werden kann. Dabei zeigt sich, dass keine Patentlösung existiert. Um Bildungsprozesse in inklusiven Settings anzustoßen, ist ein "gemeinsamer Suchprozess zwischen Lehrenden und Lernenden" (vgl. Heinen 2003: 74) nötig. Das Bewältigen des "Spagats" zwischen den Bedarfslagen einzelner Lernender und allgemein zu vermittelnden Inhalten ist dabei ein grundsätzliches didaktisches Problem.
Ein Konzept, das dies berücksichtigt, entwickelte Georg Feuser mit seinem "Lernen am gemeinsamen Gegenstand" (Feuser 1989). Er unterbreitet didaktische Vorschläge, wie individuell angemessene Angebote für alle Schülerinnen und Schüler gefunden werden können. Angelehnt an einen idealisierten Baum, sollen aus einem gemeinsamen Lerngegenstand (Baumstamm) für alle Schülerinnen und Schüler der Lerngruppe individuell angemessene Angebote erwachsen. Die Lernangebote sind demgemäß unterschiedliche "Verästelungen", die die individuellen Zugangsmöglichkeiten der Lernenden berücksichtigen, sei es "Bewegen, Sehen, Hören, Anfassen", "sinnlich-konkretes, materialisiertes Erfassen", "formal-logisches Denken" oder "Sprache, Schrift, Formeln" (Feuser 1989: 31). Die Lernenden arbeiten also an individualisierten Aufgaben. Der Gefahr, dass die Schülerinnen und Schüler durch Individualisierungsmaßnahmen isoliert werden oder die Lerngruppe zerfällt, versucht Feuser zu begegnen, indem diese individuellen, "entwicklungslogischen" (ebd.: 33) Angebote stets in projektartige, gemeinschaftliche Kontexte eingebunden werden.
Hans Wocken kritisiert dieses enge Verständnis gemeinsamen Unterrichts als unrealistisch. Basierend auf der Annahme, dass jene Höchstformen kooperativen Lernens nur einen sehr kleinen Teil unterrichtlicher Realität darstellen, unterbreitet Wocken einen Alternativvorschlag. Dabei geht er davon aus, dass gemeinsamer Unterricht in Form unterschiedlichster Lernsituationen stattfinden kann (vgl. Wocken 1998: 40 ff.):
Koexistente Lernsituationen: Schülerinnen und Schüler arbeiten parallel zueinander an unterschiedlichen, individuell angemessenen Aufgaben. Es handelt sich also um eine Lernform, mit der auch großer Heterogenität begegnet werden kann. Kontakte und Austausch ergeben sich eher zufällig.
Kommunikative Lernsituationen: Schülerinnen und Schüler begegnen sich frei und lernen kommunikativ, z. B. in Pausen oder freien Unterrichtsphasen. Die Lernenden haben dadurch die Chance, sich als eigenständige Individuen zu erleben, sich aber auch zu vergesellschaften. Diese Prozesse sind didaktisch oft wenig planbar.
Subsidiäre Lernsituationen: Schülerinnen und Schüler helfen einander. Dies kann dabei eher beiläufig, neben der Arbeit an einer eigenen Aufgabe stattfinden; es kann aber auch zur vornehmlichen Aufgabe einer Schülerin oder eines Schülers werden.
Kooperative Lernsituationen: Schülerinnen und Schüler arbeiten gemeinsam. Hierbei kann es sich um eine "komplementäre Situation" handeln. Eine solche ist arbeitsteilig und individualisiert; das Ziel wird durch das Zusammenkommen einzelner Arbeitsergebnisse erreicht. Das Lernen kann aber auch in einer "solidarischen Situation" stattfinden. Eine solche ist vergleichbar mit Feusers "Lernen am gemeinsamen Gegenstand". Wocken bewertet diese Form als unterrichtliche "Sternstunde", die nur sehr selten erreichbar sei.
Dieses breite Verständnis gemeinsamen (inklusiven) Lernens eröffnet reichhaltige Möglichkeiten, Unterricht zu planen und Lernende mit unterschiedlichsten Lernbedürfnissen und Vorerfahrungen an relevante (z. B. politische) Kulturgüter der Menschheit heranzuführen.
Ein weiterer Vorschlag zur didaktischen Auswahl und Aufbereitung von Bildungsangeboten für äußerst heterogene Lerngruppen ist das Konzept der "Elementarisierung". Mit den Worten Eduard Sprangers können "Elementaria" als "geistige Urakte" (Spranger 1964: 87) menschlichen Denkens und menschlichen Schaffens verstanden werden. Dies verweist darauf, dass hinter den heute vorliegenden abstrakten Fachbegriffen, Phänomenen und Verfahrensweisen erste, natürliche Begegnungen, Probleme, Fragen und Erkenntnisse stecken, bei denen das Denken und Forschen seinen Anfang genommen hat.
Elementarisierung als didaktische Tätigkeit widmet sich also der "Laienfrage" (Heinen 1988: 139), wie ein fachlicher Neuling an Bildungsinhalte herangeführt und für diese erschlossen werden kann, ohne die dargebotenen Inhalte unzulässig zu vereinfachen oder gar bis zur Unkenntlichkeit zu verfremden. Ziel der Suche nach angemessenen Bildungsinhalten für alle Schülerinnen und Schüler ist für Heinen eine adressatenbezogene Darbietung fachlich korrekter "Konzentrationen" (ebd.: 3) von Inhalten.
Mit Bezug auf die Didaktik der politischen Bildung geht es also darum, demokratische und politische "Urideen" zu identifizieren, zu exponieren und für Lernende individuell erfahrbar zu machen. Dabei soll unbedingt vermieden werden, diese zu trivialisieren. Auf der Suche nach geeigneten Unterrichtsgegenständen soll der/die Lehrende bei der Planung den relevanten Kern aus verschiedenen Perspektiven verfolgen: Aus fachwissenschaftlicher Sicht, aus entwicklungspsychologischer Sicht, aus Sicht der Gesellschaft, aus Sicht der Menschheit und aus Sicht des Lernenden. Gerade bei schwerer beeinträchtigten Schülerinnen und Schülern werden dabei besondere Formen der Inszenierung, Kommunikation und Hilfestellung entwickelt werden müssen. Mit Blick auf die Elementarisierung politischer Lerninhalte plädieren aber durchaus auch einzelne Fachdidaktikerinnen und -didaktiker dafür, dass sich politisch Bildende bei der Elementarisierung "etwas trauen" müssen (Detjen 2011: 220).
Heinen fordert dabei, am Potenzial der Lernenden anzuknüpfen (vgl. Heinen 1988: 53 ff.). Es gilt also, Lernbemühungen daran auszurichten, was entstehen kann, anstatt Menschen von vornherein von Inhalten auszuschließen. Diese Suchprozesse müssen als "nicht abschließbar" aufgefasst werden. Inklusive Bildung darf sich nicht darin erschöpfen, Menschen nach dem "Dabei-sein-ist alles-Prinzip" als nicht-teilnehmende Zuschauer in das Klassenzimmer zu bringen und irgendwie zu beschäftigen (vgl. Feuser 1989: 23; 41). Es geht vielmehr um die Suche nach Möglichkeiten der aktiven Auseinandersetzung mit sich selbst und der uns Menschen umgebenden (politischen) Welt.
Der von Heinen skizzierte Ansatz der Elementarisierung, Feusers Idee des "Lernens am gemeinsamen Gegenstand" sowie die "gemeinsamen Lernsituationen" nach Wocken sind praktische Hilfestellungen, um sich auf die Suche nach geeigneten Bildungsangeboten zu begeben. Ihnen gemein ist der Ansatz, dass Unterricht in besonders heterogenen Lerngruppen nicht durch einen Unterricht für alle gewährleistet werden kann, sondern Momente der Binnendifferenzierung und Individualisierung enthalten muss, dass eine Vielfalt der Lernenden auch zu einer Vielfalt der Zielsetzungen und Zugänge führen muss. Zudem bedarf es eines sinnvollen Verhältnisses zwischen individualisiertem und gemeinsamem, gemeinschaftlichem Lernen.
Fazit
Inklusive Bildungsprozesse verlangen von Lehrenden breites didaktisches und fachliches Wissen, Zutrauen, dass fachliche Bildungsinhalte für alle Schülerinnen und Schüler relevant sind, und Mut, sie deshalb allen Schülerinnen und Schülern anzubieten und sich auf die gemeinsame Suche nach angemessenen Vermittlungswegen zu machen. Dabei kann es für inklusive Bildungsangebote keine Patenrezepte geben, sondern es kommt vielmehr auf mutige, kreative und reflexive Planende an, welche einen Blick für die individuellen Ausgangslagen der Lerngruppe haben. Ein Blick, allein auf jene Dinge, die "vermutlich nicht funktionieren werden", wird dabei wenig gewinnbringend sein.
Literatur
Detjen, Joachim (2011): Elementarisierung. Grundsätzliche Überlegungen zur Brauchbarkeit eines didaktischen Schlüsselbegriffs für die politische Bildung. In: Frech, Siegfried (Hrsg.): Bürger auf Abwegen? Politikdistanz und politische Bildung. Siegfried Schiele für seine Verdienste um die Didaktik politischer Bildung. Schwalbach/Ts. S. 207–240.
Feuser, Georg (1989): Allgemeine integrative Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik. In: Behindertenpädagogik, Jg. 28, H. 1. S. 4–48.
Heinen, Norbert (1988): Elementarisierung als Forderung an die Religionsdidaktik mit geistigbehinderten Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Dissertation, Universität zu Köln. Aachen.
Heinen, Norbert (2003): Überlegungen zur Didaktik mit Menschen mit schwerer Behinderung. In: Lamers, Wolfgang/Klauß, Theo (Hrsg.): … Alle Kinder alles lehren! – Aber wie? Theoriegeleitete Praxis bei schwer- und mehrfachbehinderten Menschen, Günther Dörr zum 70. Geburtstag. Düsseldorf. S. 55–77.
Spranger, Eduard (1964): Die Fruchtbarkeit des Elementaren. In: ders. (Hrsg.): Pädagogische Perspektiven. Beiträge zu Erziehungsfragen der Gegenwart. Heidelberg. S. 87–92.
Wocken, Hans (1998): Gemeinsame Lernsituationen. Eine Skizze zur Theorie des gemeinsamen Unterrichts. In: Hildeschmidt, Anne/Schnell, Irmtraud (Hrsg.): Integrationspädagogik. Weinheim. S. 37–52.
Der Artikel ist eine gekürzte Fassung des Aufsatzes Christoph Ratz / Jan Markus Stegkemper /Manuel Ullrich (2020), Didaktik der inklusiven Schulbildung. In: Externer Link: Meyer, D./Hilpert, W./Lindmeier, B. (Hrsg.): Grundlagen und Praxis inklusiver politischer Bildung. Bonn. S. 133 - 149. Dort finden Sie auch weitere Literatur.