Kompetenzen sind das Schlagwort der Stunde. Die Bildungspolitik hat sich im Anschluss an die Empfehlungen der Klieme-Expertise auf die Fahnen geschrieben, Kompetenzmodelle und Bildungsstandards zu entwickeln. Was aber verbirgt sich hinter diesem Begriff? Ob und wie unterscheidet sich diese neue Form der Kompetenzorientierung von der Lernzielorientierung? Inwiefern kann eine valide Messung der Kompetenzentwicklung überhaupt gelingen? Dies sind Fragen, die in der Didaktik der politischen Bildung kontrovers diskutiert werden.
Die Ergebnisse internationaler Schulleistungsstudien wie PISA und TIMSS haben zu Beginn des Jahrtausends zum sogenannten „Pisa-Schock“ geführt: Deutsche Schülerinnen und Schüler erreichten bei der Lösung der Testaufgaben nur Mittelmaß! Die deutschen Schulen, von denen man immer angenommen hatte, dass sie im internationalen Vergleich besonders gut dastehen, wurden plötzlich kritisch betrachtet. Das Zauberwort, das für die geboten erscheinende Neuorientierung schulischer Bildung in den Fokus rückte, war die Kompetenzorientierung.
Die Kultusministerkonferenz (KMK) gab eine Expertise in Auftrag, die 2003 unter dem Titel „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“ publiziert wurde und heute meist nach ihrem Hauptautor Eckhard Klieme als „Klieme-Expertise“ bezeichnet wird (Klieme 2009). Diese Expertise avancierte sehr schnell zu einer Art „Bibel“ der neuen Kompetenzorientierung. Dabei ist der Begriff „Kompetenz“ nicht neu. In Anlehnung an Heinrich Roth – der in seiner erstmals 1971 erschienenen „Pädagogischen Anthropologie“, Mündigkeit als Sachkompetenz, Sozialkompetenz und Selbstkompetenz definierte – hatte sich der Kompetenzbegriff in der beruflichen Bildung schon in den 1970er Jahren durchgesetzt. Kompetenzen wurden von Roth primär als überfachliche Fähigkeiten verstanden, die Selbstbestimmung ermöglichen (Roth 1976, S. 180). Die Autorin und die Autoren der Klieme-Expertise grenzen sich von diesem Kompetenzbegriff aus der Berufspädagogik ab. Sie definieren Kompetenzen als „Leistungsdispositionen in bestimmten Fächern oder ‚Domänen‘“ (Klieme 2003, S. 22). Für die Entwicklung von Bildungsstandards gehe es deshalb darum, „Grunddimensionen der Lernentwicklung in einem Gegenstandsbereich (einer „Domäne“, wie Wissenspsychologen sagen, einem Lernbereich oder einem Fach) zu identifizieren. Kompetenzen spiegeln die grundlegenden Handlungsanforderungen, denen Schülerinnen und Schüler in der Domäne ausgesetzt sind“ (Klieme 2003, S. 22).
Kompetenzorientierung oder Lernzielorientierung?
Ob und wie sich diese neue Form der Kompetenzorientierung für das Unterrichtsfach Politische Bildung von der Lernzielorientierung unterscheidet, die in den 1970er bis 1990er Jahren propagiert wurde, wird unterschiedlich bewertet. Das zeigen auch die beiden Podcast-Interviews mit Tilman Grammes und Monika Oberle deutlich (s.u.).
Die Rolle von Konzepten in der politischen Bildung. Interview mit Prof. Dr. Monika Oberle
Tilman Grammes sieht deshalb keine wesentliche Differenz zwischen der Kompetenzorientierung und der Lernzielorientierung. Kompetenzorientierung ziele auf die Vermittlung von solchem Wissen und Können, das die Lernenden im Idealfall auch als Erwachsene noch abrufen könnten, wenn sie es brauchten. Eine sinnvolle Umsetzung der Lernzielorientierung habe diesen Anspruch aber auch schon in den 1970er Jahren im Blick gehabt. Nach seiner Auffassung unterscheiden sich Kompetenzorientierung und Lernzielorientierung deshalb nur semantisch.
Die Rolle von Konzepten in der politischen Bildung. Interview mit Prof. Dr. Tilman Grammes
Hingegen konstatiert Monika Oberle, dass Kompetenzorientierung – über die Kompetenzdimension des Fachwissens hinaus – ausdrücklicher als die Lernzielorientierung auch andere Dimensionen wie die politische Urteils- und Handlungskompetenz in den Blick nimmt.
Zudem argumentiert Monika Oberle, Kompetenzorientierung sei insgesamt „langfristiger und kumulativer gedacht“ als die Lernzielorientierung. Bei der Kompetenzorientierung gehe es weniger um konkrete Ziele, die in einer Unterrichtsstunde oder Unterrichtseinheit erworben werden könnten, als vielmehr um grundlegende Fähigkeiten, die die Bewältigung „unvorhersehbarer Aufgaben und Anforderungen“ ermögliche (s. Podcast Oberle). Für die einzelnen Unterrichtsstunden müssten trotzdem im Zusammenhang mit dem konkreten Unterrichtsinhalt Teilkompetenzen im Sinne von konkreten Zielen festgelegt werden. Das stimmt dann wieder mit den Aussagen von Tilman Grammes überein.
Kompetenzorientierung geht also insofern über die Lernzielorientierung hinaus, als dass die Lernziele für die Einzelstunden immer auch dadurch legitimiert werden müssen, welchen Beitrag sie zu einer langfristigen Kompetenzentwicklung leisten. Gute Lernzielorientierung, wie Tilman Grammes sie annimmt, mag das vielleicht schon im Blick gehabt haben. Im Zuge der Kompetenzdebatte wurde die Bedeutung des längerfristigen, kumulativen Aufbaus von Kompetenzen aber stärker in den Mittelpunkt gestellt.
Die Entwicklung von Kompetenzmodellen
Unabhängig davon, ob man den Unterschied zwischen Kompetenzen und Lernzielen für marginal oder erheblich hält: Die Bildungspolitik hat sich im Anschluss an die Empfehlungen der Klieme-Expertise auf die Fahnen geschrieben, Kompetenzmodelle und Bildungsstandards zu entwickeln.
Die KMK hat zunächst für die Fächer Mathematik, Deutsch, Englisch und Französisch Bildungsstandards in Auftrag gegeben. Bildungsstandards sind hier Kompetenzmodelle, die ausweisen, welche Stufe einer Kompetenz die Lernenden nach bestimmten Abschnitten des Bildungsprozesses – also beispielsweise nach der Grundschule, nach der Mittelstufe, nach dem Abitur oder Berufsabschluss – erreicht haben sollen. Dabei sollten die Bildungsstandards so formuliert sein, dass sich die Kompetenzentwicklung der Lernenden messen lässt. Genau genommen geht es dabei nicht um die Messung der latenten Verfügbarkeit einer Kompetenz selbst, sondern um die Messung der „Performanz“ – also das in der spezifischen Domäne beobachtbare Verhalten, an dem sich die Kompetenz zeigt.
Auch für die Politische Bildung wurden zwei Kompetenzmodelle entwickelt: Günter Behrmann, Tilman Grammes und Sibylle Reinhardt (2004) definierten in ihrer Expertise für die KMK fünf Kompetenzdimensionen für die politische Bildung, die auch von Tilman Grammes im Podcast (s.o.) angesprochen werden: 1. Perspektivenübernahme/Rollenübernahme, 2. Konfliktfähigkeit, 3. sozialwissenschaftliches Analysieren, 4. politische Urteilsfähigkeit sowie 5. Partizipationsfähigkeit/Demokratische Handlungskompetenz.
Weitere Verbreitung in der Bildungspolitik zur politischen Bildung haben die im gleichen Jahr vorgelegten Bildungsstandards der Externer Link: Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) gefunden. Dies liegt zum einen vermutlich daran, dass sie sich stärker an dem Format orientiert haben, das die KMK für die Bildungsstandards der Hauptfächer vorgegeben hatte, und zum anderen ist dieses Modell ein Gemeinschaftsprodukt zahlreicher Politikdidaktiker/-innen, das ausdrücklich als Modell der führenden Fachgesellschaft GPJE verabschiedet wurde. In diesem Modell werden drei Kompetenzdimensionen unterschieden: politische Urteilsfähigkeit, politische Handlungsfähigkeit und methodische Fähigkeiten.
Das Fachwissen, verstanden als konzeptuelles Deutungswissen, wird im GPJE-Modell ausdrücklich nur als Voraussetzung für die drei anderen Kompetenzdimensionen betrachtet und nicht als eigene Kompetenzdimension. Das Modell weist außerdem gestufte Bildungsstandards für das Ende der Primarstufe, den mittleren Bildungsabschluss, das Ende der gymnasialen Oberstufe sowie das Ende des beruflichen Bildungswesens aus und schlägt Aufgabenbeispiele zur Überprüfung der Kompetenzentwicklung vor.
Das Modell der GPJE ist in reiner oder abgewandelter Form in die Lehrpläne vieler Bundesländer eingegangen. Es hat aber auch viel Kritik hervorgerufen – insbesondere, weil die Bildungsstandards nicht ausreichend operationalisiert worden seien, um Kompetenzentwicklung messen zu können.
In den Folgejahren wurden weitere Modelle entwickelt, sowohl in der Wissenschaft (z. B. Henkenborg 2012) als auch als bildungspolitisch motivierte Modelle in den Lehrplänen verschiedener Bundesländer.
Das Modell, das am stärksten versucht, Kompetenzentwicklung messbar zu machen, und auf das quantitative politikdidaktische Studien zur Messung politischer Kompetenz in Deutschland überwiegend zurückgreifen, ist das Modell Politikkompetenz von Joachim Detjen u. a. (2012).
Dieses Modell unterscheidet die Kompetenzdimensionen Fachwissen, Politische Urteilsfähigkeit, Politische Handlungsfähigkeit, Politische Einstellung und Motivation.
Teil des Modells ist das Wissensmodell „Konzepte der Politik“ (Weißeno u.a. 2010), das „Ordnung“, „Entscheidung“ und „Gemeinwohl“ als die drei zentralen Basiskonzepte ausweist. Den Basiskonzepten werden 30 Fachkonzepte zuordnet, die für das Unterrichtsfach Politische Bildung zentral seien. In der Debatte über die unterschiedlichen Kompetenzmodelle war es vor allem die Dimension des Fachwissens, um die innerhalb der Didaktik der politischen Bildung heftig gestritten wurde. Da dieser Text die Kontroversen in der Fachdidaktik in den Blick nimmt, steht die Kompetenzdimension des Fachwissens im Folgenden im Vordergrund.
Konzepte und konzeptuelles Deutungslernen
Anders als zur Zeit der Entwicklung des Kompetenzmodells der GPJE ist heute allgemein anerkannt, dass auch das Fachwissen eine eigenständige Kompetenzdimension ist. Allerdings geht es dabei nicht um Faktenwissen, sondern um das sogenannte „konzeptuelle Deutungswissen“.
Konzepte sind dabei Begriffe, einschließlich der mit diesen verbundenen Vorstellungen und Wertungen, die individuell unterschiedlich ausfallen können. So liegt etwa für den in der politischen Bildung wichtigen Begriff der „Solidarität“ nahe, dass eine Politikerin der FDP darunter etwas anderes versteht als ein Politiker der Linkspartei, ein Aktivist einer internationalen NGO etwas anderes als eine CDU-Politikerin, die von der katholischen Soziallehre geprägt ist. Würden diese vier Personen über Solidarität sprechen, könnte es leicht passieren, dass sie aneinander vorbeireden, auch wenn sie – oder gerade weil sie – alle den gleichen Begriff benutzen: Sie alle haben unterschiedliche Konzepte von Solidarität, mit denen sie Sachverhalte, in denen Solidarität eine Rolle spielt, bewerten.
Konzeptuelles Deutungswissen zeichnet sich außerdem dadurch aus, dass die einzelnen Konzepte untereinander vernetzt sind. „Konzeptuelles politisches Wissen umfasst systematisch zusammenhängende Informationen aus der Domäne Politik“, heißt es im Modell „Konzepte der Politik“ (Weißeno u.a. 2010, S. 19).