RELIGIONSFREIHEIT – An was glaubst du?
Es gibt zahlreiche Religionen und Glaubensrichtungen und aufgrund der Religionsfreiheit, darf jede und jeder auch glauben, woran er oder sie will. Doch warum ist das wichtig und wo liegen die Grenzen der Religionsfreiheit? - Darum geht’s im heutigen Video!
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Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist gleich zu Beginn von Gott die Rede. Im ersten Satz der Präambel heißt es, dass sich das deutsche Volk diese Verfassung "in Verantwortung vor Gott und den Menschen" gegeben hat. Man könnte sich nun die Frage stellen, ob diese positive Bezugnahme auf Gott nicht in einem Widerspruch zu Artikel 4 des Grundgesetzes steht, in dem erklärt wird, dass die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses unverletzlich sind? Denn dieses Grundrecht bedeutet ja nicht nur Freiheit zu Religion, also dass jeder Mensch einen Glauben haben (Glaubensfreiheit), bekennen (Bekenntnisfreiheit) und praktizieren (Kultusfreiheit) kann – und zwar allein und mit anderen zusammen (religiöse Vereinigungsfreiheit). Religionsfreiheit bedeutet auch Freiheit von Religion. Jeder Mensch hat auch die Freiheit, keinen Glauben zu haben, und die Freiheit, die Religion, in der man aufgewachsen ist, abzulegen. Staatlich garantierte Religionsfreiheit bedeutet zudem, dass niemand durch eine staatliche Stelle zu einem Glauben gezwungen werden darf.
Hier kommt ein bestimmtes Menschenbild zum Tragen, das für die Verfassung Deutschlands wesentlich ist. Danach ist jeder Mensch mit einer unverfügbaren – das bedeutet: einer von anderen nicht in Frage zu stellenden – Würde ausgestattet und in der Lage, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, die er vor seinem Gewissen verantwortet. Deswegen ist der Artikel 4 auch eng verbunden mit Artikel 1 des Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Grundlage aller staatlichen Gewalt."
Der Staat hat die Aufgabe, die Menschen so zu schützen, dass sie ihre eigenen Entscheidungen treffen können – mit Blick auf Religion: also was man glaubt, ob man überhaupt an etwas glaubt oder eben nicht, ob man den Glauben wechseln will, dass man den Glauben allein und mit anderen zusammen auch ausleben kann und sich in seinem Leben nach religiösen oder anderen ethischen Vorschriften richtet.
Insofern kann der Gottesbezug in der Präambel nicht zu einem Bekenntnis zwingen und Nicht-Gläubige können diese Formulierung durchaus als Zumutung auffassen, die historisch allerdings erklärbar ist: Das Grundgesetz wurde zu einer Zeit geschrieben, als die allermeisten Bürgerinnen und Bürger Angehörige einer der christlichen Konfessionen gewesen waren.
Nach den Greueltaten des Nationalsozialismus, für die das deutsche Volk Verantwortung trug – und bis heute Verantwortung dafür trägt, dass sich so etwas nicht wiederholt – wollte der Verfassungsgeber damit ausdrücken, dass die Verpflichtung auf Freiheit für alle Menschen, Frieden und Gerechtigkeit der Bürgerschaft gewissermaßen ein heiliges Anliegen ist, so wichtig, dass es dies nicht nur vor anderen Menschen, sondern eben auch vor Gott zu bekennen galt. Die individuelle Religionsfreiheit in Artikel 4 kann aber von der Gottesnennung in der Präambel nicht eingeschränkt werden, weil die Grundrechte als unmittelbar geltendes Verfassungsrecht sind und die Präambel nur ein Vorspruch zur Verfassung ist.
Die Grundrechte (wie z. B. Religionsfreiheit) sind also wichtiger als die Präambel, so dass kein Grundrecht von ihr eingeschränkt werden kann. Wenn in einem Staat die Religions- und Gewissensfreiheit in diesem Sinne umfassend gewährleistet wird, dann handelt es sich um einen säkularen Staat. Säkular bedeutet "weltlich": Der Staat ist auf die diesseitige Welt und nicht auf ein Jenseits bezogen, er soll weltliche Zwecke erfüllen, wie den Frieden nach außen (kein Krieg) und Sicherheit nach innen (z. B. Schutz vor einer Pandemie wie Corona) garantieren.
Der Staat ist nicht dafür zuständig, ob die Menschen, die in ihm mit oder ohne eine Religion leben, ihren Seelenfrieden finden. Würde der Staat sich dafür zuständig erklären, dann wäre nicht der Frieden garantiert, sondern der Unfrieden. Denn auf die Seite welcher Religion oder Nicht-Religion oder Weltanschauung sollte er sich stellen? Deswegen darf der Staat seine Politik nicht mit religiösen Zwecken, zum Beispiel abgeleitet aus der Bibel oder dem Koran oder einer anderen Schrift, rechtfertigen. In der Wissenschaft und der Rechtsprechung wird dies auch als das Prinzip der religiösen und weltanschaulichen Neutralität bezeichnet: egal ob in einem Staat die Mehrheit der Bürger einer bestimmten Religion anhängen oder die Mehrheit nichtgläubig ist – der Staat darf sich nicht auf eine Seite schlagen und muss vielmehr die "Heimstatt", also die Heimat, aller Bürgerinnen und Bürger sein. So hat es das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zu Artikel 4 Grundgesetz gesagt.
Deswegen müssen auch die staatlichen Instanzen und die religiösen Autoritäten grundsätzlich getrennt sein, was allerdings nicht ausschließt, dass Staat und Religionsgemeinschaften in manchen Bereichen im Rahmen eines partnerschaftlichen Verhältnisses zusammenarbeiten, etwa im Gesundheitswesen oder im Sozialbereich, in dem viele Einrichtungen wie Krankenhäuser und Altenheime in der Trägerschaft von Religionsgemeinschaften sind.
Das partnerschaftliche Verhältnis kommt auch in der Kirchensteuer zum Ausdruck. Diese ist keine für alle geltende staatliche Steuer zugunsten der beiden großen christlichen Kirchen, sondern letztlich ein persönlicher Mitgliedsbeitrag der Angehörigen der katholischen und evangelischen Kirche, dessen Höhe sich nach dem Einkommen richtet, die durch die staatlichen Finanzämter eingetrieben wird. Zwar entrichten die Kirchen hierfür eine Gebühr, es ist aber gleichwohl umstritten, ob der staatliche Kirchensteuereinzug nicht das Trennungsgebot von Staat und Kirche verletzt.
Der Schutz der Religions- und Gewissensfreiheit ist umfassend, und dem Artikel 4 kommt ein besonders hoher Rang zu, aber die Religionsausübung ist nicht unbegrenzt. Die Freiheitsausübung findet eine Grenze an anderen von der Verfassung geschützten Prinzipien und Rechten. Hier kommt es regelmäßig zu Konflikten, die auch gerichtlich ausgetragen werden und nicht selten am Ende vom Bundesverfassungsgericht entschieden werden müssen. Gerade in der Schule prallen die Ansprüche aufeinander. Warum darf eine Schülerin ein Kopftuch tragen, eine Lehrerin aber in einigen Bundesländern nicht? Wenn die Schülerin sich entscheidet (oder, falls sie noch nicht religionsmündig, also 14 Jahre alt ist, ihre Eltern für sie), aus religiösen Gründen ein Kopftuch zu tragen, nimmt sie ihr individuelles Recht auf positive Religionsfreiheit wahr, und es gibt keine entgegenstehenden Rechtsgüter, die diese Freiheit beschränken könnten. Anders bei der Lehrerin: Sie repräsentiert in gewisser Weise den Staat, und der ist zu Neutralität verpflichtet. Ob das Kopftuch der Lehrerin wirklich die religiöse Neutralitätspflicht des Staates beeinträchtigt, ist aber umstritten. Natürlich darf ein Lehrer oder eine Lehrerin nicht für die eigene Religion im Unterricht werben. Aber ob eine unzulässige Beeinflussung auf die Schülerschaft allein schon durch das Tragen eines Kopftuchs oder auch das sichtbare Kreuz an der Halskette ausgeht, darüber gehen die Meinungen nicht nur bei Juristinnen und Juristen auseinander. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem ersten Kopftuch-Urteil aus dem Jahr 2003 dazu gesagt, dass von der Verfassung her beides möglich, Verbot oder Erlaubnis, und dass eine so strittige Frage parlamentarisch und nicht gerichtlich zu entscheiden sei.
Wegen der Kultushoheit der Länder fallen Schulfragen in deren Kompetenz, und so erklärt sich, dass es in Deutschland keine einheitliche Regelung gibt: Während in Berlin alle religiösen Symbole verboten sind, sind es in anderen Ländern wie zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen zwar auch solche, die die Neutralität des Landes gefährden oder den Schulfrieden stören. Aber die christlichen Symbole werden nicht dazu gerechnet, denn – so das Argument – ein Kreuz repräsentiere eine historisch gewachsene Tradition und stehe so nicht für einen Glaubensinhalt. Anders das aus religiösen Gründen getragenen Kopftuch, das muslimischen Lehrerinnen in NRW grundsätzlich verboten wurde zu tragen.
Gegen dieses Gesetz wurde Verfassungsbeschwerde eingelegt, und das Bundesverfassungsgericht hat in seinem zweiten Kopftuchurteil von 2015 entschieden, dass ein pauschales Verbot verfassungswidrig sei und es vielmehr immer auf die konkrete Bedrohung des Schulfriedens ankomme. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Urteil auch hervorgehoben, dass "(d)ie dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen (ist), sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung".
In einem dritten Kopftuch-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 aber auch entschieden, dass die Einschränkung der Glaubensfreiheit für bestimmte Personen im Staatsdienst doch gerechtfertigt ist: nämlich im Bereich der Justiz. Richterinnen und Staatsanwältinnen und sogar Rechtsreferendarinnen (also Juristinnen in der Ausbildung) darf gesetzlich das Tragen eines Kopftuchs verboten werden. Der Gerichtssaal und die in ihm den Staat repräsentierenden Amtsträger sollen in besonderer Weise die Neutralität des Staates verkörpern, was in Zeiten wachsender religiöser Pluralität für wichtig gehalten wird. Aber nicht alle Konflikte können und sollten rechtlich ausgetragen werden. Oft ist zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften oder auch zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen einfach nur Toleranz gefragt, vor allem von einer Mehrheit gegenüber Angehörigen von Religionsgemeinschaften, die sich in der Minderheit befinden.
Auf Toleranz hat man keinen Rechtsanspruch, Toleranz ist vielmehr eine Haltung, die nicht erzwungen werden kann, auf deren Vorhandensein aber gerade eine pluralistische Gesellschaft besonders angewiesen ist. Wer tolerant ist, duldet oder erträgt eine andere Meinung, ein vom eigenen Verhalten abweichendes Verhalten oder eben einen anderen Glauben, auch wenn er oder sie diese Meinung, das Verhalten oder den Glauben völlig ablehnt.
Je pluraler eine Gesellschaft zusammengesetzt ist, desto wichtiger ist es, dass es in ihr geteilte Werte gibt – Toleranz und Friedfertigkeit gehören dazu. Es braucht Orte, in denen dieses tolerante und friedfertige Miteinander gelernt wird. Hier kommt wieder der Schule eine besondere Rolle zu. Der Staat teilt sich mit den Eltern die Erziehungsaufgaben, und auch hier kann es zu Konflikten aufgrund der Religionszugehörigkeit kommen. Viele muslimische Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder – genauer gesagt: ihre Töchter – mit Jungen gemeinsam Sportunterricht erhalten, und sie melden die Töchter vor allem vom Schwimmunterricht ab. Auch gemeinsame Klassenfahrten werden als mögliche Bedrohung des Glaubens angesehen, da befürchtet wird, es komme zur Verletzung religiöser Gebote. Aber in einem Staat, in dem es eine staatliche Schulpflicht gibt, muss es einen gemeinsamen Unterricht und auch gemeinsame Klassenfahrten geben, da nur so das Miteinander in Vielheit und Toleranz geübt und vor allem bei allen unterschiedlichen religiösen Bekenntnissen auch das, was gemeinsam ist, wahrgenommen werden kann.
ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Ihr Forschungsgebiet ist der demokratische Verfassungsstaat und das Verhältnis von Politik, Recht und Religion sowie Politik und Natur.
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