Oskar Negt, geboren 1934 im ostpreußischen Kapkeim in einer kleinbäuerlichen Familie, gilt als einer der bedeutenden Soziologen in der Bundesrepublik nach 1968. In Frankfurt am Main studierte er bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Soziologie und Philosophie. Von 1962 bis 1970 war er Assistent von Jürgen Habermas an den Universitäten in Heidelberg und Frankfurt am Main, von 1970 bis 2002 lehrte er Soziologie in der Universität Hannover. Gastprofessuren hatte er in Bern, Wien sowie in Milwaukee und Madison (USA). Negt gilt als einer der profiliertesten Vertreter der Kritischen Theorie.
Neben seiner herausragenden Bedeutung als Soziologe und Sozialphilosoph und seinen mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit wahrgenommenen tagespolitischen Stellungnahmen ist Negt einer der profiliertesten politischen Erwachsenenbildner der Bundesrepublik. "Ganz explizit" verstehe er sich als politischer Bildner, so Negt, denn: "Ich glaube, dass Bildung unter unseren Verhältnissen deshalb eine existenzielle Notwendigkeit hat, weil Demokratie die einzige Staatsform ist, die gelernt werden muss" (Negt 2004, S. 197). Sein politisch-bildnerischer Ausgangspunkt war die Arbeiterbildung, der er sich in Theorie und Praxis zuwandte.
Hier löste er in den 1960er Jahren eine gewerkschaftsinterne und dann weiter reichende Debatte aus, indem er das von Martin Wagenschein entwickelte methodisch-didaktische Prinzip des exemplarischen Lernens auf die politische Bildung übertrug. Er sah darin "eine alternative Konzeption zu den bisherigen Formen der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit" (Negt 1975, S. 29). Diese war bis dahin vor allem auf Schulungen beschränkt. Negts neuer Ansatz hingegen war es, "von Einzelerscheinungen ausgehend gesellschaftliche Prozesse und Strukturen [zu] erklären" (ebd. S. 125). Daran hat er auch Jahrzehnte später noch festgehalten: "Nur exemplarische Lösungen des Zusammenhangproblems sind heute noch möglich" (Negt 2010, S. 216; siehe auch S. 31). Von nachhaltiger Wirkung ist auch seine "gesellschaftliche Umdeutung von Kompetenz und Schlüsselqualifikation" (ebd. S. 221). Damit hat er eine emanzipatorische Alternative zum funktionalistischen Gebrauch dieser in der bildungspolitischen Diskussion zentral gewordenen Begriffe gefunden. Auch hierbei geht es ihm um die "Stiftung von Zusammenhang" (ebd. S. 222), sie sei das "oberste Lernziel" (ebd. S. 207). Sechs Kompetenzen können "auf dem Wege exemplarischen Lernens erworben werden": Identitätskompetenz, technologische Kompetenz, Gerechtigkeitskompetenz, ökologische Kompetenz, ökonomische Kompetenz und historische Kompetenz (ebd. S. 223 – 232).
Politisch und auch politisch-bildnerisch fordert Negt "eine konsequente Demokratisierung aller Lebensbereiche" (ebd. S. 514). Denn: "Nur als Lebensform hat Demokratie eine Zukunftschance" (ebd. S. 515). Daraus folgt ein kritischer Ansatz: "Politische Bildung kann nicht gelingen, wenn die Systemfrage ausgeklammert bleibt", die Frage muss nach den "bestimmenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse[n]" gestellt werden (ebd. S. 24). Voraussetzungen sind für ihn die "Urteilskraft" und der "öffentliche Gebrauch der Vernunft" (ebd. S. 379ff).
Negt verknüpft aktuelle politische Analysen und Einlassungen stets mit politischer Bildung: Angesichts von Krisen, populistischen und Demokratie gefährdenden Entwicklungen stellt er fest: "Im Inneren dieser Gesellschaft brodelt es. [...] Es mag ein bisschen verstaubt und anachronistisch klingen, aber ich sehe nur eine Möglichkeit: politische Bildung" (Spiegel-Gespräch 2010).
Der Text wurde übernommen aus dem Band: Wolfgang Sander / Peter Steinbach, Politische Bildung in Deutschland. Profile, Personen, Institutionen, Bonn 2014. Erschienen in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1449. Im übernommen Text wurde fälschlich das Jahr 1933 als Geburtsdatum angegeben. Dies wurde für die Übernahme in das Dossier korrigiert.