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Anforderungen an eine inklusive Schulbildung

Christoph Ratz Jan Markus Stegkemper Manuel Ullrich

/ 6 Minuten zu lesen

Lernangebote sollten von vornherein (auch) mit Blick auf die individuellen Erfahrungen, Zugänge und Bedarfe schwerer beeinträchtigter Schülerinnen und Schüler vorbereitet werden.

Meist werden Inhalte für äußerst heterogene Lerngruppen aufbereitet, indem zunächst für jenen Teil der Schülerinnen und Schüler geplant wird, der relativ homogene Leistungen zeigt. Erst in einem zweiten Schritt werden die Inhalte für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler reduziert oder "heruntergebrochen" (vgl. Feuser 2002: 290). Diese nachträgliche Reduktion ist für Lehrende teilweise äußerst schwierig; besonders aufgrund der sprachlichen Verfasstheit abstrakter Lerngegenstände (vgl. Dönges/Stegkemper/Wagner 2018: 189). Es besteht die Gefahr, dass Inhalte massiv verkürzt werden oder Lehrende gar zu dem Schluss gelangen, einzelnen Schülerinnen und Schülern Inhalte gar nicht anzubieten.

Es erscheint deshalb zielführender, Lernangebote von vornherein (auch) mit Blick auf die individuellen Erfahrungen, Zugänge und Bedarfe schwerer beeinträchtigter Schülerinnen und Schüler vorzubereiten. Werden Lerngegenstände zunächst für jene Schülerinnen und Schüler aufbereitet, denen man die Auseinandersetzung damit am wenigsten zutraut, ermöglicht dies eine besonders tiefgehende Analyse der Zugänge und Barrieren. Die dabei gewonnenen Einsichten können dann in die Lehrplanung für alle Schülerinnen und Schüler einfließen. Eine jener Gruppen, die besonders schnell droht außen vor gelassen zu werden, ist die Schülerschaft mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung.

Der Förderbedarf geistige Entwicklung wird vielfach aufgrund einer diagnostizierten kognitiven Beeinträchtigung zugesprochen. Mit Blick auf das Themenfeld Politik stellt sich also die Frage, wie sich menschliche Fähigkeiten in diesem Bereich entwickeln und welche Bedeutung kognitiven Kompetenzen dabei zukommt. Der Politikdidaktiker Joachim Detjen ist dieser Frage nachgegangen. Er argumentiert, dass "[d]ie Demokratie […] mehr als jede andere Regierungsform auf das Verstehen ihrer Funktionslogik durch die Bürgerinnen und Bürger angewiesen [ist]" (Detjen 2005: 290; H.i.O.) und "dass die Menschen sich geistig, also kognitiv anstrengen müssen, um der Demokratie gerecht werden zu können" (ebd.).

Eine kognitive Beeinträchtigung erscheint damit zunächst als weitreichende Barriere für den Aufbau politischen Wissens und politischer Partizipation. Gleichzeitig bemerkt Detjen aber, dass kleinteiligem politischen Faktenwissen nur eine untergeordnete Bedeutung zukomme – viel wichtiger seien Orientierungs- und Deutungswissen (vgl. ebd.: 287). An Detjens Ausführungen anknüpfend beschreiben Frank Schiefer, Werner Schlummer und Ute Schütte, dass politische Bildung damit auch für Schülerinnen und Schüler mit kognitiven Beeinträchtigungen bedeutsam werden kann – für manche im weiteren Sinne, für andere auch im engeren Sinne (vgl. 2011: 241). Besonders wenn Politik im engeren Sinne behandelt wird, sind die Inhalte sprachlich aber oftmals sehr abstrakt. Mit Blick auf inklusiven Unterricht stellt sich daher die Frage, inwieweit Schülerinnen und Schüler mit kommunikativen und/oder kognitiven Beeinträchtigungen sich mit entsprechenden Inhalten auseinandersetzen können. Erste Antworten hierzu liefert die Studie Schülerschaft mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (SFGE) (Dworschak u. a. 2012).

Die Studie zeigt, dass ein beträchtlicher Teil der Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung beim Lernen (im inklusiven Unterricht) auf sprachliche und kommunikative Barrieren stoßen kann – so lange Lehrende sich nicht bemühen, diese individuell angemessen zu minimieren oder zu umschiffen. Ein inklusiver Unterricht, der alle Schülerinnen und Schüler erreichen soll, darf (politische) Inhalte also nicht nur sprachlich-abstrakt thematisieren. Das Konzept der leichten bzw. einfachen Sprache kann Impulse geben, wie vermeintlich komplizierte Sachverhalte besser verständlich aufbereitet werden können. Es sollte aber keinesfalls unhinterfragt genutzt werden: Was als leicht oder schwierig wahrgenommen wird, ist immer abhängig von individuellen (schrift-) sprachlichen Kompetenzen und Lernerfahrungen. Die eine leichte oder einfache Sprache für alle Personen einer Zielgruppe kann es deshalb nicht geben. Eine Umarbeitung in leichte oder einfache Sprache aufgrund vorliegender Regelwerke darf also niemals als einfache "Übersetzungsarbeit" missverstanden werden. Sie ist vielmehr ein didaktischer Prozess, in dem Kerninformationen identifiziert und mit Blick auf individuelle Adressatinnen und Adressaten sprachlich angemessen aufbereitet werden müssen (vgl. Dönges/Stegkemper/Wagner 2018: 184 ff.).

Um tatsächlich allen Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden, gilt es zudem, ihre Individualität zu berücksichtigen. Dies ist umso bedeutsamer, je umfassender eine Behinderung oder Beeinträchtigung ist. Individuelle Ausprägungen zeigen sich dabei auch mit Blick auf Biografisches und Subjektives. So haben z. B. viele Schülerinnen und Schüler persönliche Benachteiligungs- oder Stigmatisierungserfahrungen gemacht und entstammen Herkunftsfamilien, die überproportional häufig sozioökonomisch belastet sind (vgl. Dworschak/Ratz 2012). Mitunter ergeben sich auch Erschwernisse durch verhinderte oder nicht zugetraute Selbstbestimmung bzw. erlernte Hilflosigkeit. Insbesondere Menschen mit geistiger Behinderung sind in besonderem Maße gefährdet, unreflektierter Bevormundung durch Bezugspersonen ausgesetzt zu sein.

Eine bevormundende Haltung zeigte sich lange Zeit auch mit Blick auf das (Nicht-)Zumuten fachlicher Inhalte. So wurde Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung unterstellt, allein "praktisch bildbar" zu sein. Entsprechend wurden ihnen vornehmlich möglichst konkrete, lebenspraktisch bedeutsame Inhalte angeboten. Fachliche Inhalte hingegen wurden ihnen oftmals vorenthalten (vgl. Ratz 2011; Riegert/Musenberg 2015). Für vermeintlich abstrakte Lerngegenstände, wie z. B. Politik, zeigt sich dies bis heute.

Erfreulicherweise existieren inzwischen aber verschiedene fachdidaktisch hervorgebrachte Konzepte, die erste hilfreiche Anknüpfungspunkte für eine (inklusive) politische Bildung mit Blick auf den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung darstellen. Sich an diesen Inhalten und Konzepten zu orientieren, kann auch dazu beitragen, dass kein unverbunden dastehendes Sonder-Curriculum geschaffen wird, sondern allgemein relevante Überlegungen aufgegriffen und um fachrichtungsspezifische Aspekte ergänzt, modifiziert und geschärft. Auf diesem Weg könnte bestenfalls ein wirklich allgemeines Curriculum entstehen, das verschiedenste Niveaustufen und Lernwege berücksichtigt (vgl. Ratz 2017: 179).

Fazit

Eine qualitativ hochwertige inklusive Bildung muss den Spagat meistern, alle Schülerinnen und Schüler voranzubringen, indem sie deren individuellen Bedarfe ernst nimmt. Der Blick auf offensichtliche und offenkundige Herausforderungen und Barrieren des Bildungszugangs kann als Erweiterung der Planungsperspektiven verstanden werden und somit auch anderen Lernenden zugutekommen. Durch den Fokus auf Menschen mit geistiger Behinderung wurde gezeigt, dass an der Schnittstelle von allgemeiner Pädagogik, Sonderpädagogik und Fachdidaktik gewinnbringende Überlegungen und Konzepte entstehen können. Diese eröffnen Perspektiven, wie inklusive (politische) Bildung auch in äußerst heterogenen Gruppen umgesetzt werden kann – sogar für jene Schülerinnen und Schüler, denen eine Auseinandersetzung mit komplexen Bildungsinhalten zuvor nicht zugetraut wurde.

Literatur

Detjen, Joachim (2005): Von der Notwendigkeit kognitiver Anstrengungen beim Demokratielernen. In: Himmelmann, Gerhard/Lange, Dirk (Hrsg.): Demokratiekompetenz. Beiträge aus Politikwissenschaft, Pädagogik und politischer Bildung. Wiesbaden. S. 286–298.

Dönges, Christoph/Stegkemper, Jan Markus/Wagner, Michael (2018): Sprache als eine Barriere politischer Partizipation von Menschen mit geistiger Behinderung. In: Bock, Bettina M./Dreesen, Philipp (Hrsg.): Sprache und Partizipation in Geschichte und Gegenwart. Bremen. S. 177–192.

Dworschak, Wolfgang/Kannewischer, Sybille/Ratz, Christoph/Wagner, Michael (Hrsg.) (2012): Schülerschaft mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (SFGE). Eine empirische Studie. Oberhausen.

Dworschak, Wolfgang/Ratz, Christoph (2012): Soziobiographische Aspekte der Schülerschaft mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. In: Dworschak, Wolfgang/Kannewischer, Sybille/Ratz, Christoph/Wagner, Michael (Hrsg.): Schülerschaft mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (SFGE). Eine empirische Studie. Oberhausen. S. 27–48.

Feuser, Georg (2002): Momente entwicklungslogischer Didaktik einer Allgemeinen (integrativen) Pädagogik. In: Eberwein, Hans/Knauer, Sabine (Hrsg.): Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Beeinträchtigung lernen gemeinsam. Ein Handbuch. Weinheim. S. 280–294.

Ratz, Christoph (2011): Zur Bedeutung einer Fächerorientierung. In: ders. (Hrsg.): Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Fachorientierung und Inklusion als didaktische Herausforderung. Oberhausen. S. 9–40.

Ratz, Christoph (2017): Inklusive Didaktik für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. In: Fischer, Erhard/Ratz, Christoph (Hrsg.): Inklusion – Chancen und Herausforderungen für Menschen mit geistiger Behinderung. Weinheim. S. 172–191.

Riegert, Judith/Musenberg, Oliver (2015): Inklusiver Fachunterricht in der Sekundarstufe. Stuttgart.

Schiefer, Frank/Schlummer, Werner/Schütte, Ute (2011): Politische Bildung für alle?! – Anbahnung von Politik- und Demokratie-Kompetenz bei Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. In: Ratz, Christoph (Hrsg.): Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Fachorientierung und Inklusion als didaktische Herausforderungen. Oberhausen. S. 241–261.

Der Artikel ist eine gekürzte Fassung des Aufsatzes Christoph Ratz / Jan Markus Stegkemper / Manuel Ullrich (2020), Didaktik der inklusiven Schulbildung. In: Externer Link: Meyer, D./Hilpert, W./Lindmeier, B. (Hrsg.): Grundlagen und Praxis inklusiver politischer Bildung. Bonn. S. 133 - 149. Dort finden Sie auch weitere Literatur.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Christoph Ratz ist Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogik bei Geistiger Behinderung am Institut für Sonderpädagogik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Kontakt: E-Mail Link: christoph.ratz@uni-wuerzburg.de

Jan Markus Stegkemper, M.Ed., Sonderpädagogik, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Pädagogik bei Geistiger Behinderung der Universität Würzburg. Kontakt: E-Mail Link: jan.stegkemper@uni-wuerzburg.de

Manuel Ullrich ist Studienrat im Förderschuldienst und zur Lehre an die Universität Würzburg abgeordnet.